Sonntag, 26. Februar 2012

Innerislamische Kontroversen um Koexistenz und Gewalt


Zusammenfassende Rezension   
Ausführliche Besprechung:
hier anklicken! –
Tilman Seidensticker (Hg.): Zeitgenössische islamische Positionen zu Koexistenz und Gewalt.
Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2011; VIII, 184 S., Index der modernen muslimischen Denker
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ISBN 978-3-447-06534-4
Das Wort „Islam“ verbindet sich für viele mit „Gewalt“. Sich auf den Islam berufende Terroristen rechtfertigen ihr Tun damit, dass sie behaupten, diese Gewalttätigkeiten seien von der islamischen Tradition her gerechtfertigt. Allerdings richtet sich die Gewalt nicht nur gegen „Ungläubige“, sondern vielfach auch gegen Muslime selbst. Nun gibt es durchaus Gewalt befürwortende und Gewalt ablehnende Richtungen innerhalb der islamischen Welt. Der Jenaer Arabist und Islamwissenschaftler Tilman Seidensticker hat nun mit einer Reihe von Fachleuten (überwiegend der jüngeren Wissenschaftler-Generation) diese „Islamischen Kontroversen über Berechtigung von Gewalt“ genauer untersucht.
Zehn Jahre nach den Anschlägen vom 11. September in den USA und am Beginn des „arabischen Frühlings“ stellt sich die Frage nach der möglichen Zwangsmentalität einer Religion besonders intensiv. Es lässt sich ja kaum vorhersagen, welche Entwicklungen in der islamischen Welt insgesamt dominieren werden. Die dogmatisch auftretenden Fundamentalisten fordern eine Rückkehr zu den Regeln und Statuten der Urgemeinde, wohlgemerkt, wie sie diese verstehen. Die Konsequenz ist oft genug, dass sie ihr Verständnis auf konfliktreiche Art und gegen alles „Westliche“ in die Gegenwart zu übertragen versuchen. Andersdenkende werden als Häretiker oder Ungläubige diffamiert. Aber das ist nur die eine Seite, wenn man einmal genauer die innerislamischen Kontroversen betrachtet.
Es geht grundsätzlich um die Spannung zwischen Toleranz und Gewalt, zwischen Verteidigung von islamischen Errungenschaften und Kampfansage an die Ungläubigen, die in den unterschiedlichen Auslegungen von djihad zum Ausdruck kommen, nämlich (Mariella Ourghi, Freiburg). Das Absolutheitsdenken scheint in diesem Zusammenhang eine wesentliche Positionsverschärfung mitzubringen: Monopolanspruch auf das Paradies (so Johanna Pink, Berlin). Dagegen stehen flexiblere und Dialog offene Haltungen wie die von Said Nursi (1876 [?]–1960, kurdischer Herkunft, Türkei) und Mahmud Taha (1909 /1911–1985, Sudan), bis hin zur sog. Mardin-Intiative muslimischer Intellektueller von 2010. Die Djihad-Doktrin zwischen gewaltsamem Vorgehen gegen Ungläubige und Verteidigung des (wahren) Glaubens braucht also eine dringende Neubesinnung, um den Terrorismus gegen sog. falsche Muslime und „westliche Ungläubige“ auszubremsen. Hermeneutischen Monopolansprüchen bei der aktualisierenden Auslegung der Prophetentradition, der Hadithe, muss darum ein Riegel vorgeschoben werden. Selbst innerhalb des islamistischen Spektrums gibt es inzwischen eine wachsende Ablehnungsfront gegen extreme, sich auf den Koran und die Prophetentradition berufende Gewaltbereitschaft (Rotraud Wielandt, Bamberg). Die Frage bleibt allerdings, ob es eine neue Hermeneutik gegen islamistische Gewalt aus der derzeitigen religiösen Gemengelage heraus geben wird. Die extreme Spannbreite der Djihad-Verständnisse zwischen rückwärts gewandter Veränderung und liberaler Reform hat bekannte Namen an den jeweiligen „Eckpunkten“. Sie reichen von al-Maududi über Sayyid Qutb bis zu Fazlur Rahman und Mahmoud Taha.
Dieser Sammelband gibt differenzierende Einführungen in zeitgenössische Kontroversen zum Thema „Gewalt“. Er ist für alle empfehlenswert, die als aufmerksame Zeitgenossen die innerislamisch-theologischen, islamistischen und gesellschaftspolitischen Bewegungen besser verstehen wollen. Da das Spektrum dieser Debatte noch wesentlich größer ist, als in dieser Zusammenstellung angezeigt werden konnte, wäre sicher ein Fortsetzungsband sinnvoll.
Reinhard Kirste

Donnerstag, 23. Februar 2012

Religulous - Große Kino-Momente (Filmkritik)

Große Kino-Momente – Religulous.
Regie Larry Charles mit Bill Maher.
Dokumentarfilm, USA 2008, Deutschland 2009,
als DVD Oktober
2010, Laufzeit ca. 96 Minuten.

„Religulous“, so der Filmtitel, ist ein englisches Kunstwort, das sich aus den englischen Wörtern religion und ridiculous (lächerlich) zusammengesetzt.Der US-Amerikanische Dokumentarfilm aus dem Jahre 2008 kam im April 2009 nach Deutschland.
Mit einem Einspielergebnis von über 13 Millionen Dollar wurde Religulous zur erfolgreichsten filmischen Dokumentation des Jahres 2008. 

Die englische und deutsche Fassung sind unter den verschiedenen Videoangeboten am Computer zu sehen. Die filmischen Szenen zeigen einer Reihe von Interviews mit Religionszugehörigen. Sie spiegeln deren Glaubensinhalte und setzen sich damit auseinander.      

Im deutschsprachigen Raum erschienen der Film und die DVD mit dem Titel
"RELIGULOUS – Große Kinomomente“ 2009/2010
(vgl. SPIEGEL – Kulturspiegel, 02.04.2009:
http://www.spiegel.de/kultur/kino/0,1518,616814,00.html).
Das Drehbuch stammt von dem politischen Satiriker Bill Maher, der in Deutschland auch mit Late-Night-Talker Harald Schmidt verglichen wird. Bill Maher steht im Mittelpunkt des Films und erzählt von seinen Begegnungen mit Vertretern verschiedener religiöser Sichtweisen.

Trotz unterschiedlicher Einschätzung der Interview-Methoden Mahers, sind  zwei Aspekte für ein Verständnis des Films von Bedeutung: Bill Maher sucht das Gespräch. Im Sinne von Goethes Märchen: „Was ist wichtiger als das Licht?“ fragte der König. „Das Gespräch“, antwortete die Schlange.[1]
 Beginnend mit seinem eigenen religiösen Erleben im Elternhaus, eröffnet der Regisseur die Interviews mit seiner Mutter und Schwester.
Mahers Eingangsworte sind Thema und Ziel seiner Vorgehensweise: „Nun – als die Offenbarung geschrieben wurde, hatte allein Gott die Möglichkeit, die Welt zu zerstören. Doch inzwischen kann der Mensch das auch. Denn unglücklicherweise hatte er Mensch, bevor er lernte, vernünftig oder friedfertig zu sein, nukleare Waffen erfunden, und mit Umweltzerstörung katastrophalen Ausmaßes begonnen ... Ich bin ganz ehrlich der Überzeugung, dass Religion dem Fortschritt der Menschheit höchst abträglich ist.“ Ihn selbst beschäftigt die Frage nach Religion Zeit seines Lebens. Schon in der Kindheit hat er Religion als unbequem und widersprüchlich, aber auch als tröstend erfahren. Offenbarten Glaubensformeln antwortet er mit logisch-folgenden Rückfragen. Oder mit Fassungslosigkeit, – wenn die Argumentation des Gesprächspartners das Phantastische erreicht: Der Leiter des Schöpfungsmuseums: „Wir sagen zusammengefasst: Der historische Ablauf der Bibel stimmt. Und es begann mit der Genesis.“ Derselbe Leiter einer wortwörtlichen Bibelauslegung: „Wenn die biblische Schöpfungsgeschichte nicht die Wahrheit ist, wie ist denn dann der Rest der Bibel zu verstehen?“. Ein Merkmal fundamentalistischer Einstellung, wird während homophober Hysterie einer ‚Straßenkämpferin‘ eingeblendet: „Nicht wir hassen die Schwulen. Gott hasst sie!“
Zeitweise gelingt es Maher, unterschiedliche Gespräche, mit Humor abzuschließen. Er formuliert: „Wo ist meine Brieftasche?“, und bringt die Runde zum Lachen. Andererseits zeigt er – filmisch festgehalten – wie schwarz-weiß Fanatismus Maher sichtbar erschüttern. 
„Wenn ich sterbe, werde ich an einem schöneren Ort, werde ich bei Gott und Jesus sein“, formuliert ein bekehrter jüdischer Evangelikaler. Logische Gegenfrage Mahers: „Warum bringen Sie sich dann nicht um, damit Sie zu diesem besseren Ort gelangen?“ Je phantastischer die Wundergeschichte, desto logischer die Rückfrage, denkt man.
Maher sucht also, was den Film besonders auszeichnet, das Gespräch mit Menschen, deren Glaubensauffassungen ihn interessieren. Er ist mit der Argumentationsweise seiner Gesprächspartner auf Grund jahrelanger Erfahrung in Gesprächen vertraut. Das heißt: Maher kennt die Argumentationsweisen, bei denen besonders in solchen Gesprächen, der Intellekt gewöhnlich umschifft wird oder werden soll. Mit den gebräuchlichen Argumenten Glaubender kennt er sich aus. Damit gelingt es dem Regisseur, die Glaubens-Systeme und religiösen Einstellungen seiner Gesprächspartner, intellektuell redlich zu hinterfragen. Dabei stoßen, ein amerikanischer Senator, ein Jesus-Darsteller im Bibelmuseum sowie dessen Leiter, sichtlich an ihre Grenzen. Das wird filmisch ausgesprochen kunstvoll eingefangen.
Es wird deutlich: Maher weiß mit den Überzeugten und ihren Überzeugungen umzugehen. Seine langjährige Beschäftigung mit religiösen Einstellungen in seinem eigenen Leben und dem Leben seiner Mitmenschen, zeichnen ihn als hartnäckig Fragenden aus. Diese Rolle behält er während der Interviews bei. Als Agnostiker steht er für eine Weltanschauung, die insbesondere die prinzipielle Begrenztheit menschlichen Wissens betont.
Ohne Übertreibung kann bei Religulous, von einem filmischen Kunstwerk gesprochen werden, das zur wiederholten Betrachtung und zur Diskussion in Gemeindegruppen und im Religionsunterricht einlädt. Der Film unterhält zugleich in humorvoller Weise, die den Zugang zum Gespräch erleichtern.
Gerhard Kracht, Recklinghausen
Rz-Religulous, 23.02.12


[1]  Johann Wolfgang von Goethe: Das Märchen von der Schlange und der schönen Lilie. Pforte Verlag --- ISBN 3-856-36111-1:
Der Text auch in: http://gutenberg.spiegel.de/buch/3633/1


Sonntag, 19. Februar 2012

Einblick in das Werk von Raimon Panikkar (1918-2010)

Raimon Panikkar i Alemany gehört zu den umfassendsten theologisch-philosophischen Denkern der Gegenwart. Mit seinem Lebenshintergrund verband er bereits zwei Kulturen: Die spanische Mutter war römisch-katholisch, der Vater Hindu indischer Herkunft. Panikkar durchlief eine jesuitische Erziehung. Sein Denken war von Anfang an Grenzen überschreitend. Das zeigen bereits seine Promotionen:
Dr. phil. und Dr. rer.nat (Chemie) an der Universität Madrid,
Dr. theol an der Päpstlichen Lateran-Universität in Rom.
Sein Forschen und interreligiöses Handeln waren besonders durch den Vergleich europäischer  mit der indischer Theologie und Philosophie geprägt. Er bezog sich jedoch zugleich auf religiöse Strömungen in Vergangenheit und Gegenwart, die zum Thesaurus menschlicher Weisheit insgesamt gehören. Seine Theologie der Religionen gewann nicht nur globale Weite, sondern gewissermaßen auch kosmologische Tiefe.

Die Fülle seiner Veröffentlichungen ist nicht leicht überschaubar.
Die Interreligiöse Arbeitsstelle (INTR°A) hat versucht, einige Orientierungsmarken zu setzen:


Donnerstag, 9. Februar 2012

Zwischen Glaubensgewissheit und Gewalt im Islam und Christentum


Jürgen Werbick / Sven kalisch / Klaus von Stosch (Hg.): Glaubensgewissheit und Gewalt Eschatologische Erkundungen in Islam und Christentum.  
Beiträge zur Komparativen Theologie Band 3. Paderborn u.a.: Schöningh 2011, 183 S., Namensregister --- ISBN 978-3-506-77058-5

Der katholische Systematiker an der Universität Paderborn, Klaus von Stosch, hat sich zum Ziel gesetzt, mit FachkollegInnen auch aus anderen Religionen einen eigenständigen Weg in der interreligiösen Gegenüberstellung aktualisierend und dialogoffen zu verfolgen. Seine Besonderheit liegt in einem hermeneutischen Ansatz, den er als „Komparative Theologie in die Debatte einbringt. Dieser soll sich auch von den religionspluralistischen Ansätzen abheben. Den offensichtlichen Schwerpunkt bilden dabei Verhältnisbestimmungen von Christentum und Islam. In der dazu gehörenden Buchreihe sind bisher 5 Bände erschienen und zwei weitere kurz vor dem Erscheinen (1). Sie nehmen überwiegend Identitäts-problematiken in der Spannung von Glauben, Gewalt und Freiheit auf.
Der hier vorzustellende 3. Band entstand im Rahmen einer Tagung zum Exzellenzprogramm „Religion und Politik in vormodernen und modernen Gesellschaften“ an der Universität Münster. Er nimmt sich der sog. „letzten Dinge“ an. Angesichts apokalyptischer Vorstellungen, die bis in die Populärkultur reichen, sind die Religionen mit ihren Eschatologien entsprechend herausgefordert. Zugleich fordern solche Vorstellungen mit ihren Glaubensansprüchen bisherige Glaubens- und Lebensmuster heraus, umso mehr auch in ihnen ein „Gewaltförmigwerden“ (S. 9) auffällig ist. Die Frage der Erlösung angesichts der gegenwärtigen Unerlöstheitserfahrungen muss darum in Islam und Christentum intensiv und ggf. revidierend bedacht werden.
Nachdem Martin Ebner, Neutestamentler an der Universität Münster, den Verunsicherungsfaktor eines Endgerichts angesprochen hat, weist er auf die darin liegende Chance, nämlich, dass das „Ende“ nicht in unserer Hand liegt. Der Islamwissenschaftler Mouhanad Khorchide, vom Religiösen Centrum der Universität Münster, steigt darum sogleich mit einer veränderten Interpretation des Jenseits im Sinne von Transformation/Verwandlung ein, bei der Gott in seiner Barmherzigkeit erscheint. Damit verwandelt er den apokalyptischen Gedanken des Strafgerichts zugunsten einer Vervollkommnung des Menschen. In ähnliche Richtung von christlicher Seite argumentiert der Baseler Systematiker Reinhold Bernhardt. Er trennt strikt das Handeln des Menschen vom Handeln Gottes. Nur so kann die “pervertierte Selbstermächtigung des Menschen“ (S. 63) zurückgenommen und die Spirale apokalyptisch eingefärbter Gewalt gestoppt werden. Der Mitherausgeber und Münsteraner Fundamentaltheologe Jürgen Werbick wendet sich gegen religiöse End-Gewissheiten (S. 67) im Stile von Siegermentalität und apokalyptischem Terrorismus. Erlösung geschieht nicht durch Vernichtung, sondern im Sinne einer apokalyptischen Hoffnung, die die Unmenschlichkeit des Vorletzten offenlegt (S. 81), getragen von der „Widerstands-Vergewisserung“ gegen die Unmenschlichkeit für ein Leben ohne Tod. Die islamische Theologin Hamideh Mohagheghi von der Universität Paderborn hebt in ihrer Erwiderung auf diesen Ansatz hervor, dass die Motivation für das „Tun des Guten“ durch den Beistandswillen Gottes verstärkt wird.
Sven Kalisch, ebenfalls Mitherausgeber, ist nach seiner Abkehr vom Islam nun Professor für „Geistesgeschichte im Vorderen Orient in nachantiker Zeit“ an der Universität Münster. Er stellt Jenseitsvorstellungen in der islamischen Theologie vor mit Schwerpunkten auf die islamische Mystik des Mittelalters und die aufklärerische Mu‘tazila. Hier ist die „Lehre von der Exklusivität des Heils im Islam“ zum Teil verinnerlicht worden. Damit tritt neben Auferstehung und Gericht, Paradies und Hölle, der Gedanke der Sinnerfüllung des Lebens stärker hervor. Von diesen teilweise recht unorthodoxen Überlegungen her hinterfragt auch der Mitherausgeber Klaus von Stosch in seiner Erwiderung die „letzten Gewissheiten“ generell auf das in ihnen liegende Gewaltpotential. Die Entwicklung des Monotheismus in Israel ermöglichte faktisch durch die Abschaffung der Götterhierarchie auch die Zurückweisung menschlicher Hierarchien. Dies scheint jedoch nicht nur ein Vorzug des Monotheismus zu sein, weil der Glaube an den einen einzigen Gott auch zur Abgrenzung und sogar zum Völkermord diente. Es gilt im Sinne christlicher Vollendungshoffnung (offensichtlich anders als im Islam) die „Gewaltpotenziale in dem jeweiligen Denken zu identifizieren und zu pazifizieren“ (S. 115).
Der Leiter des islamischen (schiitischen) Zentrums in Hamburg, Ayatollah Ghaemmaghami stellt mit der Hilfe von M. Djavad Mohagheghi, dem Ehemann von Hamideh Mohagheghi (übrigens im Autorenverzeichnis nicht erwähnt), die Friedensintentionen des Koran in den Vordergrund und sieht auch Möglichkeiten, religiöse Monopolansprüche um einer versöhnten Gesellschaft willen beiseite zu lassen. Das allerdings entbindet nicht vom (möglichen bewaffneten) Verteidigungskampf bei Bedrohung der (religiösen) Freiheiten (nicht nur des Islams). Die endgültige Glück-Seligkeit jedoch ist mit der Erkenntnis der „rechtmäßigen Wahrheit“ verbunden und steht unter eschatologischem Vorbehalt. Wahrheit als „Begründetheit“ ist jedoch menschlich möglich (S. 126f). Bei aller Dialogoffenheit des Korans gegenüber anderen Religionen schimmert jedoch sehr deutlich ein inklusives Vereinnahmungsverständnis des Glaubens durch. In ihrer Antwort auf die Überlegungen des Ayatollah fragt Anja Middelbeck-Varwick von der Freien Universität Berlin darum mit Recht, ob bei aller Zustimmungsfähigkeit zu den islamischen Friedensintentionen wirklich der Abschied von der Absolutheit schon geleistet sei. Sie stellt diese Rückfrage aber auch an das Christentum, lässt allerdings offen, wie Joh 14,6 unter multireligiösen Bedingungen zu verstehen sei. Dafür legt sie Wert auf die Betonung der eschatologischen Unterschiede in beiden Religionen: Im Christentum hat die Erwartung des Reiches Gottes erhebliche gegenwärtige Konsequenzen für die Gläubigen.
Die „eschatologischen Erkundungen“ der BeiträgerInnen haben bei aller Unterschiedlichkeit deutlich gemacht, dass die Hoffnung auf „das Letzte“ die vorletzten Dinge nicht ausblenden darf. Aber gerade diese Spannung von Letztem und Vorletztem birgt erhebliche Konflikt- und Gewaltpotentiale in sich. Diese schlagen oft gefährlich gegen Andersdenkende und „Ungläubige“ durch, besonders wenn gegenwärtige Ereignisse und Entwicklungen Glaubensverunsicherung erzeugen, aber veränderndes Handeln jetzt gefragt ist.
Reinhard Kirste, Rz-Werbick-Glaubensgewissheit, 08.02.12
Anmerkung1:
Themen der bisher erschienenen bzw. in Erscheinung begriffenen Bände –
alle aus dem Schöningh-Verlag Paderborn
  1.   Jürgen Werbick / Klaus von Stosch / Muhammad Sven Kalisch (Hg.): Verwundete Gewissheit.
    Strategien zum Umgang mit Verunsicherung in Islam und Christentum.
    Beiträge zur Komparativen Theologie 1 (2010)
    http://ein-sichten.blogs.rpi-virtuell.net/2010/08/03/verwundete-glaubensgewissheit-und-gewaltreaktionen-in-der-begegnung-von-christentum-und-islam/ (Ein-Sichten, 03.08.10)
  2.  Hamideh Mohagheghi / Klaus von Stosch (Hg.):
    Moderne Zugänge zum Islam. Plädoyer für eine dialogische Theologie
    Beiträge zur Komparativen Theologie 2 (2010):

    http://ein-sichten.blogs.rpi-virtuell.net/2011/01/16/moderne-zugange-zum-islam/
    (Ein-Sichten 16.01.11)
  3.  Jürgen Werbick / Klaus von Stosch / Muhammad Sven Kalisch (Hg.):
    Glaubensgewissheit und Gewalt. Eschatologische Erkundungen in Islam und Christentum.
    Beiträge zur Komparativen Theologie 3 (2011)
  4. Michael Hofmann / Klaus von Stosch (Hg.): Islam und Literatur.
    Islam in der deutschen und türkischen Literatur.
    Beiträge zur Komparativen Theologie 4 (2011)
  5.  Klaus von Stosch / Muna Tatari (Hg.): Gott und Befreiung.
    Befreiungstheologische Konzepte in Islam und Christentum.
    Beiträge zur Komparativen Theologie 5 (2011)
  6.  Klaus von Stosch: Komparative Theologie als Wegweiser in der Welt der Religionen.
    Beiträge zur Komparativen Theologie 6 (2012)
  7. Mouhanad Khorchide / Klaus von Stosch (Hg.): Trinität –
    Anstoß für das islamisch-christliche Gespräch.
    Beiträge zur Komparativen Theologie 7 (2012)

Sonntag, 5. Februar 2012

Die göttliche Kraft der Heilkräuter


Ursula Stumpf: Pflanzengöttinnen und ihre Heilkräuter.
Naturkraft schöpfen, Heilwissen nutzen.

Stuttgart: Franckh-Kosmos 2010, 159 S., Abb., Register
--- ISBN 978-3-440-12236-5

Die Apothekerin und Heilkräuter-Kundige Ursula Stumpf hat 1998 eine eigene Heilkräuterschule in Karlsruhe gegründet. Als Heilpraktikerin ist ihr der Zusammenhang von Natur und Mensch besonders wichtig. So sind ihre „Kräuterweisheiten“ mehr als nur Gesundheitsrezepte. Dies schätzen inzwischen viele Menschen, die ihr  bei Vorträgen, Kräutergängen und Seminaren begegnen oder ihre Sendungen im Fernsehen anschauen.
An diesem Buch ist nun besonders auffällig, dass die Autorin gewissermaßen die „göttliche Seele“ der Pflanzen zur Sprache bringen will. Die LeserInnen werden so von den Pflanzen selbst angeredet, ermutigt, ermahnt, beruhigt.
Ursula Stumpf kommt auf alte vorchristliche Traditionen zurück und teilt den pflanzlichen Jahreskreislauf zwischen Werden, Reifen und Vergehen 12 Göttinnen zu. Bekannte und weniger bekannte Natur-Göttinnen werden mit „ihren“ Heilkräutern zusammen aufgezeigt. Allerdings wirft diese bunte Göttinnen-Galerie eine Reihe religionswissenschaftlicher Fragen auf, und sicher ist manches mythologisch nicht zutreffend. Das gilt besonders für Ostara, die sog. Frühlingsgöttin, die die Gebrüder Grimm ins Spiel gebracht haben. Auch bei „Frau Holle“ müsste bedacht werden, dass sie wahrscheinlich identisch mit der alpenländischen Perchta ist. Dennoch lässt sich in solcher Zusammenstellung die wesensmäßige Verbindung von Kosmos, Natur und Mensch in besonderer Weise (wieder) herstellen.
Im Buch werden aus der reichhaltigen Vegetation insgesamt 46 in Mitteleuropa beheimatete florale Kostbarkeiten vorgestellt. Die Autorin sieht sie auf das Seelenleben, den Geist und den Körper gleichermaßen ausgerichtet. Sie benutzt dazu folgendes Strukturschema: Ein besinnliches Dichterwort zur Einstimmung, Assoziationen mit der zugeordneten Göttin, Nacherzählung mit entsprechenden Sagen und Geschichten und Hintergrundinformationen zur vorgestellten Pflanze mit ihren Heil-Essenzen.
Dann äußern die Kräuter „selbst“ ausführlich ihre Botschaft zu den Heilwirkungen. Diese sind je nach der Komposition ihrer Inhaltsstoffe unterschiedlicher Art – zwischen beruhigend, anregend, Schmerz mindernd usw. und beziehen sich z.T. auf ganz konkrete Krankheiten und Gebrechen. Einige der Rezepturen sind nicht nur leicht umzusetzen, sondern bringen die Naturkräfte zur Wirkung. Die beigefügten Fotos geben einen guten zusätzlichen Einblick.
Es sei noch einmal ausdrücklich betont: Dies ist kein Buch, um kompetent in die Bedeutungen bestimmter Göttinnen in alten Kulturen eingeführt zu werden und wohl von der Autorin auch nicht beabsichtigt. Der Zugang zu diesem Buch ist eher ein poetischer, heilsam meditativer und körperlich wirksamer.

Die Künstlerin Helga Emmering-Christ aus Karlsruhe hat überdies besondere Fotocollagen der „Monatsgöttinnen“ beigesteuert. Ursula Stumpf legt insgesamt einen Wegweiser vor, der die stillen und kraftvollen, heilenden Helden der Natur hervorragend entdecken lässt. Es ist eine schöne durchaus auch meditative Lektüre gerade für die Wintermonate, um sich vorbereitend auf alles im Frühjahr wieder Sprießende zu freuen, das die blühende Natur dann reichlich hervorbringt.

Reinhard Kirste
Rz-Stumpf-Pflanzen, 05.02.12

Freitag, 3. Februar 2012

Islam im Unterricht - Mein Islambuch 3


Bülent Ucar (Hg.) –
erarbeitet von Sultan Baysal-Polat, Serap Erkan, Evelin Lubig-Fohsel, Gül Solgun-Kaps, Seher Uguz
mit Beratung von Thorsten Knauth und Stephan Leimgruber:
 
  • Mein Islambuch. Grundschule 3. Berlin: Oldenbourg-bsv 2011, 72 S., Abb. --- ISBN 978-3-637-00554-9
  •  Mein Islambuch, Grundschule 3, Lehrermaterialien, 2011, 132 S.  ISBN 978-3-637-00658-4

Der Oldenbourg-Verlag (aus der Cornelsen-Verlagsgruppe) will mit dem Gesamtprojekt von „Mein Islambuch“ einen didaktisch adäquaten Zugang zum Islam in deutscher Sprache vermitteln und muslimische Schüler/innen sachkundig und altersgemäß einführen.
Der von dem Islamwissenschaftler der Osnabrücker Universität, Bülent Ucar – zusammen mit islamischen Religionslehrer/innen, also Unterrichtspraktikern, herausgegebene erste Band (2009) für das
1./2. Schuljahr erfüllte bereits diese Erwartungen. Hier zeigt sich eine islamische Religionspädagogik im Blick auf die Grundschule, die den Vergleich mit ähnlichen Büchern des christlichen Religionsunterrichts nicht zu scheuen braucht.

Der nun erschienene Band für das 3. Schuljahr führt die genannten Intentionen konsequent fort. Darüberhinaus hat man sich eines katholischen und eines evangelischen Religionspädagogen versichert. Stephan Leimgruber (katholisch, Universität München) und Thorsten Knauth (evangelisch, Universität Duisburg-Essen). Die beiden sind nicht nur als kompetente Fachleute, sondern auch für ihre Dialogoffenheit bekannt.

Das Buch ist in sechs Themenkapitel gegliedert. Kap. 1 ist die konsequente Fortsetzung des Vorgängerbandes, nämlich „Ich, Familie, Gemeinschaft“, nun aber unter Einbeziehung und Aktualisierungen islamischer Gemeinschaftserfahrungen und der Fragen von Versöhnung und Vertrauen. Dies wird durch Beispiele aus dem Leben des Mohammeds sowie des Propheten Yunus (= Jona) verdeutlicht. Noch intensiver wird der existentielle Bezug zum Verstehenshorizont der Kinder bei der Darstellung der Schöpfung (Kap. 2), verstärkt durch eine islamische Davidsgeschichte.
In Kap. 3 wird das schwierige Leben des Propheten Mohammed bis zu seiner Auswanderung (Hidschra) nach Medina aufgearbeitet und ein Blick auf den Propheten Musa (= Mose) vorgenommen. Der Koran als Orientierungshilfe für das Leben des Muslims (Kap. 4) wird ergänzt durch die Betonung des Vorbildcharakters des Propheten (ebenfalls in Kap. 4), in gewisser Weise durchaus eine Fortsetzung islamischen Prophetenverständnisses und der Hinführung zum Koran, wie dies bereits der 1. Grundschulband ansatzweise vorgenommen hatte. Die Kinder sollen auch Korantexte so gut wie möglich (in Übersetzung) kennenlernen. Dies wird wieder narrativ durch eine Ergänzung aus der islamischen Noah-Geschichte. Schade!
Der islamische „Klassiker“, die fünf Säulen des Islam, brauchen natürlich auch eine ausführliche aktualisierende Darlegung (Kap. 5). Auf eine Besonderheit sei jedoch verwiesen, die sich durch den gesamten 3. Grundschulband zieht, nämlich die Annäherung an die vergleichbaren jüdisch-christliche Traditionen. Hier wird darum bewusst eine Parallele von Hadsch und christlichen Jerusalempilgern gezogen, so dass didaktisch sehr geschickt wiederum islamisch-christliche Nähe hergestellt wird. Damit ist gewissermaßen das Tor zur interreligiösen Offenheit ganz geöffnet, nämlich im Entdecken unterschiedlicher Feste und Riten in Judentum, Christentum und Islam (Laubhüttenfest – Befreiung, Opferfest – Weg zur Reinheit/Weihezustand, Abrahamstypik der drei Religionen und schließlich noch ein Blick auf den Sinn der christlichen Taufe. Dass das Sohnesopfer des Abraham in allen drei Religionen eine problematische Seite für das dahinter stehende Gottesverständnis hat, wird allerdings nicht thematisiert, auch wenn die islamische Erzählung schon ein stärkere „Entschärfung“ des Menschenopfergedankens bedeutet. Auch das Lehrermaterial geht über diese Problematik hinweg.
Die Lehrermaterialien nehmen das im Buch manchmal nur kurz dargestellte Thema ausführlich und methodisch konkretisierend auf und vertiefen damit die Arbeit durch die zusätzlich bereitgestellten Materialien und die gut handhabbaren Kopiervorlagen.
Bei aller Wertschätzung des didaktischen Ansatzes und der methodischen Ausführungen würde man in einem deutschsprachigen Religionsbuch allerdings erwarten, dass von „Gott“ geredet wird. Aber überall steht für „Gott“ „Allah“. Zwar schreiben die Bearbeiter im Vorwort für Lehrer und Eltern, dass die Begriffe „Gott und Allah synonym verwendet“ werden. Denn „Allah“ ist der arabische Ausdruck für Gott, der in den monotheistischen Religionen eben derselbe ist. Unbewusst scheint sich ein Verständnis von Allah in das Buch einzuschleichen, das nun doch Unterschiede setzt?  – zum Wohlgefallen aller Abgrenzer auf christlicher und islamischer Seite.
Insgesamt aber liegt ein islamisches Grundschulbuch vor uns, das nicht nur das Verstehen des Islam für Grundschulkinder erweitert, sondern auch in seiner Dialogoffenheit zu den monotheistischen Nachbarreligionen einen wichtigen Dienst für die interreligiöse Begegnung „auf Augenhöhe“ leistet. Die vielen Gemeinsamkeiten ermutigen dazu. Das Zusammenleben von Juden, Christen und Muslimen bekommt dadurch noch eine besondere Wertschätzung. Im Blick auf eine multikulturelle demokratische Gesellschaft ist dies geradezu ein Integrationsfaktor.
Reinhard Kirste
03.02.2012