Mittwoch, 15. Juli 2015

Erneut im Blickfeld: Religiöse Sinnstiftungen und Kirche




Wilhelm Gräb: Religion als Deutung des Lebens.  
Perspektiven einer Praktischen Theologie gelebter Religion.
        
Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2006, 207 S., Namenregister
--- ISBN 3-579-05237-3 ---

Wilhelm Gräb, Professor für Praktische Theologie an der Humboldt-Universität zu Berlin, beschäftigt sich in seinem Buch „Religion als Deutung des Lebens“ vor allem mit dem Thema der Religion und ihrer Bedeutung für das Leben heutiger Menschen in einer säkularen Gesellschaft. Von daher untersucht er Religion als Sinndeutung für den Einzelnen. Welche Rolle spielen dabei die „Kasualien“, die besonderen „Fälle“ und die jeweiligen Rituale als Übergangsriten für das menschliche Dasein und welchen Zugang zur Religion ermöglichen sie im Blick auf den Religionsunterricht der Schule? Damit ist zugleich die Frage nach der Relevanz einer kirchlichen Seelsorge gestellt.
Vor allem den einzelnen Kasualien lässt Gräb eine hohe Bedeutung zukommen und sieht sie als Chance, Religion attraktiv zu gestalten und sich als Praktische Theologie für den einzelnen Menschen zu entfalten.

Gräb betont, dass vor allem die Religion in der heutigen Gesellschaft zu einer Art Patchwork-Religiosität geworden ist. Dies erklärt er anhand dessen, dass Menschen Religion oft über die Institution Kirche definieren. Die Kirche scheint nicht mehr zeitgemäß zu sein, sie formuliert Anforderungen oder Dogmen, und die Menschen können oder wollen sich damit nicht mehr identifizieren. Weiter fordert Gräb Veränderungen in der Kirche, um (wieder) attraktiv für die Menschen zu sein, damit sie ihnen als Ort der Sinnstiftung ihres Lebens und als Deutungsmöglichkeit des Daseins erscheinen kann. Die Kirche sollte darum, laut Gräb, eine Praktische Theologie vertreten, die Mitglieder der Gemeinde sowohl als Individuen, als auch als Gemeinschaft, wahrnehmen und stärken. Vor allem eine Praktische Dogmatik der Rechtfertigungslehre würde jedem Menschen seinen unendlichen Wert, sowie eine vorbehaltlose Anerkennung seiner selbst garantieren. Die Kirche als Institution sollte somit ein Ort sein, wo  religiöse und ästhetische Erfahrungen in der Gemeinschaft gelebt werden können. Die Kirche und damit Religion überhaupt sollte somit ein Ort sein, der sich ganz selbstverständlich mit der Offenbarung Gottes auseinandersetzt, dies aber in lebensgeschichtlicher Relevanz für jeden Einzelnen tut. Die christliche Religion sollte sich nicht als eine Religion der Regeln und Verbote zeigen, sondern als Religion der Liebe zwischen Gott und seinen Menschen. Dabei betont Gräb, dass Religion nur dann auch sinnstiftend für den Menschen erscheint, wenn sie sich selbst von ideologischer Befangenheit befreit und selbstkritisch auf die Fragen des Lebens antwortet. Gerade weil Menschen Kirche oft negativ und dogmenlastig auffassen, versuchen sie eine Distanz zur Kirche zu wahren. Dies meint jedoch nicht, dass Menschen sich von der Religion und dem Glauben an sich distanzieren. Gerade in Phasen der Unsicherheit oder in Übergangssituationen suchen Menschen Antworten im Glauben, sinnstiftende Rituale und Vergewisserung des eigenen Selbst. Gerade praktische Religiosität wird von den Menschen nicht wahrgenommen, sondern unbewusst gelebt. Es werden Fragen nach einem sinnvollen Leben gestellt und nach Antworten gesucht. Gräb geht dabei kritisch mit der Institution Kirche um und fordert zu einem Umdenken auf, um für den Menschen als Kirche da sein zu können. Weiter fasst er auch jedes Individuum als in sich starkes Wesen auf, welches autonom darüber entscheidet, inwiefern Kirche und Glaube zu seinem Leben gehören oder nicht. Aufgrund des fehlenden gesellschaftlichen Drucks, an der Kirche teilzuhaben, gestalten Menschen ihre Religiosität selbst, sie suchen sich die für sie passenden Angebote heraus, ohne jedoch den Glauben ganz auszuschließen. Dies bezieht Gräb jedoch nicht auf alle Mitglieder der Gesellschaft.

Die christliche Kirche stellt sich faktisch als ein Anbieter von Angeboten auf dem Markt dar, wobei Gräb eine harte Konkurrenz im säkularen Bereich nicht negiert, sondern diese bewusst thematisiert und Möglichkeiten für die christlichen Kirchen sucht, sich auf diesem Markt zu behaupten. Dabei sieht er gerade im Bereich der Kasualpraxis der Kirche eine Möglichkeit, die Menschen zu erreichen, ihnen sinnstiftende Übergangsrituale anzubieten und diese symbolträchtig zu feiern. Gerade der Einbezug der veränderten Welt für den Menschen macht die Überlegungen von Gräb leicht nachvollziehbar. Nun haben die Vollzüge von Passageriten der Kirche ihren Verpflichtungscharakter verloren. Obwohl die Menschen sich nicht mehr in den klassischen Gruppen der Gesellschaft wie Klasse, Herkunft oder Milieu bewegen, ist dieser Verpflichtungsgrad der feierlichen Kasualpraxis nicht ganz verloren gegangen, aber doch sehr auf individuelle Lebenslagen und bewusste Entscheidungen reduziert. Dabei geht Gräb von einer relativ demokratischen und freien Gesellschaft aus, wobei die Fragen der Soziologie der Gesellschaft, ihre doch oft einander ausschließenden Faktoren wie Herkunft oder Behinderung ausführlicher hätten bedacht werden sollen. Dies lässt sich wahrscheinlich auf die Kürze des Buchs und ihren nicht soziologischen, doch eher theologischen Schwerpunkt der Sinndeutung der Religion für die Menschen beziehen.

Religiöse Rituale werden dann weiter als Kasualien verstanden, die nicht für jeden gleichbedeutend sind. Das heißt, Emotionalität scheint dann bei der Wahl der Angebote den entscheidenden Faktor ausmachen. Weiter werden auch neben den religiösen Schwellenritualen liminoide Freizeitrituale genannt. Dies sind den christlichen Übergangsriten ähnliche Angebote, jedoch werden diese ohne Gottesbezug gestaltet und von dem Ethnologen Victor Turner (1920-1983) als bloße Freizeitbeschäftigungen wie den Kino- oder Konzertbesuch beschrieben ("Mußegattungen", S. 75), ganz ohne Verpflichtungen und unter dem bloßen Spaßfaktor. Um diesen oft sinnleeren Angeboten entgegen zu wirken, müsste die Kirche ihre Kasualpraktiken individuell gestalten, sollte jedoch dabei beim Vollzug des Rituals den begründenden Offenbarungscharakter nicht vergessen. Damit schließt Gräb die Kritik ein, dass die Kirche nicht zu einer Individualkirche verkommen darf, aber dennoch um ihrer selbst willen, sich den Bedürfnissen der Menschen anpassen muss.

Gräb beschreibt im weiteren Verlauf des Buchs die einzelnen Übergangsrituale und ihre Bedeutung für den Menschen, sowie die Umsetzung dieser in einer Praktischen Theologie. Das Ritual der Taufe stellt er als Kasualie der Geburtlichkeit dar, wobei die Feier der Dankbarkeit des göttlichen Geschenks des Lebens im Vordergrund steht. Gräb diskutiert die immer noch aktuelle Frage nach dem Für und Wider der Kindertaufe. Dabei beleuchtet er die theologischen Aspekte der Taufe, das Taufverständnis der Bibel und ihrer Umsetzung in den Evangelien. Weiter berücksichtigt Gräb die Perspektive der Menschen, vor allem der Eltern. Der Taufritus ist dabei in der Argumentation der Eltern vor allem theologisch zu deuten. Einerseits wünschen sich Eltern die Feier der Geburt ihres Kindes, wobei die Eltern nicht immer aktive Mitglieder der Kirche sind. Andererseits wird die bewusste Entscheidung der Eltern, ihrem Kind den Segen Gottes von Geburt an mit auf den Weg zu geben, beschrieben. Weiter gibt es Eltern, welche ihr Kind im christlichen Sinne erziehen wollen, dem Kind aber die Entscheidung zur Taufe und dem damit einhergehenden Bekenntnis, überlassen. Gräb beschreibt übrigens kein Äquivalent zur Kindertaufe im säkularen Bereich.

Dies wird aber deutlich bei der Kasualie der Mündigkeit, der Konfirmation, getan. Hier geht der Autor auf die christliche Konfirmation ein, auch die Jugendweihe findet Erwähnung. Gerade um den wichtigen Übergang der Kindheit ins Erwachsenenalter zu vollziehen, werden für Jugendliche Angebote der Feier dieses Übergangs konzipiert. Im evangelischen Rahmen wird dabei die Konfirmation als bewusste Entscheidung für die Kirche angesehen, der Jugendliche bekennt sich zum Glauben und der Gemeinde. Als Grundstein dafür wird jedoch die freie Entscheidung des Jugendlichen verstanden, wobei dies bereits die Freiheit eines Christenmenschen darstellen kann. Dabei sollen vor allem in der Vorbereitung der Konfirmation, also den meist wöchentlichen Treffen, die Jugendlichen dazu befähigt werden, das Christentum als gelebte Religion wahrzunehmen, so dass sie sich individuell, gesellschaftlich und kirchlich entwickeln können. Dabei merkt Gräb an, dass die Kirche sich wirklich den Jugendlichen zuwenden muss, um als Anbieter des Übergangsrituals attraktiv zu bleiben. Die auch hier geäußerte Kritik, dass die Kirche sich nicht mehr am biblischen Auftrag, sondern am Subjekt orientiert, nimmt Gräb auf und formuliert dem entgegen, dass die Kirche ohne eine attraktive Jugendarbeit sich selber auflösen würde. Er fordert darum eine theologische Legitimation der Service-Kirche, um gerade mit dieser Kritik umzugehen.

Die Trauung als Kasualie der Liebe wird seit der Einführung der Ziviltrauung 1876 als eben dieses Ritual gefeiert, der Zweck der Zeremonie ist in sich selbst zu verorten. Die Macht der Liebe, sowie auch schwierige Situationen der Vergangenheit und vor allem der Zukunft sollen thematisiert werden und mit Gottes Hilfe und Segen gemeistert werden. Gräb beschreibt dabei, dass das Paar eine bewusste Entscheidung der Feier seiner Liebe vor Gott trifft, um gerade für die Ehe Kraft durch Gott zu bekommen und Angst, sowie auch Trauer, durch die symbolische Loslösung von der Herkunftsfamilie, zu verarbeiten. Gräb findet jedoch zu dem Thema des Traurituals keine vergleichbaren säkularen Tendenzen, weil offensichtlich auch nicht-kirchliche Trau-Feiern auch religiös geprägte Liturgien und Abläufe beinhalten.

Die Kasualie der Sterblichkeit schließt den Kreis der durch die Kirche angebotenen Übergansrituale. Dabei formuliert Gräb ganz deutlich einen Wandel der Gesellschaft, welcher sich durch eine hohe Anonymität und Betonung der Privatsphäre auszeichnet. Er beschreibt, dass der Umgang mit dem Tod in einer Gesellschaft auch immer anzeigen würde, wie mit dem Leben umgegangen wird. Die kirchliche Bestattung wird von Gräb schon fast als Sonderfall beschrieben. Gerade in den Städten würden unübersichtliche Strukturen eine anonyme Beisetzung begünstigen. Dabei geht Gräb auch auf kirchliche Bürokratien und Abhängigkeiten ein und kritisiert, dass die Bestattungen oft nicht von den Bedürfnissen der Trauernden bestimmt würde, sondern eher von den Zeitplänen der Friedshofverwaltung oder den kommunalen Leichenhallen. Aber gerade in dieser schmerzvollen Zeit brauchen Menschen das Bestattungsritual als Trost und Stärkung für das eigene Ich, um für das Weiterleben Hilfe zu erfahren. Dabei darf der Kirche nicht die Gefahr des frommen Geredes unterlaufen. Sie kann nicht einfach angesichts des Todes die Auferstehung und den Sieg über den Tod proklamieren, sondern diese Auferstehungshoffnung ist als Trost anzusprechen und nicht als Belehrung. Schließlich kann man die Bitterkeit und die schmerzvollen Aspekte des Todes nicht negieren. Die Angehörigen bedürfen einer Feier des Lebens für die verstorbene Person, die das Fragen nach dem Sinn des Todes einschließt.

So formuliert der Theologe Gräb die Kasualien immer im Zusammenhang mit ihren sinnstiftenden Momenten für jedes Individuum und betont vor allem den Appell an die Kirche, sich dafür als Ort zu verstehen.

Der Autor beschreibt zum Schluss einige Perspektiven des Religionsunterrichts und der Seelsorge. Dabei betont er vor allem, dass ein für die Schülerinnen und Schüler interessanter Religionsunterricht offen für Fragen und Kritik sein muss. Den Schülerinnen und Schülern muss erlaubt sein, Fragen nach ihrem eigenen Ich in der Perspektive der Religiosität stellen zu dürfen und sich religiös selbst zu reflektieren. Sie sollen dazu befähigt werden, selbst auf die Suche zu gehen, Fragen zu stellen, Antworten zu finden und wieder zu verwerfen. Weiter führt Gräb ein Beispiel an, wie im Religionsunterricht anhand von biblischen Geschichten (Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg, Mt 20, 1-16) gearbeitet werden kann.

Im letzten Abschnitt des Buches beschreibt er, wie wichtig eine seelsorgerliche Arbeit als religiöse Kommunikation in der Praxis lebensgeschichtlicher Sinndeutungen ist. Gerade in verwirrenden und lebenswichtigen Phasen des Lebens, wo das Fragen nach dem Sinn so existentiell erscheint, ist doch der Verweis auf das Vertrauen zu Gott oft die letzte Hoffnung.

So beschreibt Gräb besonders im Hinblick auf die Rituale der Übergangssituationen, wie Religion praktisch umgesetzt und gelebt werden kann. Gerade um die Wichtigkeit der Kasualien für die Deutung des eigenen Lebens, zu verstehen, gibt Wilhelm Gräb einen informativen und anregenden Einblick in die Kasualpraxis und für die gegenwärtigen Chancen von Kirche für die Sinndeutung an Übergangspunkten des Lebens. Eine lohnende Lektüre!

Lydia Redekop
im Rahmen eines Seminars an der TU Dortmund
zum Thema „Religiöse Feste und Rituale“ (Sommersemester 2015)

Rz-Gräb-Redekop, 15.07.15

Einige weitere Veröffentlichungen von Wilhelm Gräb in diesem Themenzusammenhang;

  •  Religion als Thema der Theologie. Gütersloher Verlagshaus 1999
  •  Lebensgeschichten, Lebensentwürfe, Sinndeutungen. 2000
  •  Kirche in der urbanen Welt der Moderne.       
    In: Tà katoptrizómena. Magazin für Theologie und Ästhetik Nr. 13/2001
    http://www.theomag.de/13/wg1.htm
  • Sinnfragen. Transformationen des Religiösen in der modernen Kultur.
    Gütersloher Verlagshaus 2006
    Rezension von Chr. Fleischer in Tà katoptrizómena Nr. 46/2007:
    http://www.theomag.de/46/cf5.htm
  • (mit Birgit Weyel): Religion in der modernen Lebenswelt.
    Erscheinungsformen und Reflexionsperspektiven. Göttingen: V & R 2006
  • (mit Birgit Weyel und Hans-Günter Heimbrock, Hg.): Praktische Theologie und empirische Religionsforschung (Veröffentlichungen Der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie (VWGTH), Bd. 39. Leipzig: EVA 2013
  • Glaube aus freier Einsicht: Eine Theologie der Lebensdeutung.
    Mit Audio-CD (Schriften zur Glaubensreform, Band 3). Gütersloher Verlagshaus 2015 
                                                                                                                 

Mittwoch, 1. Juli 2015

Buch des Monats Juli 2015 - die dialogische Herausforderung Martin Bubers



Karl-Josef Kuschel: Martin Buber –
seine Herausforderung an das Christentum
.


Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2015, 363 S.
(mit einer „Nachlese“ in eigener Sache)


--- ISBN 978-3-579-07086-5 ---


Ausführliche Beschreibung
Der katholische Theologe Karl-Josef Kuschel (geb. 1948) hat in Verbindung mit dem Weltethos-Projekt von Hans Küng und im Sinne einer Ökumene der Religionen auch „trialogische“ Schwerpunkte gesetzt. In besonderer Weise hat er dazu auch Schriftsteller und Dichter mit einbezogen. Er verdeutlicht damit, wie umfassend Dialog wirklich ist und wie die Gottesfrage in vielen Abschattungen die Theologen, Literaten und Dichter gleichermaßen bewegt. Mehr zum religionsökumenischen Denken Kuschels: hier     

So verwundert es eigentlich nicht, wenn Kuschel sich im 50. Todesjahr von Martin Buber (1878–1965) diesem bedeutenden jüdischen Philosophen und Theologen widmet. Bereits ein erster Blick in das Buch zeigt, dass hier  nicht einfach eine chronologisch-biografische Darstellung vorliegt. Vielmehr richtet Kuschel die Linse auf den Gesamtduktus des Werks und damit auch auf die deutlich erkennbare Herausforderung für das Christentum, die durch Buber geschieht. Das betont der Autor schon in der Einleitung: „In diesem Buch geht es darum, die Einzelfragen in das Ganze von Bubers Gottes- und Religionsverständnis einzuordnen, sie von der Mitte seines Denkens her zu verstehen“ (S. 29f). Bubers wichtige Lebensereignisse sind dabei geschickt mit den Äußerungen in seinen Schriften verwoben.
Angesichts der von Buber immer wieder herausgehobenen jüdischen Identität ergibt sich auf der einen Seite eine deutliche Abgrenzung von christlichen Bekenntnissen und Vereinnahmungen, auf der andern Seite auch eine Herausforderung an ein assimiliertes deutsches Judentum. Die Arbeit an der Übersetzungsarbeit der hebräischen Bibel (mit Franz Rosenzweig bis zu dessen Tod 1929, vollendet 1961 in Jerusalem) ist dafür ein beeindruckendes Werk (vgl. S. 281–288). Diese Identitätsbestimmungen Bubers werden schließlich zu einem entscheidenden Faktor ehrlicher christlich-jüdischer Begegnung. So kann Kuschel die distanzierte und deutlich kritische Beurteilung des Christentums durch Buber durchaus positiv sehen. Denn es ist dringend geboten, deutlich auf die Christentumsgeschichte in ihrer Abgrenzungsmentalität gerade gegenüber dem Judentum zu verweisen und jüdische Vorbehalte ernst zu nehmen.
Immer wieder tauchen natürlich in der Gesamtdarstellung wichtige (christliche) Gesprächspartner Bubers auf, besonders natürlich bei den „Gottes- und Religionsgesprächen“ (Kap. VIII), so etwa Leonard Ragaz und Hans Urs von Balthasar oder nach dem 2. Weltkrieg Karl Heinrich Rengstorf, Otto Michel und Fridolin Stier. Die Leser werden aber auch mit dem Antijudaismus und der Arroganz des christlichen Bibelexegeten Gerhard Kittel konfrontiert (Kap. IX). Der Christ weiß besser als der Jude, wie das Alte Testament zu verstehen sei ... (S. 175–180). Es mutet schon seltsam an, dass Kittel versuchte, Martin Buber als eine Art Bundesgenossen für eine solche Haltung zu gewinnen (S. 181–184). Dagegen erfährt Buber von Rudolf Bultmann und Ernst Lohmeyer echte Solidarität.
Kuschel hebt durch die entsprechenden Belege bei Buber immer wieder heraus, wie dessen belastende Kindheitserlebnisse im damals polnischen Lemberg und Vergegnung“ und „Fremdandacht“ statt Begegnung  (Kap. I). Wirkungsgeschichtlich konsequent thematisiert der Autor im Kap. II die antijüdische und antisemitische Zeitstimmung im Blick auf die Päpste, besonders des 18./19. Jahrhunderts und ordnet hier auch den protestantischen Antisemitismus seit Luther ein. Bubers Reaktion zeigt sich in den Jahren vor dem 1. Weltkrieg in einer starken jüdischen „Selbstemanzipation“ und der Annäherung an Theodor Herzls Verständnis des Zionismus. Aber Buber plädiert stärker für einen „Kulturzionismus“. Dieser ist etwas anderes als ein jüdischer Nationalismus: Darum stellt Buber Israel als Bundesvolk Gottes mit politischen und sozialen Konsequenzen in den Vordergrund (S. 57 und 58).
Entscheidend wirkt sich Bubers Begegnung mit der chassidischen Spiritualität aus (Kap. III), einer „eigentümlichen Form von Mystik“ (S. 69). Sie bedeutet zugleich eine Erneuerung der Religion von innen heraus. Sie steht gegen Gesetzesfrömmigkeit, also gegen Halacha und Gottesdienstrituale (S. 80). Damit plädiert er für die „Seelenkraft des Judentums“ (Prager Reden 1909/10). In den Anfängen des Christentums sieht er darum ein „Urjudentum“ (Kap. IV). Dieses verflüchtigt sich aber leider schnell, und es entsteht eine Mischung „aus tausend Riten und Dogmen“ (S. 83). In dieser Auseinandersetzung – geradezu am Nazarener und seiner Bewegung exemplifiziert – zeigt sich das jüdische Selbstbewusstsein Bubers. Er wehrt sich dagegen, dass das Judentum christlich vereinnahmt wurde und wird. Bubers Bild von Jesus und Paulus lebt von diesem Gegensatz. Darauf geht Kuschel in Kap. V. ausführlich ein. So grenzt sich der jüdische Religionsphilosoph scharf von der Missdeutung der Lehre Jesu ab – für Jesus – gegen das Christentum. Paulus, dem Theologen der frühen Kirche, wird Buber wohl nicht in jeder Hinsicht gerecht.
Zugespitzt zeigt sich die fundamental-theologische Auseinandersetzung im Jesus, der nicht der Messias sein kann (Kap. VI):Für Buber erscheint Jesu Messianität zurückblickend im Schatten eines höchst fragwürdigen >Messias<, der am Ende vom jüdischen Glauben abfallen wird“ (S. 115). Aber Buber ist bei aller Hervorhebung der Differenzen zugleich Dialogiker (Kap. VII/VIII). Das zeigt sein berühmt gewordenes anthropologisches Konzept zur Sphäre des „Zwischen“ auf dem Weg von der „Vergegnung“ (s. Kap. I) zur Begegnung. Das ist beeindruckend dokumentiert in „Ich und Du“ (1923) sowie in „Zwiesprache“ (1929/1932) [vgl. Kap. VII, S. 127-144]. Kuschel geht darum auf den Bruderkuss mit dem Christen Florens Christian Rang 1914 in Potsdam besonders ein (S. 142–144).
Die drei letzten Kapitel (X–XIII) zeigen Buber als dialogischen Menschen, der auf die Andersheit des Anderen pocht und den Streit um das wahre Israel noch keineswegs für geklärt hält (vgl. die Herausgabe der „Ekstatischen Konfessionen“, bereits 1909 und die posthume Zusammenstellung in „Das dialogische Prinzip“, 1973 bzw. 1984). Wichtig aus jüdischer Sicht ist jedoch, dass der Bund Gottes mit Israel ungekündigt bestehen bleibt. Beim Ev. Kirchentag 1961 haben jüdische und christliche Theologen mit der „Arbeitsgemeinschaft Christen und Juden“ (S. 226f) von diesen Überlegungen her ein maßgebliches Zeichen gesetzt. Der Rezensent war damals als junger Theologiestudent dabei, als Helmut Gollwitzer dort für die Notwendigkeit einer Christologie frei von (jeglichem noch so verdecktem) Antijudaismus plädierte und vehement für einen Dialog auf soteriologisch gleicher Ebene mit dem Judentum plädierte. Das haben die Kirchen erst nach und nach in ihren Denkschriften einigermaßen verinnerlicht, wirklich hervor-ragend bis heute der Beschluss der Ev. Kirche im Rheinland 1980 (S. 227). Damit wurden Maßstäbe für den christlich-jüdischen Dialog gesetzt, hinter die man eigentlich nicht zurückgehen kann. „Begegnung im Dialog schließt für Buber die Verpflichtung von Juden und Christen ein, um die jeweils erkannte Wahrheit Gottes noch zu ringen“ (S. 229).
Ausgesprochen aufschlussreich ist der sich hier anschließende kurze Exkurs zu Karl Ludwig Schmidt, dessen ursprüngliche Judenmissionstheologie ihn weder an der Ablehnung des Nationalsozialismus hinderte noch an der intensiven Weiterarbeit zum Verhältnis Kirche und Judentum. (S. 230f).
Die Bilanz angesichts der „zwei Glaubensweisen“ Christentum und Judentum fällt für Buber ziemlich kritisch aus (Kap. XI). Innerhalb dieser kritischen Sichtung des Christentums – gerade im Blick auf den Nationalsozialismus – leuchten wenige Wissenschaftler solidarisch mit ihm hervor, so Rudolf Bultmann, Albert Schweitzer, Rudolf Otto und Leonard Ragaz (S. 240).
Nun kommt neben den grundsätzlichen Überlegungen auch noch die Erfahrung der Emigration im Frühjahr 1938 hinzu. Glücklicherweise musste er die Verwüstung seines Hauses in Heppenheim während der Pogromnacht desselben Jahres nicht mehr miterleben.
Das Exil in Jerusalem bedeutete für Buber jedoch eine weitere Herausforderung und zugleich die politische Probe auf sein Zionismuskonzept. Seine Erfahrungen gipfeln enttäuschend in der nicht zustande kommenden Verständigung mit den Arabern. Bubers Kulturen verbindendes Zionismusverständnis schien ja einen Ausgleich möglich zu machen, aber er musste statt hebräischem Humanismus nun israelischen Nationalismus erleben (S. 246). Die Verständigung zwischen zwei Völkern und Religionen, ein Herzensanliegen Bubers ist faktisch gescheitert – politisch und religiös. Und wie sieht es mit den Christen aus?
Wenn in den Äußerungen des alt gewordenen Bubers das oft zitierte Wort von Jesus als dem großen Bruder (S. 252) ins Blickfeld des christlich-jüdischen Dialogs rückt, so mahnt Kuschel zur Vorsicht: Es handelt sich nicht um eine Bestätigung des Glaubens an Christus, sondern um ein brüderlich-aufgeschlossenes und Wert schätzendes Verhältnis zu Jesus (S. 253.261f). Da gibt es keine „Vergottung“ Jesu. Auch geht es nicht an, Gott durch den Christusglauben zu ersetzen (S. 267). Die Problematik des von Buber getadelten „Paulismus“ bleibt eine Schwierigkeit im Dialog der beiden monotheistischen Religionen. Darum ist die nicht zu überhörende Einladung Bubers besonders wichtig, dass sich die Christen auf die jüdischen Wurzeln ihres Glaubens besinnen (S. 317), denn Israel ist „unersetzbar und unvertretbar Gottes Volk“ (S. 317).
Mit einem eher persönlichen gehaltenen Epilog Kuschels endet das Buch: Besuche Bubers in Tübingen und überhaupt die Rückkehr des Vertriebenen nach Deutschland. Den 1953 an Buber verliehenen Friedenspreis des Deutschen Buchhandels sah dieser als Signal seiner Verständigungsbemühungen in Wort und Schrift an. Es sind Signale, die für das Gespräch zwischen Juden und Christen zu den entscheidenden Orientierungsmarken gehören.
Es ist Karl-Josef Kuschel zu danken, die dialog-historische Bedeutung Bubers so deutlich und weiterführend herausgearbeitet zu haben.

Reinhard Kirste

Rz-Kuschel-Buber, 30.06.15