Freitag, 22. Januar 2016

Die Heiligen Schriften – Wegweiser des Lebens



Ahmad Milad Karimi (Übers. + Hg.): Die Blumen des Koran
oder: Gottes Poesie. 
Ein Lesebuch.
Freiburg/Br.: Herder 2015, 224 S. --- ISBN: 978-3-451-31335-6 ---



 Jede Kultur und jedes Volk hat seine Heilige Schrift(en): „ Die Heiligen Schriften der Religionen sind dokumentierte und durch die Zeit tradierte Zeugnisse gelebten Glaubens. Mehr noch: Sie sind selbst Wort und Offenbarung Gottes. Damit unterscheiden sie sich von allen anderen religiösen Werken, die jede Tradition zu bieten hat.“(1) Die Heiligen Schriften sind Wegweiser des Lebens geworden. Je nach Lebenssituation sind besondere Stellen der Bibel wichtig geworden, Psalm 23, Psalm 90, Bergpredigt Mt 5, 1.Kor 13. Für Christen wird einem bald klar, dass eine Übersetzung des ursprünglich in reiner Prosa gefassten arabischen Textes des Korans schwierig ist. Anders als in der Bibel sind hier Wort und Sinn sehr miteinander verwoben. Diese Besonderheit bedeutet: „Diese Vielschichtigkeit des Korans ist der Grund dafür, dass alle Gebete, die auf dem Koran beruhen, vom Muslim nur auf Arabisch rezitiert werden dürfen, und der Gläubige empfindet den Segen des Wortes, auch wenn er oder sie das Wort selbst nicht versteht … es ergibt sich eine innige Verbindung des Menschen mit Gott, und man fühlt sich geehrt, dass man Gott mit Seinem eigenen Wort anreden darf“(2).

Die Koran-Rezitation lässt eine „Innigkeit“, eine ganz eigenartige Beteiligung spüren. Es ist tatsächlich ein ästhetisches Erleben möglich (3). „Gott offenbart sich dann nicht nur durch den Koran als etwas von ihm verschiedenes und ist auch nicht Buch geworden in einer Art ‚Inliberation‘. In der Rezitation gibt Gott etwas preis, das allein in dieser Weise offenbar wird: seine Schönheit. Durch den Akt der Rezitation wird die Gegenwart Gottes, seine Schönheit und Herrlichkeit sinnlich wahrnehmbar“(4). Annemarie Schimmel hebt die Wichtigkeit des Korans „als Schlüssel“ zum „Verständnis“ für das Besondere dieser Heiligen Schrift, dieses Buches, den Koran, hervor. „Nicht der Prophet steht im Mittelpunkt, sondern das Wort Gottes … im Islam (ist) das göttliche Wort BUCH geworden“(5).


In wissenschaftlichen Übersetzungen von Heiligen Schriften wird meistens der Schwerpunkt auf die historisch-kritische Entstehung von Texten gelegt und somit eine sog. emotional-ästhetische Dimension ausgeklammert. Dieser Aspekt ist aber immer untrennbarer Teilbestand Heiliger Schriften gewesen, ja ursprünglicher Impuls der zur Entstehung dieser Glaubenstexte führte. Zu Recht weist auch Karimi darauf hin, wenn er in einem Interview sagt: „Die vorliegenden wissenschaftlichen Übersetzungen sind wichtig, weil sie möglichst genau den Textinhalt zu übertragen versuchen. Was aus meiner Sicht aber fehlt, ist der Versuch, das Wie zu berücksichtigen, die Sprachform, wie der Koran etwas sagt. Denn hier liegt der Grund, warum der Koran zum lebendigen Herz des Islam geworden ist, und warum Muslime so gerührt und fasziniert vom Koran sind“(6). So greift Ahmad Milad Karimi schon im Prolog seines Werkes die Frage auf, wie der Koran dann zu lesen sei. „Halten wir ihn tatsächlich in den Händen? Obgleich er in unseren Händen liegt, ist er kein Gegenstand. Der Koran entgleitet uns im Akt der Rezitation; und gerade in der Rezitation scheint er ganz auf. Was im Koran steht, lässt sich nicht abstrahieren von der Weise, wie es im Koran steht. Inhalt und Form sind untrennbar, sie greifen ineinander“(7). Oder an anderer Stelle: „Die Blumen des Koran verlangen nach Begegnung. Begegnung ist immer ein unmittelbarer Akt, sinnlich, zitternd, wie eine erste Berührung. Das ästhetische Moment entsteht durch das alles umspannende Erlebnis des Poetischen … die Poesie Gottes umfasst alle Dinge, und sie ist progressiv deshalb, weil der Koran dem Werden und der Veränderung verschrieben ist. Der Koran, er endet nicht, und gerade im Fragmentarischen atmet die Seele auf“ (8).


In insgesamt neunzehn Teilen hilft Karimi uns, besonderen Abschnitten des Korans zu begegnen. Zuletzt steht die Begegnung mit Sure 55, „die Braut des Koran“. Hier wird Gott als der Barmherzige angesprochen, eine Begegnung die zugleich auch wieder ein Anfang ist. Gott ist der Barmherzige (9.)


Wie wichtig es ist, dem Gott, dem Barmherzigen, zu begegnen, ist immer wieder in den Heiligen Schriften des Judentums, wie auch in den Neutestamentlichen Schriften der Christen zu lesen und besonders in den Psalmen zu hören. Dass wir uns gemeinsam mit allen Menschen diesem BARMHERZIGEN öffnen, damit auch wir barmherzig sein können, geht besonders auch aus dem Aufruf von Papst Franziskus hervor, das Jahr 2016 zum Jahr der Barmherzigkeit zu leben, zu feiern. „Die Worte Jesu aus der Bergpredigt leiten uns auf diesem langen und anspruchsvollen Weg … Im Laufe des Jahres, lassen wir uns von seinem Spruch anregen: >Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen<. Barmherzigkeit ist der einzige Weg, das Böse zu überwinden. Gerechtigkeit ist notwendig, sehr sogar, aber Gerechtigkeit alleine reicht nicht“(10).


Das gelungene Werk, Gottes Poesie, ist besonders auch für Nicht-Muslime eine hilfreiche Einführung in die Essenz Heiliger Schriften und besonders in den Koran. Texte werden lebendig, wie aus dem Alltag gegriffen; vorher übersehen, werden unsere Augen und Sinne geöffnet zu ganzheitlicher Wahrnehmung und Dankbarkeit im Angesicht der Schönheit. Im Koran gibt es viele Hinweise auf Gott, auf den Schöpfer, und immer wieder wird der Versuch unternommen, ihn sich vorzustellen. Greifen gleichwohl alle menschlichen Kategorien nicht, „ihn“ „fassen“ zu können. Die 99 verschiedenen „Namen“ münden in „erster Linie“ darin, ihn als den „Allbarmherzigen“ zu erfahren.


Prof. Dr. Dr. Manfred Kwiran, Wülperode

Anmerkungen

Vgl. auch: Eric-Emmanuel Schmitt: Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran (2001).
Aus dem Französischen von Annette und Klaus Bäcker. Zürich: Amman 2003, viele Auflagen.
Details zur Erzählung und zum Film:
https://de.wikipedia.org/wiki/Monsieur_Ibrahim_und_die_Blumen_des_Koran

  1. Bernadette Schwarz-Boenneke, in: Heilige Schriften. H.3 (Hg. Claus Peter Sajak) Paderborn: Schöningh 2015, S. 4
  2. Annemarie Schimmel, Im Namen Allahs, des Allbarmherzigen. Der Islam.
    Düsseldorf: Patmos Verlag 1998, 2. Aufl., S. 33f
  3. Navid Kermani, Gott ist schön. Das ästhetische Erleben des Koran. München: C.H. Beck Verlag 2000.
  4. Cordula Heupts, Ästhetische Offenbarung? Essay zur Studienwoche Stuttgart 2013, www.akademie-rs.de
  5. Ebd., S. 37
  6. Volker Hasenauer, Koranübersetzer will Poesie und Schönheit des Textes aufzeigen
      - Domradio Köln, 17.08.2009, S.1:
    http://www.domradio.de.
  7. Ahmad Milad Karimi (Hg.), Die Blumen des Koran oder: Gottes Poesie. Ein Lesebuch.
    Herder, Freiburg im Breisgau 2015, S. 9
  8.  Ebd., S.13 
  9.  Ebd., S.215ff.
  10. Papst Franziskus: Was der Weltjugendtag 2016 mit der Barmherzigkeit zu tun hat: S. 1-7,
    hier S. 3 in: 
    http://de.catholicnewsagency.com. 
  11. Annemarie Schimmel, a.a.O.,S. 24ff

Rz-Karimi-Blumen-Koran, 22.01.16  



Samstag, 16. Januar 2016

Yeziden / Êzîden / Jesiden - eine wenig bekannte Religion im Brennpunkt

Celalettin Kartal: Deutsche Yeziden.
Geschichte – Gegenwart – Prognosen.

Reihe: Religionen aktuell Bd 17.

Marburg: Tectum Verlag 2016, 152 S.
--- ISBN 978-3-8288-3676-1 --- 

Verlagsankündigung: hier

Durch die Flüchtlingsströme aus Syrien und dem Irak ist die deutsche Öffentlichkeit auf die Existenz der Religionsgemeinschaft der Yeziden (oft auch „Êzîden“ geschrieben) aufmerksam geworden.
Viele wünschen deshalb mehr Informationen darüber und erwarten von der Religionswissenschaft genauere Details.
Hier jedoch ist oft Fehlanzeige zu beklagen, weil derartige religiöse Sondergruppen nicht zu den üblichen Inhalten einer religionswissenschaftlichen Standardausbildung gehören. Umso erfreulicher ist, dass das Buch Celalettin Kartal nun die entsprechenden Informationen liefert.
Nach einer Einleitung und der Eingangfrage, wer die deutschen Êzîden sind, geht das Buch auf die Frage ein, woher die Êzîden kommen, welche Gemeinsamkeiten mit den „Geschwisterreligionen“ (Zoroastriern, Yasaran und Aleviten) bestehen und wo die Unterschiede zu den Universalreligionen liegen. 
Es folgt ein kurzer Abriss zur Geschichte der Êzîden unter islamischer Herrschaft, zu ihrer Flucht aus der Türkei, aus Syrien, aus dem Irak und aus Transkaukasien und ihr Wunsch, nach Deutschland zu kommen und sich als hier frei lebende Religionsgemeinschaft voll zu integrieren. 
Wichtige weitere Kapitel behandeln das êzîdische Glaubenssystem, feststellbare Auslegungsunterschiede innerhalb der Gemeinschaft der Êzîden, Fragen nach der rechtlichen Stellung der Frau und nach der religiösen Praxis der Êzîden in Deutschland und damit verbunden Fragen wie der nach der Einstellung zum Deutschen Staat und der Rolle der Tradition in neuer Umgebung sowie offene Fragen bezüglich der Erwartung, dass Êzîden nur unter Êzîden derselben Kaste heiraten sollen und Konversionen bislang nicht zugelassen sind.
Aus der Zusammenfassung (S. 120-123) seien hier einige wichtige Aussagen zum Êzîdentum zitiert:
  • Das Êzîdentum kennt keinen Fanatismus und erhebt keine Absolutheitsansprüche.
  • Es gibt im Êzîdentum keine negative Macht, die von außen auf Menschen einwirken und diese verführen kann.
  • Êzîden glauben an Seelenwanderung. Die Seele stirbt nicht, wandert von Körper zu Körper bis sie ihren transzendentalen Zustand erreicht.
  • Es gibt im Êzîdentum keine „heiligen Bücher“.
  • Êzîden besitzen einen reichen Fundus an Hymnen, Gebeten und Legenden.
  • Die Inhalte des Êzîdentums wurden von religiösen Würdenträgern oder Spezialisten (qewals) mündlich weitergegeben.
  • Es gibt bei den Êzîden keine ausgebildeten Theologen wie z.B. Pfarrer oder Priester.  Êzîden haben sog. religiöse Würdenträger, die zwar alle ihre murîds haben, aber nur die wenigsten von ihnen haben die religiösen Texte memoriert und können sie vortragen. Die meisten Êzîden wissen wenig über ihre Religion und deren Inhalte.
  • Die Êzîden verehren die sieben Engel. Der wichtigste ist unter ihnen Tawisî Melek. Nach êzîdischer Vorstellung wurde er wegen seiner Weisheit und seines Mutes von Gott zum Oberhaupt aller anderen Engel erkoren.
  • Gott hat bei den Êzîden einen Chefengel: Der êzîdische Gott weist gewisse Besonderheiten auf: Nach êzîdischer Auffassung trat Gott nur bei der Schöpfung aktiv in Erscheinung. Alle Engel unterstehen der Befehlgewalt des obersten Erzengels, der sich an dem göttlichen Plan aktiv mit beteiligt hat.
Es würde zu weit führen, hier alle Details der Zusammenfassung zu wiederholen. Die aufgeführten sollen aber zeigen, weshalb die Êzîden nach islamischem Recht nicht unter die geduldeten Religionsgemeinschaften der „Leute des Buches“ (also Juden, Christen, Zoroastrier u.a.) fallen und daher stets illegal innerhalb des islamischen Reiches überlebt haben, sofern sie nicht offen verfolgt wurden.

Als besonders wertvoll ist schließlich für das Buch neben einem ausführlichen Literaturverzeichnis die Vorstellung wichtiger Studien über die Êzîden (S. 124-135) hervorzuheben, die auf Türkisch, Kurdisch, Englisch und Deutsch vorliegen und folglich nicht alle in gleicher Weise den am Êzîdentum Interessierten zugänglich sind.
All dies zeigt hoffentlich, weshalb das Buch für die Religionswissenschaft ein großer Gewinn ist und alle nur erdenkliche Beachtung verdient.
Prof. Dr. Peter Antes, Hannover
08.01.2016

Freitag, 1. Januar 2016

Buch des Monats Januar 2016: Frauenspiritualität und Armutsideal im Geist des Franziskus



Michaela Sohn-Kronthaler / Willibald Hopfgartner OFM /
Paul Zahner OFM (Hg.):
Zwischen Gebet, Reform und sozialem Dienst.
Franziskanisch inspirierte Frauen in den Umbrüchen ihrer Zeit
Theologie im kulturellen Dialog, Band 29,
Tyrolia-Verlag Innsbruck-Wien 2015, 315 S., Personenregister
--- ISBN 978-3-7022-3392 ---

Der vorliegende Band gibt die Vorträge eines Symposiums wieder, das die Franziskanerprovinz Austria und die Theologische Fakultät in Graz im Oktober 2013 ausrichtete. Diese Tagung nimmt Themen auf, die ähnlich den früheren den Zusammenhang mit der franziskanischen Spiritualität verdeutlichen: 2011 gingt es um Frieden, dokumentiert in „Pax et Bonum“ (2012). Rezension hier:
Das Symposium 2012 (veröffentlicht 2013) war ökologisch ausgerichtet:
Die Schöpfung lesen. Die Natur zwischen Mystik und Missbrauch:
Der Schwerpunkt liegt dieses Mal auf franziskanisch inspirierten Frauen in Vergangenheit und Gegenwart.

Die vorliegenden Beiträge heben gewissermaßen die intensive weibliche Seite der Wirkungsgeschichte des Franziskus von Assisi besonders hervor. Die Herausgeber/innen des Bandes sind anerkannte Experten auf diesem Gebiet: Die Grazer Kirchenhistorikerin Michaela Sohn-Kronthaler, der Junioratsleiter des Franziskanerklosters Graz, Willibald Hopfgartner OFM und der Leiter des Fortbildungsbereichs des Grazer Franziskanerkonvents und Studierenden-Mentor Paul Zahner OFM. Hinzu kommen als AutorInnen kompetente Ordensfrauen und bekannte Historikerinnen, Sozialwissenschaftlerinnen sowie ein Kunstgeschichtler und ein Kirchenhistoriker.
Wie vielfältig die franziskanische Frauentradition zwischen strenger Kontemplation, Krankendienst und Schulbildung war und ist, zeigen die verschiedenen Beiträge, die auf die neue Lebensform der Klara von Assisi, und dann auch der Elisabeth von Thüringen Bezug nehmen und bis in die Gegenwart hineinwirken. Das Vorwort macht bereits auf die spirituelle und zugleich aktive Variante franziskanischen Lebens aufmerksam. Die Kirchenhistorikerin Adriana Valerio (Universität Neapel) verdeutlicht dies im ersten Beitrag an zwei recht unterschiedlichen späteren Jüngerinnen des hl. Franziskus: Angela von Foligno (1248–1309) und Maria Lorenza Longo (ca. 1460–1539). Und doch sind beide vereint in der Haltung, mit Christus gleichförmig zu werden und in barmherziger Liebe zu wirken. Das gilt besonders gegenüber den Armen und Ausgestoßenen. Mit   Elisabeth von Thüringen (1207–1231) beschäftigt sich der Beitrag des Kunsthistorikers Harald Wolter-von dem Knesebeck (Universität Bonn): Bilder in Büchern – Bilder im Herzen. Er zeigt anhand der Illustrationen und der Sprache der monastisch orientierten Landgrafenpsalterien sowie des eher höfischen Elisabethpsalters, dass diese für Elisabeth als geistliche Hilfsmittel zunehmend an Bedeutung verloren. Ihre (asketische) Verinnerlichung und Nachfolgeorientierung am armen Christus spielt bereits für die im Geist des hl. Franz entwickelte Ordensregel der hl. Klara von Assisi eine wesentliche Rolle. Diese speist sich jedoch noch aus einigen anderen (mittelalterlichen) monastischen Lebensregeln. Darauf verweist der Mitherausgeber Paul Zahner. Um bei der Verinnerlichung zu bleiben: Sie findet ihren besonderen Ausdruck in der mystischen Sprache, die die Erfahrung der Liebe vielfältig variiert. Die Religionswissenschaftlerin Theresia Heimerl (Universität Graz) führt dies an Angela de Foligno (s.o.) und der Begine Mechthild von Magdeburg (um 1208–1282) vor: Eine Spannung von asketischer Strenge, Leidenserlebnis und visionärer Ekstase. Die intensive Jesusliebe verbindet sich mit poetisch starker Ausdruckskraft.
Die Theologin Susanne Ernst (Salzburg) steuert ein weiteres frauenmystisches Lebensbild bei, das der Katharina Vigri (1413–1463). Diese Klarisse, als hl. Katharina von Bologna bekannt geworden, lebte konsequent nach der „Form des Evangeliums“ (S. 89). Sie verstand das Ordensleben als Nachfolge Christi im Sinne einer inkarnatorischen Mystik, als ganz menschliches Hören, Sehen, Fühlen und Verkosten, umgesetzt in Musik, Tanz, Malerei, Schriftkunst, Grafik bis zum sinnlichen Verkosten der Hostie. Diese spirituelle Sinnlichkeit findet man auch bei der Klarissin Caritas Pirckheimer (1467–1532). Sie gerät in die kirchlichen und gesellschaftlichen Umbrüche der Reformation. Dies beschreibt die Kirchenhistorikern Barbara Henze (Universität Freiburg/Br.): Der protestantische Stadtrat in Nürnberg auf der einen Seite und die Klarissen mit Frage des Gehorsams gegenüber den Ordensgelübden auf der anderen Seite verschärften die Frage nach der Glaubensfreiheit. Die wahre christliche Freiheit besteht jedoch „im Geist“. In der Spannung der Auslegung der Rechtfertigungslehre fühlte sich Caritas Pirckheimer Melanchthon näher als Luther. Melanchthon vermittelte offensichtlich auch, dass der Klarissenkonvent in Nürnberg nicht aufgelöst, allerdings in seinen Funktionen beschränkt wurde. Nun hatte selbst der ehemalige Augustinermönch Luther durch seine eigene Heirat mit einer Nonne eine innere Verbindung von Ordensregel und Familie hergestellt (S. 134). So verstanden sich die humanistisch gebildeten Schwestern als durchaus mündige Auslegerinnen der Hl. Schrift und beriefen sich damit zugleich auf ihre Ordensgründerin, die hl. Klara.
Historisch und zugleich aktuell ist der Beitrag von Bonaventura Holzmann OSE, Generaloberin der Elisabethinnen in Graz. Sie stellt kurz den Beginn des Ordens mit Apollonia Rademecher in Aachen seit 1622 vor und die unmittelbar damit zusammenhängende Gründung in Graz (1693/94). Vorbild im Zusammenhang von Kontemplation sowie Solidarität und Engagement für die Armen und Kranken bleibt weiterhin Elisabeth von Thüringen. Sehr passend schließt sich hier unmittelbar der Beitrag der Mitherausgeberin Michaela Sohn-Kronthaler an. Sie bietet einen aufschlussreichen Einblick in das aufblühende Leben von Frauenkongregationen im deutschsprachigen Katholizismus des 19. Jahrhunderts. Die Namen der Frauen sind teilweise wenig bekannt. Die franziskanische Regel gilt sowohl für die klassischen Männer- und Frauenorden wie auch für die Dritten Orden (Terziarer) als Orientierung für die unterschiedlichen Handlungsfelder der jeweiligen Konvente. Das zeigt sich gerade in der verstärkten Gründung von Terziarinnen-Kommunitäten. Sie sind damit zugleich Teil des Aufschwungs religiöser weiblicher Genossenschaften (S. 165). Dass ausgerechnet die franziskanische Regel so großen Anklang fand, dürfte mit neuer religiöser Suche angesichts der großen Veränderungen in der Gesellschaft, besonders den teilweise katastrophalen sozialen Folgen der Industrialisierung im 19. Jh. zu tun haben. Beispielhaft führt dies Katharina Ganz, Generaloberin der Kongregation der Dienerinnen der heiligen Kindheit Jesu OSF, vom Kloster Oberzell (Würzburg) vor: Der „katholische Jungfrauenverein“ der Antonia Werr (1813–1868) kümmerte sich zuerst um „verwahrloste Personen weiblichen Geschlechts“ (S. 191), keineswegs immer zur Freude der kirchlichen Hierarchie. Schwerpunkt ihrer Arbeit aber wurden die von der bürgerlichen Gesellschaft ausgestoßenen Frauen, denen Antonia Werrs besondere Zuwendung und die Wiederherstellung ihrer Menschenwürde galt. Denn gerade in ihnen offenbarte sich Gottes Verletzlichkeit wie in einem Kind. Daher rührt der Name dieses Terziarinnen-Ordens. Diese Haltung erinnert in vielem auch an die Gründung der protestantischen Diakonissenhäuser.
Auf den politisch anti-liberalen Schweizer Kapuzinerpater Theodosius Florentini (1808–1865) kommt der Kirchengeschichtler Markus Ries (Universität Luzern) im Zusammenhang mit dessen Gründung von zwei Frauenkongregationen kritisch sichtend zu sprechen. So versuchte Florentini durchaus als Sozialreformer im Gegensatz zum „rationalistischen“ Staat, Armenpflege zu betreiben und klösterliche Fabriken aufzubauen. Einige der in den Konventen wirkenden Frauen entwickelten jedoch eigenständige Wege, was zu bedrohlichen Krisen führte. Die inzwischen selbständig gewordene Kongregation in Ingenbohl wurde von Sr. Maria Theresia Scherer keineswegs ohne erhebliche Spannungen gegenüber dem sich patriarchalisch gebärdenden Gründer geführt. Dies alles zeigt, die Problematik eines Mannes „der seine Ideale zum Maßstab machte“ (S. 224) – offensichtlich auch gegen die Frauen!
Über die eigene Region hinaus führt der Mitherausgeber Paul Zahner OFM mit der Vorstellung und Hintergrundinterpretation eines Briefes, der sich auf die Missionsreise von Schweizer Kapuzinerinnen im Jahre 1888 sowie deren Erfahrungen in Lateinamerika bezieht. Besonders in Kolumbien, Brasilien, Ecuador, Peru und Panama entstand so eine intensive soziale Wirksamkeit bis heute. Mit dem Beitrag von Gisela Fleckenstein OFS (Stadtarchiv Köln) wird die Geschichte der franziskanischen Terziarer-Ordens-Regeln im 19. Jahrhundert, besonders unter Papst Leo XIII. bis hin zum „Ordo Franciscanus Saecularis“ (OFS) von 1978 verdeutlicht. Ende des 19. Jh.s faktisch zum Gebetsverein (S. 249) geworden, konnten sich die Mitglieder durch ihre fromme Tagesgestaltung und ihre wohltätigen Werke als gute Christen fühlen. Nach dem 2. Weltkrieg wurde die Struktur der Terziarer-Orden (Franziskaner und Kapuziner) klarer und durch die Regel von 1978 verändernd konzipiert: „Geistliches Leben in der Welt in Eigenverantwortlichkeit“ (S. 259), und zwar im Sinne der spirituellen, liturgischen und missionarischen Konzilsreformen durch das 2. Vaticanum.
Mit der sozialrevolutionären Philosophin Simone Weil – jüdischer Herkunft – (1909–1943), die sich zur Mystikerin wandelte, beschäftigt sich Willibald Hopfgartner OFM (Graz). Da sie von Kindheit an durch großes Gerechtigkeitsbewusstsein geprägt war, sah sie sich besonders herausgefordert, ihr Leben mit den Schwachen und Ausgebeuteten zu teilen. In dieser Weise lebte sie achtsam die „compassio Christi“, vielleicht ohne den letzten Schritt zu tun, nämlich sich christlich taufen zu lassen. Vorbild und Ansporn wird ihr dabei der Hl. Franz in seiner Betonung der Nächstenliebe in direktem Zusammenhang von Armut und Machtlosigkeit. Zugleich verbindet sich bei ihr damit die Schönheit der Schöpfung Gottes.
Vgl. auch die Anmerkungen zu Simone Weil von Elisabeth Pernkopf in „Sehnsucht Mystik“ (2011, S. 226–229): http://buchvorstellungen.blogspot.de/2012/01/sehnsucht-mystik.html
Den Abschluss des Bandes bilden kritische Überlegungen von Rebeka Anić SSFCR (Ivo Pilar Zentrum Split) über die „Männerkirche“. Sie stellt die dominante hierarchische Ekklesiologie in Frage. Sie bezieht sich Galater 3,28 und fordert aus dem franziskanischen Geist heraus eine Kirche, die die gleichwertige Bezogenheit von „apostolisch-petrinisch“ und „marianisch“ ernst nimmt. Sie unterlegt ihre Forderung mit ihrer eigenen Biografie und theologischen „Karriere“. Das 2. Vaticanum hat hier tatsächlich Umstrukturierungen gebracht. Aber praktische Veränderungen der Kirche können nur über eine Theologie, die in Beziehungen denkt, ermöglicht werden, und zwar durch eine „demutsvolle Ekklesiologie“, in der „der Antagonismus zwischen Frauen und Männern aufgehoben sein“ muss (S. 301).
Bilanz
Insgesamt ist dies ein spannendes Buch, und zwar deshalb, weil offensichtlich aus dem franziskanischen Geist heraus eine kontinuierliche Reform der Kirche immer wieder zur Sprache gebracht und praktisch eingefordert wird. Das erinnert durchaus an das Wort der „ecclesia semper reformanda“, eine Kirche, die sich immer verändern muss (so bei Augustinus, Karl Barth, Hans Küng, im Vaticanum II: Lumen Gentium). Franziskanerinnen und Franziskaner scheinen auf Grund ihrer Geschichte dabei besonders erfahrene und darum wichtige Kooperationspartner/innen „in den Umbrüchen der Zeit“ zu sein.
Reinhard Kirste
Rz-Sohn-Kronthaler-franziskanisch, 31.12.15