Mittwoch, 31. Januar 2018

Der Übermuslim - Radikalisierung und Opfer

Fethi Benslama: Der Übermuslim. Was junge Menschen zur Radikalisierung treibt.
Aus dem Französischen von Monika Mager und Michael Schmid.
Berlin: Matthes & Seitz 2017, 142 S. --- ISBN 978-3-95757-388-9 ---
Französische Originalausgabe:
Un furieux désir de sacrifice. Le surmusulman [ = ein wahnsinniges Opferbegehren]
Paris: Seuil 2016, 151 pp. --- ISBN 978-2-02-131909-5 ---

                 


Der Autor dieses Buches, Fethi Benslama (geb. 1951 in Tunesien, seit 1972 in Frankreich), ist Psychoanalytiker. Er hat in den Jahren 1985–2000 wesentliche Erfahrungen als klinischer Psychologe und Psychopathologe gesammelt. Seit 2004 ist er Professor an der Pariser Universität Diderot. Er gehört zugleich der Tunesischen Akademie der Wissenschaft und Künste an. Seit vielen Jahren arbeitet er intensiv zu den Themen gestörter kindlicher Identitäten und jugendlicher Radikalisierung. Er gehört zu den wichtigsten französischsprachigen Forschern mit seinen Untersuchungen über die Zusammenhänge des Islam als Religion und den Strömungen des Islamismus. 15 Jahre hat der Autor in einer Pariser Banlieue mit radikalisierten Jugendlichen gearbeitet. Durch das Zusammendenken von psychologischen Hintergründen im Kontext von theologischer Fundamentalisierung lässt sich leichter verstehen, wie aus dem demütig seinen Glauben lebenden Muslim der Übermuslim wird.
Dieser aufregend geschriebene Essay bietet eine nüchterne Bilanz. Der Autor kommt ohne die üblichen Klischees oder polemischen Abgrenzungen aus.
Im Abschnitt „Radikalisierung als Symptom“ wird deutlich, was hinter den Gewalttaten und den Angriffen auf die Demokratie steht. Es ist nicht nur das Bedrohungspotential, das die Mehrheitsgesellschaft beunruhigt. Zu wenig wird beachtet, dass die Radikalisierten überwiegend junge Männer sind. Aus psychologischer Sicht muss die im 20. Jahrhundert verlängerte bzw. erweiterte Adoleszenszeit in die Analyse einbezogen werden. Denn in dieser Phase zwischen Kind und Erwachsenem sucht der junge Mensch nach Idealen, die ggf. radikal durchgesetzt werden möchten. Es gilt, das eigene Selbst entsprechend zu positionieren und zu sichern. Damit geht man gefährliche Risiken und Bewährungsproben für die eigene Anerkennung ein (S. 43). An diesem Punkt bieten sich fundamentalistische Glaubens- und Lebensformen an. Extreme Gruppen gehen auf die Verunsicherten zu und bieten ihnen Hilfe an. Das Leiden muss überwunden werden durch Einsatz für Gerechtigkeit – auch für sich selbst und gegen die Gesellschaft. So werden durch die Gruppe Würde und Allmacht erfahren. Der Weg dorthin ist gekennzeichnet durch Reue, innere und äußere Reinigung im Sinne einer Konversion. Dann löst sich sogar die Grenze zwischen Leben und Tod auf, so dass auch das Selbstopfer einen Sinn erhält. Der französische Untertitel deutet dies bereits an.
„Halten wir in jedem Fall fest, dass manche Kämpfer zunächst nicht auf der Suche nach Spiritualität oder religiöser Konversion sind. Sie wollen sich gegen die grausame Unterdrückung der syrischen Bevölkerung durch das Assad-Regime auflehnen. Für andere dient die Reise in den geheimnisvollen Orient als romantischer initiierender Prozess. Beim Lesen von Texten über die Kreuzzüge hat mich erstaunt, wie viele Ähnlichkeiten es zu den abenteuerlichen Aufbrüchen in den Dschihad gibt“ (S. 48).
Zum weiteren Verstehen ist aber der häufig benutzte Begriff des „Islamismus“ zu hinterfragen. Benslama macht an politischen Entwicklungen deutlich, dass man nicht von Islamismus im Sinne eines politischen Islam reden kann. Er macht das an Beispielen u.a. der Revolution im Iran 1979 und der Proklamation des Islamischen Staates von 2014 deutlich. „Die fundamentale Zielrichtung des Islamismus besteht [darin], die Unterordnung des Politischen unter das Religiöse so weit zu treiben, bis es darin verschwindet“ (S. 64).
In diesem Zusammenhang tritt der Übermuslim auf, der als Glaubenskämpfer das Reich Gottes hier und jetzt verwirklichen will (S. 67). Diese Entwicklung gewinnt seit den Lehren von Ibn Taymiyya (1263-1328) und durch die Erfahrungen mit dem Kolonialismus (seit Napoleon) an Fahrt und führt dazu, dass Religion und Politik miteinander identifiziert werden (S. 68). Das Begehren, das Politische auf das Religiöse zu reduzieren hat den Übermuslim hervorgebracht (S. 69). Ein solcher Mensch sieht, dass besonders in den westlich-aufgeklärten säkularen Gesellschaften Gott in der staatlichen Gewalt außer Kraft gesetzt worden ist (S. 81).
Man kann nun die Verhaltensweisen des Übermuslim bei den Gläubigen beobachten, für die es nicht ausreicht, die Religion im Rahmen der Tradition zu leben, nämlich gegründet auf dem Gedanken der Demut und Bescheidenheit. Benslama betont: “Einer der größeren Bedeutungen des Namens >Muslim< ist der Demütige. Das ist der fundamental ethische Kern des Islam. Beim Übermuslim dagegen handelt es sich darum, den Stolz des eigenen Glaubens vor der Welt zu manifestieren: >Islam pride<. Dieser Glaube wird in öffentliche Demonstrationen hineingetragen – Glaubenszeichen auf der Stirn, Gebet auf der Straße, körperliche und kleidungsmäßige Kennzeichen, rituelle Steigerungen und Vorschriften, die die kontinuierliche Nähe zu Allah bei jeder Gelegenheit herausrufen.“
(S. 93, eigene Übersetzung aus dem französischen Original, deutsche Ausgabe S. 84).
Die absolut gesetzte Deutungshoheit über die Aussagen des Koran wird zur „Waffe des Terrors in der Hand des personifizierten Übermuslims“ (S. 89).
Die Wirkungen sind verheerend und produzieren zugleich einen Fatwa-Wahn jedes sich dazu berufen Fühlenden, um Verbote und Abgrenzungen durchzusetzen. Eine Fatwa, ursprünglich ein religiöser Ratschlag, bietet nun die Möglichkeit, „Macht über das Bewusstsein der Gläubigen zu erlangen“ (S. 99). Da das Körperliche als Einfallstor des Dämonischen gesehen wird, gilt es „wieder die Kontrolle über die Triebbeherrschung der Muslime zu erlangen“ (S. 103). Extrem auffällig ist dabei, wie der Übermuslim sexuell reagiert. Der weibliche Körper macht ihm besondere Schwierigkeiten. So wird auf seltsamen Fatwa-Wegen die Frau zur Mutter und damit ent-erotisiert und ent-sexualisiert (außerdem gilt das Inzest-Verbot). Sexualität bedroht die umma, die Gemeinschaft der Gläubigen. Darum muss der Übermuslim alles daran setzen „die Gemeinschaft der Gläubigen vor der Frau als dem unkontrollierbaren sexuellen Objekt zu schützen“ (S. 112).
Bilanz
Dies alles klingt wenig beruhigend. Welche Möglichkeiten gibt es, diesen fundamentalistischen Extremen etwas aus der Kraft der islamischen Religion entgegenzusetzen?
Dieser aufregend geschriebene Essay bietet eine nüchterne Bilanz. Benslama kommt ohne die üblichen Klischees oder polemischen Abgrenzungen aus. Seine bleibende Hoffnung bezieht Benslama auf den „Arabischen Frühling“ von 2011. Er ist ein intimer Kenner der nordafrikanischen Entwicklungen. So scheinen sich trotz aller negativer Erfahrungen seit 2011 Hoffnungs-Möglichkeiten zu eröffnen. Dann hätte der Übermuslim – besonders in Ägypten und Tunesien – weniger Chancen zur Umsetzung seiner von Gewalt getränkten Ideale. Der Konflikt jedoch ist unausweichlich: Der  Islamismus ist eine "antipolitische Utopie". Darum versucht er in salafistischem Gewande die Auflösungserscheinungen der organischen religiösen Gemeinschaft, der „umma“, durch den (säkularen) Staat generell zu beseitigen.        
Die muslimischen Aufklärer allerdings wollen gar „kein politisches Projekt der Laizität“ (S. 130), also einer strikten Trennung von Staat und Religion. Sie engagieren sich für eine „Zivilität in Kultur und Gesellschaft“ (aaO), das bedeutet ein Leben in bürgerlicher Freiheit. Nur so können die „versteinerten Phantasmen“ der Umgebung beseitigt werden. Wahrhaftig kein leichter Weg ! Aber eine dringende Aufforderung, hier weiter zu denken, zugleich in Solidarität mit den Aufbrüchen des arabischen Frühlings.

Weitere Bücher von Fethi Benslama:
·        La psychanalyse à l'épreuve de l'Islam. Paris: Flammarion 2004.
Psychoanalyse des Islam. Berlin: Matthes & Seitz 2017, s.u.
·        La Virilité en Islam (codirection avec Nadia Tazi). La Tour-d'Aigues: L’Aube 1998 / 2004
·        La psychanalyse à l'épreuve de l'Islam. Paris: Flammarion 2004 
·        Déclaration d'insoumission: À l'usage des musulmans et de ceux qui ne le sont pas. Paris: Flammarion 2005. 
·        La contestation identitaire, L’école face à l’obscurantisme religieux. Paris: Max Milo 2006. 
·        Soudain la révolution ! De la Tunisie au monde arabe.. La signification d'un soulèvement. Paris: Denoël 2011.
·        La Guerre des subjectivités en Islam, Fécamp: Nouvelles Éditions Lignes 2014
·        L'idéal et la cruauté, subjectivité et politique de la radicalization. Fécamp: Nouvelles Éditions Lignes 2015

Vgl. auch das Interview mit Gilles Kepel: "Der politische Rechtsruck folgt ein Stück weit derselben Logik
wie die islamische religiöse Radikalisierung" Aus: Länderprofile, bpb 21.03.2017:
           
http://www.bpb.de/gesellschaft/migration/laenderprofile/245057/2017-interview-mit-dem-franzoesichen-politikwissenschaftler-gilles-kepel?pk_campaign=nl2017-04-05&pk_kwd=245057

Weitere Buchhinweise zu Martyrium und Selbstopferung (nicht nur) im Mittleren Osten

Reinhard Kirste

Rz-Benslama, 10.04.17 

Sonntag, 28. Januar 2018

Mohamed Aziz Lahbabi: Verständnis von Freiheit --- Ansätze islamischer Anthropologie (aktualisiert)






Mohamed Aziz Lahbabi


Mohamed Aziz Lahbabi Freiheit oder Befreiung?

Freiheit oder Befreiung?

Ein kritischer Versuch über die Freiheit bei Henri Bergson. Übersetzt, ergänzt und kommentiert von Markus Kneer

Islamkundliche Untersuchungen Band 334

Berlin: Klaus Schwarz Verlag
1. Auflage ()
Hardcover, 204 Seiten
ISBN 9783879974658
Verfügbarkeit: sofort lieferbar. 49.80 € 

Im Jahr 1956, zeit­g­leich mit der Unab­hän­gig­keit Marokkos, erscheint das Buch »Liberté ou libé­ra­tion? – Frei­heit oder Befreiung?« des jungen Philo­so­phen Mohamed Aziz Lahbabi (1923–1993), der als erster Marok­kaner den Doctorat ès-Lettres der Sorbonne erlangt. Der Schwer­punkt der Schrift liegt, anders als es der dama­lige Zeit­geist vermuten lassen könnte, nicht auf der Befreiung der Nation, sondern auf der Befreiung der mensch­li­chen Person – zugleich vom poli­tisch-kultu­rellen Kolo­nia­lismus Europas wie vom tradi­tio­nellen Patri­ar­cha­lismus der marok­ka­ni­schen Gesell­schaft. In Ausein­an­der­set­zung mit der fran­zö­si­schen Philo­so­phie der Mitte des 20. Jahr­hun­derts entwi­ckelt Lahbabi eine Philo­so­phie der Frei­heit, die den bisher in auto­k­ra­ti­schen Struk­turen lebenden Menschen einen Weg in ein selbst­be­stimmtes Leben zeigen will. Zugleich kriti­siert er einen in Abso­lut­heit gesetzten west­li­chen Frei­heits­be­griff, der den sozialen, poli­ti­schen und kultu­rellen Lebens­kon­text außer Acht lasse. 

Mohamed Aziz Lahbabi bekleidet seit 1959 als erster marok­ka­ni­scher Univer­si­tät­s­pro­fessor den Lehr­stuhl für Philo­so­phie an der neu gegrün­deten Univer­sität Mohammed V in Rabat. Ende der 1980er Jahre wird er für den Lite­ra­turno­bel­preis vorge­schlagen. Dieses Buch gehört zu den Grün­dungs­texten der modernen marok­ka­ni­schen Philo­so­phie und hat in seiner Frage­stel­lung bis heute rich­tungs­wei­senden Charakter.

Preview_title_1

Preview_title_2  <<<<<   INHALTSVERZEICHNIS
Zum Vergrößern auf die Bilder klicken !




Mohamed Aziz Lahbabi: Der Mensch: Zeuge Gottes. Entwurf einer islamischen Anthropologie. 
Ausgewählt, übersetzt und kommentiert von Markus Kneer. Schriftenreihe der Georges Anawati Stiftung, Band 5. Freiburg u.a.: Herder 2011, 224 S., Literaturauswahl, ausführliche Register
 --- ISBN 978-3-451-30346-3 ---
Der marokkanische Philosoph M. Aziz Lahbabi (1923–1993) dürfte außerhalb einiger Fachkreise in Deutschland ein weitgehend Unbekannter sein. Umso mehr ist das Engagement der Georges-Anawati-Stiftung zu würdigen, eine Auswahl aus seinem anthropologischen Werk zu ermöglichen. Der katholische Theologe und Islamwissenschaftler Markus Kneer, zugleich Beauftragter für den christlich-islamischen Dialog im Erzbistum Paderborn, hat in sorgfältiger Forschungsarbeit und Recherche die Texte selbst übersetzt und mit einleitend kommentiert. Zuerst gibt er als Herausgeber einen Überblick über Lahbabis Leben und Werk, dem die „intellektuelle Autobiographie“ des Philosophen folgt. Das erleichtert den Zugang insgesamt. Lahbabis zentrale Veröffentlichung „Der muslimische Personalismus“ (1964) und zwei weitere Essays sind damit zum ersten Mal in einer deutscher Übersetzung zugänglich.          
Das Hauptproblem liegt für den Philosophen Lahbabi darin, ob Christen und Muslime von denselben anthropologischen Voraussetzungen ausgehen, wenn sie vom „Menschen „ sprechen“. Die Würde des Menschen wird auch im Koran betont, wie wirkt sie sich jedoch konkret aus? Nun hat Lahbabi seinen islamischen Humanismus unter dem philosophisch-methodischen Einfluss von Henri Bergson (1859–1941) und Emmanuel Mounier (1905–1950) entwickelt. Das erlaubt ihm (Schwerpunkt des 1. Teils) im muslimischen Personalismus“ die Shahada als Grundlage für ein umfassendes Verständnis von Personalität zu nutzen, das sich als Brücke für das gesamte weitere Verstehen zwischen Orient und Okzident auswirkt und damit auch das griechische Denken und die Weiterentwicklung von Aristoteles bis Averroës mit ein bezieht: „Die shahada ist … zweipolig: Indem man >bezeugt<, bejaht man die Existenz Gottes, und das Bezeugen verweist auf die Bejahung der personalen Existenz des Zeugen; ein immerwährendes Hin und her zwischen Transzendenz und der Immanenz, dem Absoluten und der Endlichkeit, dem Spirituellen und Institutionellen, dem Metaphysischen und Psychischen“ (S. 77).
Im weiteren Verlauf, in dem Lahbabi die Balance von Körper und Seele betont, kommt auch die daraus sich ableitende Würde des Menschen zum Ausdruck. So folgt die auslegende Theologie – gewissermaßen um des Menschen willen – einem doppelten Wissenstyp, bezogen auf Wahrnehmung und Vernunft. Glaube an Gott als Erfahrung setzt gerade die Prüfung durch die Vernunft frei, und zwar im Stile des Idjtihad, einer Offenheit der Auslegung der Urkunde des Glaubens, des Korans. Diese bestätigt sich jedoch in der Weise des bewusst gelebten Glaubens und konkreten Handelns. In ihm entfaltet sich das Ich, das als bezeugendes gewissermaßen das cartesianische „cogito sum“ umdreht (S. 92). Die konstitutiven Gegebenheiten dafür werden von Lahbabi ontologisch und moralisch im Blick auf den Einzelnen und die Gesellschaft erläutert und immer wieder auf den Koran bezogen. Das Gewissen ist dabei „Widerschein der göttlichen Allgegenwart“ (S. 109).
Was im 1. Teil grundlegend angesprochen wurde, muss nun im 2. Teil überprüft werden, und zwar unter der Voraussetzung von Gottes absoluter Transzendenz in Korrelation zur Offenbarung unter menschlichen Bedingungen. Man fühlt sich in der hier auftretenden Spannung an die unterschiedlichen theologischen Entwürfe von Paul Tillich einerseits und von Karl Barth andererseits erinnert. Weil Gott erfahren wird und es keine wissenschaftlichen Beweise für seine Existenz geben kann, nötigt sich auch die Frage des Atheismus auf. Da wir uns jedoch in einer Welt befinden, die wir nicht erschaffen haben, kann der Mensch als Person nicht als „eine geistige Monade“ (S. 120) angesehen werden, vielmehr ist Balance nötig – im Sinne einer Synthese von Körper und Geist. Das muss konkret auch auf die Stellung der Frau übertragen werden, gerade weil die Shahada keine Ungleichheiten zwischen Mann und Frau kennt. (S. 126), es also auch Prophetinnen gegeben hat. Eine ähnliche emanzipatorische Koranauslegung führt Lahbabi im Blick auf die Sklaverei und die Behandlung von Minderheiten vor. Hier spürt man besonders Lahbabis antikoloniales Engagement im Blick auf die Menschen der sog. Dritten Welt (vgl. Autobiographie, oben S. 51). Im Blick auf die Gegenwart könnte die erneute Betonung eines islamischen Personalismus aus der Sackgasse herausführen, in die sich die islamische Theologie durch das Versinken in Formeln und den Kult des Vergangenen selbst manövriert hat – ganz im Gegensatz zu den mystischen Strömungen des Sufismus. Hier geht es dann auch um die Auseinandersetzung mit der „zirkularen Vision von Geschichte“ (S. 135) in der Art von Spengler, Toynbee, Sorokin und Nietzsche. Die Reformation des Islam, die Salafiyya, führt zwar auch „Zurück zu den Quellen“ – ähnlich wie in der abendländischen Renaissance – aber sie öffnete wieder „das Tor“ des Idjtihad, und zwar durch die Begegnung mit dem Abendland und als revolutionäre Kraft. Dass heute die Salafisten im Westen durchweg als Rückwärtsgewandte gesehen werden, ist ein Problem, das dem Salafismus in seiner Variationsbreite nicht gerecht wird. Denn hier gilt auch, dass die Philosophie als Schwester der Religion (Averroës) nötig ist, um sich den verschiedenen Aspekten der Wahrheit anzunähern. 
Bei allen Erfahrungen von Bösem, Schuld und Angst aber siegt letztlich die Hoffnung im Sinne einer Öffnung für die Zukunft, in der Gottes- und Menschenliebe eine korrelative Einheit bilden, und damit indirekt an das Zitat Jesus aus der (hebräischen) Bibel in Lukas 10,27-28 erinnernd.
Die beiden anderen Essays über die den Menschen motivierende Offenbarung
(S. 165-191) und einen aus dem Mittelmeer aufsteigenden islamischen Humanismus (S. 192-206) machen deutlich, wie die diskursive Koran-Auslegung und das personal ausgerichtete Denken Lahbabis eine Menschlichkeit ermöglichten, die auf Güte (rahma) aufbauen und einen Humanismus realisieren, der eine „göttliche Garantie hat“ (S. 206).
Es erweist sich als Vorzug, dass Lahbabi arabisch und französisch schreibt, ja dass er das Mittelmeer als eine humanistische Kraftquelle nimmt, zu der der Islam in Begegnung und Auseinandersetzung mit der philosophischen Welt der Antike, dem Judentum und Christentum einen wesentlichen Beitrag zu einer Humanität mit Gott geleistet hat. Wie wichtig ist es darum, diese islamische Stimme im Blick auf die gemeinsame Zukunft der Menschen gerade in den Debatten zwischen Orient und Okzident zu hören!
Reinhard Kirste
Rz-Lahbabi, 31.03.11 

Freitag, 26. Januar 2018

Salzburger Hochschulwochen 2017: Öffentlichkeiten

Martin Dürnberger (Hg.):
Öffentlichkeiten
Jahrbuch im Auftrag 
des Direktoriums der Salzburger Hochschulwochen

Innsbruck-Wien: Tyrolia 2018, 268 S., Abb.
--- ISBN 978-3-7022-3653-3 ---

Mit diesen Beiträgen der Salzburger Hochschulwochen 2017 kommt ein beunruhigendes Thema zur Sprache: Eine Radikalisierung der medialen Öffentlichkeit.
So verschwindet auch zunehmend die Unterscheidung von öffentlich und privat.
Twitter, Facebook u.a. werden skrupellos von vielen als Pranger gegen missliebige Personen genutzt. Wo bleiben Vernunft und Rationalität?
Die 2017 in Salzburg gehaltenen Vorträge sind durch nachdenkliche Analysen und Versuche einer ethischen Orientierung geprägt. Auch die Kirchen können hier Wesentliches zu einer humanen Orientierung beitragen.


  • Verständigung in Zeiten von social media
     
    und „Lügenpresse“-Vorwürfen
  • -- Verlagsinformation --
  • Im Jahr 2017 widmeten sich die Salzburger Hochschulwochen dem Thema mediale und nicht-mediale Öffentlichkeiten. Unsere Identitäten, Geschichten und Diskurse sind wesentlich von den Öffentlichkeiten geprägt, in denen wir sie konstruieren, erzählen und argumentieren. Wer wir sind und sein wollen, welche Argumente triftig sind und welche nicht – das sind individuelle und gesellschaftliche Fragen, die durch mediale und nicht-mediale Öffentlichkeiten mitbestimmt werden. 

    Diese Öffentlichkeiten sind in vielfältigen Transformationen begriffen: Die Grenze zwischen öffentlich und privat verschwimmt in den Zeiten der social media in neuer Weise. Das gedruckte Wort als Leitmedium gesellschaftlicher (Selbst-)Verständigung gerät durch die viel zitierte Bilderflut aus dem Netz unter Druck. Niemals war es leichter, vom bloßen Medienkonsumenten zum -produzenten zu werden, gleichzeitig überblicken wir die Möglichkeiten und Gefahren neuer Medientechnologien noch nicht. Das Internet erschließt uns zwar neue Welten, aber seine filter bubbles separieren uns zugleich. Öffentliche Debatten werden weltweit von Populisten besetzt, während die „Lügenpresse“-Vorwürfe auf den fragilen Zusammenhang von demokratischen Prozessen und journalistischen Kulturen aufmerksam machen. 

    All diese Beobachtungen lassen sich in den Kontext einer „entgleisenden Moderne“ (Habermas) einsortieren. Was tragen die Versprechen von Partizipation, Selbstbestimmung und Rationalität, die das Konzept „Öffentlichkeit“ einst prägten, heute noch aus? Und was bedeuten all diese Transformationen für Religion, die in der Moderne stets zwischen öffentlicher Präsenz und privater Praxis schillerte? 


                 Themen der Vorträge   







































    Mehr zu den AutorInnen
    Klaus Birnbäumer, DER SPIEGEL, Hamburg
    Markus Gabriel, Universität Bonn
    John-Dylan Haynes, Charité Berlin
    Marianne Heimbach-Steins, Universität Münster
    Norbert Hermanns, Landmarken AG, Aachen
    Matthias Kopp, Deutsche Bischofskonferenz, Pressesprecher
    Hartmut Rosa, Universität Jena
    Annette Schavan, Rom
    Eberhard Schockenhoff, Universität Freiburg
    Kristina Stoeckl, Universität Innsbruck
    Lukas Wiesenhütter, Universität Paderborn

  •   Lizenz: CC

Mittwoch, 24. Januar 2018

Rabi Jabir: Traum und Wirklichkeit - eine Geschichte aus dem islamischen Mittelalter

Rabi Jabir:
 Die Reise des Granadiners 
  Übersetzung aus dem Arabischen von Nermin Sharkawi
  Berlin: Hans Schiler 2013, 176 S. --- Erzählung --- 
  Arabische Originalausgabe 2005
  (auch als Taschenbuch erschienen)

--- ISBN: 978-3-89930-380-3 ---- 


Der Schriftsteller Rabi Jabir ist 1972 in Beirut/Libanon geboren. Er studierte Physik an der dortigen Amerikanischen Universität. Er ist Redakteur der wöchentlichen Kulturbeilage Afaaq der Tageszeitung Al-Hayat, einer panarabischen Tageszeitung in London für den arabischen Raum. Seit 1992 hat er 16 Romane veröffentlicht.  Rabi Jabir wurde 2012 mit dem „Arabic Booker Prize“ ausgezeichnet.

Einleitung:                               
Rabi Jabir erzählt die Geschichte des jungen Mannes Muhammad Abu Hamid, genannt der Granadiner, der sich getrieben von nächtlichen Visionen und aus Angst vor der Wahrheit auf den Weg macht, um seinen verlorenen Bruder Arrabi verzweifelt zu suchen. Nach einer abenteuerlichen Irrfahrt durch Spanien und Nordafrika führt seine Reise bis nach Jerusalem.

Hintergründe:
Der Roman spielt zur Zeit des 11. Jahrhunderts und zeigt die Lebensweise der Menschen im maurischen Spanien. Gebildete Araber leben  in Andalusien im Wohlstand. Medizinische Ratgeber, Rezepte für feine Speise und Heilmethoden mit Kräutern  werden aufgezeigt. Der Autor beschreibt die historischen Ereignisse im mittelalten Spanien, des islamischen Königreichs Andalusien und der christlichen Fürstentümer. 1085  erobert König Alfons VI das islamische Königreich Toledo. Die Berberfeldzüge gegen die Franken reichen bis Valencia. Die Almoraviden belagern Sevilla und nehmen Granada, Malaga und Córdoba ein. Diese Kriege, ebenso wie die christlichen Kreuzzüge nach Jerusalem auf Anordnung des Papstes, ziehen den jungen Mann in ihre Wirren.

Inhalt:
Im Jahre 1091 lebt der Hirtenjunge Muhammad mit seiner Familie, seinem gelähmten Vater, seiner  Mutter, seinem Großvater Suleiman, seinen zwei Schwestern und seinem einzigen Bruder in Granada. Er ist 11 Jahre, sein Bruder Arrabi 13 Jahre alt. Sie hüten die Schafe im Gebirge und wechseln sich beim Hüten ab, denn einer von beiden geht jeweils zum Jagen. Während Muhammad aufpassen soll, schläft er ein. Als Arrabi zurückkehrt und ihn weckt, fehlt ein Schaf. Er läuft in den dichten dunklen Wald, um das vermisste verirrte Tier zu suchen. Es wird Nacht, Arrabi kommt nicht zurück.  Muhammad ist verzweifelt, immer wieder ruft er laut seinen Namen. Arrabi bleibt verschwunden. Die Trauer ist groß. Die Familie verliert die Hoffnung auf eine Wiederkehr, verfällt  in Trübsal und Schwermut.

Acht Jahre später, im Jahre 1097: Muhammad arbeitet inzwischen als Kopist im Laden des Scheichs Al Walid und schreibt medizinische Bücher ab. Ein Händler aus Córdoba, der mit dem Kermes-Farbstoff: https://en.wikipedia.org/wiki/Kermes_(dye) und Kräutern Handel bis Valencia betreibt, betritt den Laden und verwechselt ihn mit seinem Bruder Arrabi. Der Vermisste arbeitet angeblich als Gewürzhändler in Valencia, und er  kommt einmal jährlich im Herbst nach Córdoba. 
Das lässt ihm keine Ruhe. Ende des Sommers macht sich Muhammad, getrieben von Visionen, Angst und Schuld, auf der Suche nach der Wahrheit. Zu Pferd nimmt er den Weg nach Córdoba.
Er durchquert  unwegsame Wälder und Flüsse, abgebrannte Olivenhaine, verrußte Dörfer, deren Bewohner die Pest dahingerafft hatte.
In Córdoba angekommen, bleibt er bei dem Händler Scheich Abu Yusuf. Dort erlernt er die Kunst der Heilbehandlung mit Kräutern. Und er wartet und wartet, dass sein Bruder komme. Nach einem Jahr vergeblichen Hoffens bricht er nach Valencia auf.
Unterwegs wird er von Franken überfallen, sein Pferd wird getötet. Er überlebt einem glücklichen Umstand zufolge, da er einem Spanier in der Kirche ähnlich sieht. Er  wird als Gefangener in Valencia in ein Verlies gesperrt. Immer wieder überfallen ihn auch im Wachzustand Alpträume und Schuldgefühle. Miguel, ein Spanier, der seine Lebensgeschichte hört, weist ihn auf seinen Fehler hin: Er hätte ein Feuer anzünden müssen, um seinem Bruder den Weg zurück zu zeigen.
Die einzige Möglichkeit zur Freilassung, besteht darin, als Sklave auf ein spanisches Kriegsschiff gebracht zu werden. Er muss nun mit anderen Sklaven eine Galeere rudern. Auf dem Mittelmeer nahe Sardinien umzingeln plötzlich drei Berberschiffe die Kreuzfahrer. Die Berber überfallen sie und befreien die Sklaven. Muhammad bleibt ein Jahr in Marokko. Hier erhält er den Namen Granadiner. Er aber will frei sein.
Er zieht weiter. Seine Reise endet in Tunis. Dort bleibt er sieben Jahre. Er arbeitet erfolgreich als Olivenfabrikant von andalusischen Oliven. Dann baut er ein Haus und heiratet die jüngste Tochter des Scheichs. Sie bekommen einen Sohn und eine Tochter.
Jedoch seine Träume quälen ihn, und Melancholie und Schwermut betrüben seinen Verstand, immer in Gedanken an seinen verschollenen Bruder.  Visionen seines Schicksals überdecken die heiteren Tage der Kindheit.
Eines Tages erzählen ihm Händler aus Jerusalem, dass dort ein Kaufmann die gleichen andalusischen Oliven verkaufe wie er.  Muhammad ist bestürzt von dieser Nachricht. Er findet keine Ruhe.  Er ist 33 Jahre alt.15 Jahre ist er umhergeirrt. Nach hartem Ringen und Kampf mit seinen Gefühlen verlässt er seine Familie. Er reist nach Tripolis, Alexandria und Gaza. 1113 erreicht er Jerusalem, um seinen Bruder dort zu suchen. Muhammad findet seinen Bruder Arrabi in Antakya in der Türkei, findet Muhammad seinen Bruder wirklich?   

Bewertung:
Das außergewöhnliche Buch ist sehr empfehlenswert zu lesen. Rabi Jabir zeichnet gekonnt ein spannendes Wechselspiel aus realer Handlung und Traumsequenzen.  
Die orientalische Erzählstruktur, teilweise verschachtelt  und mit rückblickende Sequenzen,  fasziniert den Leser. Er wird gefesselt vom verwirrenden Widerstreit der Gedanken zwischen Traum und Wirklichkeit. Das Buch vermittelt Weisheit  in Gedankenfülle.
Besonders zu erwähnen ist die Erkenntnis, wie sie in der Koran-Sure 2, 286 („Die Kuh“) formuliert wird: „Gott mutet keiner Seele mehr zu als sie kann….“

Weitere Veröffentlichungen von Rabi Jabir (aus Wikipedia.en)
  • 1992: Sayyid al-Atmah (سيّد العتمة, Master of Darkness)
  • 1995: Shay Aswad (شاي أسود, Black Tea)
  • 1996: Al-Bayt al-Akhir (البيت الأخير, The Last House)
  • 1996: Al-Farasha al-Zarqa (الفراشة الزرقاء, The Blue Moth)
  • 1997: Ralf Rizqallah fi al-Mir'at (رالف رزق الله في المرآة, Ralph Rizqallah in the Looking-Glass)
  • 1997: Kuntu Amiran (كُنْتُ أميراً, I was a Prince)
  • 1998: Nazra Akhira ala Kin Say (نظرة أخيرة على كين ساي, A Last Look at Kin Say)
  • 1999: Yusuf al-Inglizi (يوسف الإنجليزي, Yusuf the Englishman)
  • 2002: Rahlat al-Gharnati (رحلة الغرناطي, The Journey of the Granadian)
    • 2005: Translated to German under the title Die Reise des Granadiners (as Rabi Jabir)
  • 2003: Bayrut Madinat al-'Alam: Al-Juz' al-Awwal
            (بيروت مدينة العالم: الجزء الأول, Beirut City of the World: Part One)
  • 2005: Byretus Madinat Taht al-Ard (بيريتوس: مدينة تحت الأرض, Byretus Underground City)
  • 2005: Bayrut Madinat al-'Alam: Al-Juz' al-Thani (بيروت مدينة العالم: الجزء الثاني, Beirut City of the World: Part Two)
  • 2006: Takrir Mehlis (تقرير مهليس, The Mehlis' Report)
  • 2007: Bayrut Madinat al-'Alam: Al-Juz' al-Thalith
              (بيروت مدينة العالم: الجزء الثالث, Beirut City of The World: Part Three)
  • 2008: Al-I'tirafat (الاعترافات, Confessions)
  • 2009: America (أميركا, America)
  • 2010: The Druze of Belgrade (دروز بلغراد)
  • 2011: Birds of the Holiday Inn (طيور الهوليداي إن)

_____________________________________________________________________________________________

 Fakultät Humanwissenschaften und Theologie, Institut für Ev. Theologie  TU-Dortmund
Seminar WiSe 2017/2018: Der Orient in Europa – Konsequenzen für die Schule 
Dozent  Dr. Reinhard Kirste --- Bearbeitung: Waltraud Janisch-Sassen. 16-01-2018  

                                                                                  

Dienstag, 23. Januar 2018

Die USA und der globale Kapitalismus

Michael Hudson: Finanzimperialismus - Die USA und ihre Strategie des globalen Kapitalismus
Aus dem Amerikanischen von Stephan Gebauer
und Thorsten Schmidt
Stuttgart: Klett-Cotta 2017, 512 S.
---
ISBN-13: 978-3608947533 ---

Die USA stiegen im 20. Jahrhundert zur führenden Weltmacht auf. Wie wichtig dafür das Währungssystem mit dem Dollar als Leitwährung war, beschrieb der US-amerikanische Ökonom Michael Hudson schon 1972 in seinem Buch "Finanzimperialismus". Nun ist sein überarbeitetes Werk ins Deutsche übersetzt worden. Als Banker hatte er Zugang zur Finanzelite und zum Weißen Haus (s. Quellen im Anhang S. 439 ff.). Er merkt einleitend im Frühjahr 2016 für die deutsche Ausgabe an:  „Deutschlands Wahl - Die globale Finanzkrise der Gegenwart hat ihren Ursprung im Ersten Weltkrieg und seinen Folgen.“(S. 17).
Früher bezog sich Imperialismus auf ein militärisches Vorgehen: Länder schickten Kanonenboote, kolonisierten und kontrollierten andere Staaten. Der Finanzimperialismus funktioniert ohne Armeen, doch Kapitel 3 „Die Vereinigten Staaten verschmähen die globale Führungsrolle“ endet: „In den Krieg zu ziehen war leichter als ein alternatives Finanzsystem zu errichten“ (S. 119). Bereits 1913 hatten die USA die US-Zentralbank Federal Reserve (FED) gegründet. Bis 1917 hielten sich die USA aus der Weltpolitik heraus und verlagerten Entscheidungen mit weltweiter Wirkung von der Politik auf die Finanzen. Die Weigerung der Vereinigten Staaten, ihre Forderungen den Reparationseinnahmen der europäischen Verbündeten anzupassen, bewirkte, dass diese ebenfalls ausbluteten. Das wirtschaftliche Desaster Deutschlands hatte für Deutschland seit 1919 schlimme Folgen. Die meisten Menschen in Deutschland verstanden nicht,
was in den 1920er Jahren geschah.
Die Debatte auf der einen Seite: Keynes vertrat die Meinung, Deutschland könne die hohen Reparationsforderungen nicht leisten und die Alliierten könnten ihre Auslandsschulden nicht bezahlen. Auf der anderen Seite standen Jacques Rueff, Bertil Ohlin und Friedrich Hayek.

Vgl. John Maynard Keynes:The Economic Consequences of  the Peace, London 1919;
deutsch: 
Krieg und Frieden. Die wirtschaftlichen Folgen des Vertrages von Versailles
Berlin [1920],  2006, 3. Aufl.

Washington hatte den Verbündeten im Ersten Weltkrieg ursprünglich versichert, sie müssten sich keine Sorgen über die Rückzahlungsbedingungen für Kriegskredite machen. Ein Senator aus Iowa  erklärte: "Frankreich kam uns in der Stunde unserer größten Bedrängnis mit Geld, mit einem Teil seines Heeres und seiner Marine zu Hilfe. Es ist zu bezweifeln, dass wir ohne die Hilfe Frankreichs unsere eigene Nation bekommen hätten. (...) Ich möchte nicht erleben, dass diese Regierung Frankreich auffordert, den Kredit zu tilgen, den wir ihm gewähren werden."
Doch US-Finanzminister Andrew Mellon erklärte später, dass die Vereinigten Staaten mit einigen Transaktionen im Krieg eine Rendite von 80 Prozent erzielt hatten. Nach dem Ersten Weltkrieg besaßen die USA etwa 50 Prozent der globalen Goldreserven.
Nach dem Börsencrash 1929 und der andauernden Wirtschaftskrise bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges beschlossen die USA,ihre Währung an das Gold zu binden. Bis Ende der 1940er Jahre hielten die USA rund 75% der globalen Goldreserven. Nach dem Zweiten Weltkrieg vergrößerten die USA ihren globalen Einfluss: Denn im Währungsregime von Bretton Woods bildete der Dollar die Ankerwährung, und die Vereinigten Staaten verfügten bei den neu geschaffenen Institutionen – dem Internationalen Währungsfonds und der Weltbank – über ein Vetorecht.
Detailreich wird geschildert wie ab Beginn des Koreakriegs im Juni 1950 das gesamte US-Zahlungsbilanzdefizit den Ausgaben für das Militär geschuldet war. Ab den 1960er Jahren fluteten die USA durch den  Krieg gegen Vietnam die übrige Welt mit Dollars, um ihr Haushaltsdefizit zu finanzieren. Frankreich und Deutschland begannen daraufhin, Dollar in Gold zu tauschen.  
Als sich die Exportpreise für amerikanisches Getreide nach der Aufgabe des Goldstandards vervierfacht hatten, erhöhten die Erdöl exportierenden Länder ihre Rohstoffpreise entsprechend.

Hudson dazu:
"In einer Sitzung im Weißen Haus erfuhr ich, dass amerikanische Diplomaten den Regierungen Saudi-Arabiens und anderer Länder der Region zu verstehen gegeben hatten, diese könnten für ihr Öl so viel verlangen, wie sie wollten, aber die Vereinigten Staaten würden es als kriegerischen Akt deuten, würden sie ihre Einnahmen aus dem Erdölexport nicht in Vermögenswerten anlegen, die in US-Dollar denominiert waren".

Der Iran wollte 1979 mit dem Sturz des Schahs seine Auslandsschulden über die Chase Manhattan Bank bezahlen. Aber Chase lehnte es ab, die Investoren auszuzahlen, die iranische Staatsanleihen hielten. Hillary Clintons Strategie war später, Russland zu provozieren und die Regierung in Kiew zu unterstützen. Daher haben sich Russland, China und der Iran angenähert, und zwar in der Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit. Ziel ist es, aus dem Dollar-Gebiet auszubrechen. Sie wollen die US-Währung nicht mehr nutzen, um ihren Handel abzuwickeln, und weniger Dollar in den Bilanzen ihrer Zentralbanken halten.
Der einzige Weg zum Aufbau des € als Weltwährung wäre es, EU-Staaten die Schuldenaufnahme zu gewähren und zu erlauben, Anleihen auszugeben, die von anderen Mitgliedsländern gekauft werden dürfen. Aber die USA wollen keinen Rivalen und an der Wall Street  wird die »Euro-Zone« als »Schuldenzone« bezeichnet.

Der Autor und seine Zielsetzung:
Michael Hudson gehört zu den Beratern von Occupy und betätigt sich ausgiebig als Schwarzmaler unseres weltweiten Finanzsystems. 2006 prophezeite er, die Kredit  getriebene Immobilienblase in den USA werde 2007 platzen. Hudsons Hauptargument lautet: Viele Kredite dienten nicht produktiven Zwecken, sondern dazu, bestehende Assets zu kaufen, also Immobilien, Aktien, Unternehmen etc. Diese Kredite erhöhten zwar das Vermögen (auch die Schulden), nicht aber die Produktivität.
Mit seiner Fundamentalkritik des kapitalistischen Finanzsystems ist ein lesenswertes Werk gelungen. Doch das Buch endet in Kapitel 14 mit "Die monetäre Frühjahrsoffensive von 1973" (S. 399ff).

Als interessantes Werk zum herrschenden Finanzsystem ist das vorliegende Buch spannend geschrieben und macht der angelsächsischen Geschichtsschreibung Ehre.

Ausblick
Wer wissen will, wie es weitergeht, liest am besten
Michael Hudson: Der Sektor: Warum die globale Finanzwirtschaft uns zerstört.
Übersetzt von Thorsten Schmidt und Dorothee Merkel, Klett-Cotta, Stuttgart, 2016, 670 S.

Doch Alternativen wie Hudson vorschlägt, überzeugen kaum: mehr Steuern, mehr staatliche Banken und  Regulierung, die Rückführung des Kreditwesens auf seine Rolle als Finanzier der Realwirtschaft. Denn in Deutschland hatten die staatlichen Landesbanken in der Finanzkrise durch Fehlspekulationen Milliardenverluste eingefahren: Sachsen LB, West LB, usw. --- Details: Was-aus-den-resten-der-westlb-wird
Nun waren die US- halbstaatlichen Immobilienkreditinstitute Freddie Mac und Fannie Mae waren Zentrum der Krise im Jahr 2008 --- Details: Did-fannie-and-freddie-cause-the-mortgage-crisis
Die USA haben sich vom größten Gläubiger zum Schuldner entwickelt. Die Staatsschulden 2000 = 5,6 Billionen Dollar sind durch die Finanzkrise 2007 = 64% auf 2017=108%, also 20,5 Billionen Dollar gestiegen. Als das Anheben der Schuldenobergrenze misslang, wurde am 20. Januar 2018 zum ersten Mal seit 2013 der "Shutdown" ausgelöst.
Nun müssen Teile der US-Bundesregierung  des öffentlichen Dienstes ihr Handeln einstellen.
Dies könnte
die Handlungsfähigkeit hindern, und f
alsche Entscheidungen können den Status des US-Dollars und US-Treasuries gefährden. Den höchsten Bestand an US-Staatsanleihen halten übrigens
Japan mit 1,1 Billionen Dollar
und China mit 1.049 Milliarden US-Dollar.

Eckhard Freyer, Bonn
Er war bis zu seiner Emeritierung
Professor für Wirtschaftswissenschaften an er Hochschule Merseburg
Details: https://www.xing.com/profile/Eckhard_FREYER