Dienstag, 27. Februar 2018

Milad Karimi: Gottes-Berührungen


Ahmad Milad Karimi:
Warum es Gott nicht gibt und er doch ist.

Freiburg u.a.: Herder 2018, 223 S.
mit einer Liste der zitierten TV-Serien und Filme (!)
--- ISBN 978-3-451-31310-3 ---
Bereits der Titel des Münsteraner Islamwissenschaftlers Milad Karimi (geb. 1979) erinnert an eine Formulierung Dietrich Bonhoeffers, die er in seinen Gefängnisbriefen „Widerstand und Ergebung“ niederschrieb: „Den Gott, den es gibt, gibt es nicht“. Dahinter steht der Gedanke, dass Gott ein wirkendes Geheimnis in seiner Offenbarung ist.
Außerdem: Welche Konsequenz hat es für das persönliche Leben, wenn es sozusagen objektiv Gott nur irgendwie und irgendwo gibt? Dietrich Bonhoeffer betonte, dass Gott mitten in unserem Leben jenseitig ist. Es geht darum, Religion nicht in starren Dogmen und Ritualen zu leben.
Hier entsteht durchaus eine Nähe zu Karimis Aussage:
„Die Religion kann Träger der Kultur sein, den Menschen zum besten erheben, aber sie kann auch Träger der Gewalt und des Übels sein … Nicht die Religion ist es, die dieses tut und jenes unterlässt, sondern wir selbst sind es, die gefragt sind, unsere Religiosität im besten Sinne mit dem Leben zu verflechten“ (S. 25). Nun zeigen die gegenwärtigen Debatten, dass man dem Islam am wenigsten zutraut, dies in friedlichem Sinne zu tun. Dem widerspricht allerdings die vorhandene Kulturgeschichte des Islam mit ihren unterschiedlichen Entwicklungssträngen.
Die Ambivalenz des Religiösen
Unbestreitbar bleibt aber die fehlende Eindeutigkeit des Religiösen – gerade angesichts der schockierenden Bilder von Gewalt, Frauenmissachtung und Diskriminierung religiöser Minderheiten. Dies ist für Karimi nun der Anknüpfungspunkt, den (hintergründig) religiösen Ausprägungen der Gegenwart nachzugehen. Dazu wählt er ein auf den ersten Blick ungewöhnliches Verfahren, nämlich bestimmte populäre (weitgehend amerikanische) TV-Serien unter diesen Gesichtspunkten als Belege für problematische religiöse Muster und Haltrungen und Wunschvorstellungen heranzuziehen. Es ist schon erstaunlich, wie vielfältig Gottesvorstellungen dort zur Sprache und ins Bild kommen: Game of Thrones, The Preacher, Die Simpsons, The Wire, Breaking Bad, Walking Dead, Mad Men, Homeland, Sopranos Hand of God, Der Pate u.v.a.m. Das ermöglicht zugleich, Rückschlüsse der besonderen Art zu ziehen. Anders formuliert: „Wenn sich die Religion auf eine bloß kulturelle Größe reduziert hat, die wir heute genauso gut, aber ohne irgendwelche aufgesetzten oder irrationalen Gebote und Verbote im Café, Kino oder Disco erleben können, dann hat die Religion tatsächlich nur noch eine antiquarische Bedeutung“ (S. 30). Dem ist jedoch keineswegs so, denn mit der Suche nach dem Sinn des Lebens ist das entscheidend Religiöse angesprochen, und hier „steht der Mensch als Mensch in Frage“ (S. 31). Im Kontext von Schleiermachers Votum von der Religion als Sinn und Geschmack für das Unendliche (S. 32), unternimmt Karimi nun den Nachweis, dass gerade der Islam darauf aufmerksam macht, dass Gott ein Geheimnis bleibt. Man kann Gott nicht „haben“, aber Religion lehrt, das Innere offenzuhalten, um zu hören und zu spüren, wie und wo sich Gott ereignet und sich damit gegenwärtig schöpferisch erweist.

Wer meint Gott habhaft zu werden, macht ihn nämlich zu einem Supergötzen, der aber die Hilfe des Menschen braucht, um „seinen Willen durchzusetzen. Wie könnte er auch sonst in die Welt eingreifen?“ (S. 44). So sehen sich die (islamistischen) Terroristen als Vollstrecker des Willens Gottes. Dass diese Mentalität auch in der Zeichentrickserie der Simpsons und anderen Serien auftaucht, zeigt die weite Verbreitung eines solchen Glaubensmusters. Und es ist auch nicht neu, dass sich brutale Gewaltausübung auf Gott beruft, so als müsse der Mensch Gott beschützen. Es ist vielmehr umgekehrt: Der im Islam Lebende fühlt sich von Gott getragen und beschützt (S. 48).
Rationalität und Inspiration im Islam
Aber die Erfahrungen des (alltäglichen) Lebens scheinen einen solchen Glaubensgrundsatz nicht selten zu konterkarieren. Weil aber die Suche nach (ewigem) Glück und Heil menschliche Zielvorstellungen derart stark beherrschen, sind Konflikte zwischen dem Vorfindlichen und dem Gewünschten geradezu vorprogrammiert. Der Tod ist dabei die schlechteste Lösung (S. 61). Der Islam aber ist eine Religion des Lebens und der Liebenden, deren Lebenskraft sich im Gebet immer wieder aufs Neue realisiert, weil im betenden Gottesgedenken der Mensch zu sich selbst zurückfindet. Darauf haben die Mystiker wie Rumi und Ibn `Arabi immer wieder aufmerksam gemacht: „Das Band, das den Menschen an Gott bindet, ist die Liebe“ (S. 77). Kann eine solche Religion durch die Auswüchse wie des „Islamischen Staates“ oder durch Karikaturen wirklich gelästert werden? Allerdings ließ und lässt Religion immer wieder Emotionen hochkochen. So ist Aufklärung im Sinne von Desillusionierung nötig, um jeglichen Schein zu überwinden und zur Wahrheit zu kommen. Religionskritik hat hier das Christentum notwendigerweise durchleben müssen. Für den Islam liegt die Sache jedoch anders, denn die islamische Philosophie und Theologie hat sich mit der Philosophie der Antike rational auseinandergesetzt und ist  zugleich vom Koran und dem Propheten Mohammed inspiriert (S. 93f). Der Islam – so zeigt die Geschichte – unternimmt die Aufklärung auf dem Weg der Ästhetik, denn die Schönheit führt „zur adäquaten Freiheit“ (S. 96) – ja Gott selbst ist schön.
Reinigung von den objektivierenden Gottesbildern und der Koran als Ereignis
Wenn die Leser/innen so weit gekommen sind , hat sich eine Frage für sie im Grunde bereits gelöst: Es gibt explizit keinen Unglauben. Und der neue Atheismus eines Hitchens oder Dawkins geht von Gläubigen als  primitiven und unfreien Menschen aus. Und diejenigen, die sich angesichts der Absurditäten und Sinnlosigkeiten des Lebens engagiert für den Tod Gottes einsetzen oder denen es gleichgültig ist, gehen von einem Gottesverständnis aus, dass es Gott irgendwie gibt. Sie machen damit ihr begrenztes Verständnis zum Maßstab des Unverrechenbaren. Sie überheben sich quasi bei der Frage nach Gott. Von daher ist die Reinigung von allen theistischen Gottesbildern, die wir verinnerlicht haben, notwendig. Das ist in anderer Weise durchaus a-theistisch. Karimi bezieht sich auf den französischen Philosophen Jean-Luc Nancy mit seinem „Atheistisch-Werden des Christentums“ (S. 113). Karimi hätte auch die Theologin Dorothee Sölle nennen können. „Atheistisch an Gott glauben“ (Olten [CH], Freiburg/Br. 1968). Hier wird deutlich, dass angesichts eines unverfügbaren Gottes philosophisch-theologische Hilfestellungen nötig sind. Versteht man den Koran als Gottes Wort, dann bahnt sich ein entscheidendes dialektisches Verständnis an, nämlich: „Gottes Anwesenheit – dass es ihn nicht gibt und er doch ist – wird offenbar, indem sich der Koran ereignet.
Der Koran ist der Versuch, mit dem Gott ins Offene, in die Wirklichkeit menschlichen Lebens, zu kommen“ (S. 122). Um mit dem ev. Theologen Gerhard Ebeling zu sprechen: Die Offenbarung Gottes in der Heiligen Schrift ist ein Wortgeschehen, in dem Gott aktuell erfahrbar wird. So lässt sich die Offenbarung in den Texten des Korans eben nicht nur als eine Buchwerdung verstehen, sondern als eine lebendige, nicht abgeschlossene Beziehung. Im Abschnitt über die Auseinandersetzung mit dem (Real-)Theismus und unter Berufung auf Sören Kierkegaard bringt es Karimi auf den Punkt: „Gott spricht zur Nicht-Existenz, und insofern kommt sie in die Existenz. Doch die Existenz der Welt stellt keine Existenz neben der Existenz Gottes dar“ (S. 176). Ganz im Sinne des Mystikers `Ibn Arabi, dass es kein Sein außer Gott gibt, folgert Karimi darum, dass die Schöpfung als vergängliche, also dem Tod geweihte, da ist, aber: „Die frohe Botschaft besteht darin, dass Gott dieses Nicht-mehr-sein, das unserer Existenz eingeschrieben ist, aufhebt, indem er dem Tod nicht das letzte Wort überlässt“ (S. 176).
Krise und Erneuerung
Was heißt das konkret für den Islam? Im Kapitel VIII über die Renaissance des Islam plädiert Karimi für eine Erneuerung in der Richtung einer Re-Naissance, und zwar in dieser Weise: An der Symbolhaftigkeit der Kaaba wird deutlich, dass es hier um einen Weg nach innen, ins Herz, ins Zentrum menschlichen Seins geht. Aber das Symbol Kaaba und der hier seine Mitte findende Glaube ist allerdings durch die gegenwärtigen Gewalt-Ereignisse verraten. Doch die eigentliche Krise des Islam liegt faktisch an anderer Stelle: „Die jeweiligen Quellen des Islams wirken wie ein Kerker inmitten einer prinzipiellen Haltung, die sich Wahabismus nennt und sich für den einzigen und authentischen Islam hält“ (S. 184). Diese Krise zeigt zwei Verkrampfungen, die eine besteht darin, die Religion politisch zu instrumentalisieren, die andere besteht in der Gegenposition, nämlich die Religion aus der Politik heraushalten zu wollen. „Die Realpolitik zu ignorieren, korrumpiert aber die Religion, weil diese Haltung zumeist die Religion zu einer Handlangerin der Politik degradiert“ (S. 187). So sind die Pilgerzeremonien und der „heilige Ort“ selbst zum politisch-ideologischen Geschäft geworden (S. 187). Darum bedarf die Kaaba der Reinigung.
Bei diesen Worten fühlt sich der Rezensent unmittelbar an die Reinigung des Tempels durch Jesus erinnert. Dort ruft der Nazarener in aller Schärfe, indem er den Propheten Jeremia (7,11) zitiert: „>Mein Haus soll ein Bethaus heißen< ihr aber habt eine Mördergrube daraus gemacht“ (Mt 21,13).
Rumi dagegen wusste schon, wo der wahre Tempel und die wahre Kaaba sind. Darum heißt es im Diwan:
Ich prüfte – ER war nicht am Kreuz …
Ich ging zur Kaaba nach Mekka.
ER war nicht da.
… Ich sah in mein eigenes Herz,
Dort, an diesem Ort, da sah ich IHN.
ER war an keinem anderen Ort.
Insgesamt wird deutlich: die Krise des Islam bietet Chancen, um der (Glaubwürdigkeit von) Religiosität willen gegen die religiöse Vereinnahmung und Pervertierung aufzutreten. Dazu braucht man die Erkenntnis, die Zeit sachgemäß und zeitgemäß zu deuten. Damit muss sich das religiöse Denken auseinandersetzen (S. 199). Eine Reform des Islam heißt von daher, aus der eigenen Traditionsgeschichte heraus, Möglichkeiten zu erarbeiten, um die Veränderungen der Gegenwart zu verstehen und den Glauben entsprechend neu zu formulieren. Da niemand eine Absolutheitsanspruch auf Gott hat, bedeutet dies, dass der Islam als eine reale Religion (und natürlich auch in Deutschland) kein Selbstzweck sein kann, sondern aufgrund seiner Verfasstheit konkret für Friedensstiftung steht. Die Konsequenz muss darum lauten, dass es nicht reicht, nur mit Worten gegen die religiösen Gewalt-Exzesse vorzugehen. Es gilt, den Frieden in den Spannungen der Gesellschaft wagen, denn der Frieden ist „dieser Religion im Namen Gottes eingeschrieben“ (S. 207). Was ist also jetzt  zu tun, wenn Gott da ist? (S. 210)
Bilanz
Karimi spiegelt seinen essayistischen Annäherungsweg an das Geheimnis Gottes an den manchmal seltsamen Gestalten beliebter, überwiegend amerikanischer TV-Serien. Sie sind Anknüpfungspunkte für seine grundsätzlichen Überlegungen. Diese gewinnen zum Teil poetischen Charakter unter Einbeziehung sufischer Traditionen und westlicher (hauptsächlich deutscher) Philosophen und Dichter. Es ist erstaunlich, welche multikulturelle und multireligiöse Vielfalt damit zum Ausdruck kommt! Für die gemeinsame Annäherung an das Geheimnis Gottes – unabhängig von der jeweiligen religiösen Tradition – lässt sich daraus viel lernen! Es ist für alle Glaubenden die Aufforderung, tätig zu werden, weil Gott schon immer bei den Menschen ist.

Reinhard Kirste
Rz-Karimi-Gott, 26.02.18 


Samstag, 24. Februar 2018

Grundwissen über die Bedeutung von "Scharia"

Cover for 

Shariah

Shariah
What Everyone Needs
to Know

John L. Esposito and
Natana J. DeLong-Bas

Oxford University Press
2018, 240 pp.

ISBN: 978-0-19-932506-1

  • Acts as an easy-to-read guide to understanding a widely misunderstood concept
  • Written by two internationally regarded scholars of Islamic Studies
  • Provides both historical and contemporary coverage on a wide range of disciplines
  • Gives attention to possibilites for reform and progress, including those already underway

Donnerstag, 22. Februar 2018

Erneut gelesen: Mohammed Arkoun - Kritische Eröffnungen zum Islam

Mohammed (Mohamed)  Arkoun (1928-2010) war als Professor für islamische Studien in Paris einer der engagiertesten und bedeutendsten Vertreter für einen „aufgeklärten“ Islam. Zugleich bezeichnete er sich im originalen Sinne als „Fundamentalist“, da sich seine Forschungen auf die Fundamente von Koran und Sunna bezogen. Dazu bearbeitete er systematisch die islamische Philosophie seit ihren Anfängen bis in die Gegenwart. Im aktuellen Diskurs zwischen Tradition und Moderne spielt das Verhältnis von Religion und  Laizität - besonders in seiner französischen Ausformung - eine entscheidende Rolle. Im Blick auf die Herausforderungen der Gegenwart unternimmt er nicht nur eine kritische "Re-Lektüre" des Korans, sondern auch der islamischen Traditions- und Geistesgeschichte.

Mehr zu Leben und Werk von


Mohammed Arkoun: L'Islam. Approche critique
Collection "Ouverture". 
Paris: Jacques Crancher 1989, 3e édition 1998, 189 pp.

Deutsche Ausgabe:
Der Islam. Annäherung an eine Religion.
Vorwort von Gernot Rotter.
Aus dem Französischen von Michael Schiffmann.
Heidelberg: Palmyra 1999, 294 S., Register


Der Islam in Frage,
der Islam als Frage 

Kritische Annäherungen
Die hier vorzustellende "kritische Annäherung" an den Islam besteht aus 24 Fragen und Antworten, die sich mit Grundkenntnissen des Islam und aktuellen Fragen beschäftigen, die vor allem die muslimische Glaubenslehre betreffen. Der Autor bemüht sich um kurze und prägnante Darlegungen. Sein Ziel ist ein doppeltes: Er wendet sich einerseits an die muslimische Öffentlichkeit: Sie muss seiner Meinung nach aus ihrer dogmatischen Enge befreit werden, in die sie durch die traditionelle Theologie und durch Kampfesideologien eingeschlossen ist. Andererseits wendet er sich an die westliche Öffentlichkeit: Diese sollte darauf verzichten, andere Kulturen ethnographisch aus einem westlichen Deutehorizont heraus zu betrachten.

Mythos und Ideologie: Degradierung des symbolischen Kapitals
Nach Arkoun ist es Aufgabe der Historiker zu zeigen, wie unterschiedliche ethno-kulturelle Gruppen aus einem gemeinsamen Bestand an Zeichen und Symbolen geschöpft haben. So konnten sie Systeme des Glaubens oder des Unglaubens schaffen, die zur Legitimation von Macht gedient haben. Daher fordert der Autor, die Sinnfrage nicht länger aus der Sicht einer unbeweglichen Transzendenz zu stellen, einer Ontologie, die vor jeglicher Historizität geschützt wäre. Stattdessen sollte sie im Lichte der historischen Kräfte betrachtet werden. So lassen sich die heiligsten Werte in symbolisches Kapital verwandeln. Sie kann man nicht von den mythischen Gründungserzählungen trennen, in denen jede ethno-kulturelle Gruppe ihre Identität oder Personalität zusammenfasst. In den Offenbarungsreligionen wurde das symbolische Kapital allerdings zu Gesetzen, mechanischen Ritualen, scholastischen Lehren und Ideologien der Herrschaft degradiert.

Sakralisierung, Transzendentalisierung, Säkularisierung
Seit dem Tod des Propheten Mohammeds, vor allem aber mit der Gründung eines islamischen Staates, fand die Verbindung von politischem Handeln und Kreativität der Symbolik ihr Ende. Die Verstaatlichung des Islam bedingt die Ausarbeitung eines Rechtscodex, der die Bedeutung religiöser Lebensorientierung (Scharia) in praktisches Recht umsetzt. Wenn hier das Religiöse dem Politischen untergeordnet wird, so ist dies nicht gleichzusetzen mit der Verschmelzung von Spirituellem und Zeitbedingtem zu einem Absoluten. Hier muss der Islam heute z.T. kritisiert werden. Will man die Frage nach dem Islam und der Laizität  bzw.Säkularisierung stellen, ist es wichtig, sich darüber im klaren zu sein, dass die islamischen Gesetze durch die staatlichen Institutionen bzw. durch die Person und Funktion des Kalifen erst nachträglich sakralisiert und transzendentalisiert worden sind.

Die säkularen Revolutionen haben die Hierarchien und Ungleichheiten, die mit Hilfe der Macht der Sakralisierung entstanden sind, aufgehoben. Diese Macht wurde von den Theologen ausgeübt, die vorgaben, als autorisierte Interpreten der Offenbarung zu handeln. Die Revolutionen enthüllen so eine verborgene Funktion des Heiligen. Es ist der permanente Übergang von der Transzendenz in immanente Zusammenhänge. So geht der Weg vom Unendlichen des Sinns zur Transzendentalisierung, die den Sinn in Lehren, politischen Ordnungen und Rechts-Codices fixiert. In einem Kontext, der von den religiösen Traditionen befreit ist, wird das republikanische Frankreich mit Hilfe der Rekonstruktion eines nationalen laizistischen Bildes (imaginaire) allerdings von Neuem sakralisiert.

Die Nationalismen des 19./20. Jahrhunderts haben den Bruch mit dem früheren Heiligen und die Einsetzung eines laizistischen, republikanischen Heiligen mit dem entsprechenden Bild zu einem generellen Phänomen gemacht. Arkoun wehrt sich dagegen, die Beziehung von Religion und Laizität, von Spirituellem und Zeitlichem auf Fragen der rechtlichen Trennung dieser Instanzen zu reduzieren. Es geht auch nicht, die Theologie von der Philosophie oder den Mythos von der Geschichte zu lösen.

Arkoun möchte die Bedeutung der modernen Trennung von legislativer, judikativer und exekutiver Gewalt für den sozialen Frieden und den Respekt vor den Menschenrechten nicht schmälern. Aber diese Gewalten verweisen auf tiefer gehende Fragen, die all unserem politischen, rechtlichen und religiösen Reden zugrunde liegen: die Frage nach dem Sein, nach Werten, zum Heiligen, nach Transzendenz, Liebe, Gerechtigkeit und dem Wunsch nach Unsterblichkeit.

Spirituelle Autorität und politische Macht
Arkoun unterscheidet zwischen der spirituellen Autorität Gottes und politischer Macht. Er nimmt den Begriff der „Sinnschuld“ (dette de sens) von Marcel Gauchet auf. Damit ist eine moralische Verpflichtung im Rahmen des Bundes zwischen Gott und Mensch in den Offenbarungsreligionen gemeint. Nur die Macht, die im Rahmen dieses Bundes ausgeübt wird, ist legitim. Das Aufkommen einer spirituellen laizistischen Macht mit dem Bürgertum hat die Funktion der Sinnschuld dem allgemeinen Wahlrecht übertragen. Arkoun spricht von einem „neuen Bund“, der auf das allgemeine Wahlrecht gegründet ist und eine Gesellschaft, sozusagen als säkularisierte Kirche zur Folge hatte. Mit dem Ende des traditionellen Religiösen kamen die säkularen Religionen (Raymond Aron) auf. Die Demokratien funktionieren wie Religionen (allerdings ohne den Zusammenhang von Sinn und Schuld) mit Führern, die nach Taktiken und Strategien suchen, die Macht zu erlangen und auszuüben. Sie bemühen sich weniger um “légalité“ als um  „légitimité“. Nun wird es darum gehen, so meint Arkoun, dass Kirche und Staat nach neuen Vereinbarungen, nach einer neuen Laizität suchen. Sie ermöglicht eine neue Spiritualität. Hier liegt übrigens ein Ansatzpunkt von islamischer Seite, den eine Reihe von „gemäßigten“ Laizisten aufgegriffen hat, wie z.B. der Soziologe Olivier Carré:
L'islam laïque
 ou le retour à la Grande tradition. Paris: 
Armand Colin 1993 - Rezension in Persee: hier - Autor:   Année 1994  59-1  pp. 299-300
Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges glaubte man in der muslimischen Welt, es würde reichen, die „Rezepte“ des Westens auf die muslimischen Länder zu übertragen, die den Erfolg der westlichen Zivilisation ermöglicht haben. Kritiklos übernahm man daher die Laizität, wie es die radikale Neutralität Atatürks gegenüber der Religion zeigte. Doch eine Entwicklung der muslimischen Welt hin zu einem laizistischen und demokratischen Pluralismus musste scheitern. Die Rolle der Symbole im Kontext einer mündlichen, mythischen Kultur unterscheidet sich wesentlich von der im logozentrischen System einer Schriftkultur, eingesperrt in den Grenzen der Historizität. Die Symbole werden hier zu schlichten Zeichen, an denen sich die „Modernen“ und die „Konservativen“ erkennen.

Arkoun unterscheidet: Zum einen  gibt es die „pensée laïque“, eine offene, kritische Haltung, die Verantwortung wahrnimmt und die Freiheit der Selbstbestimmung anderer anerkennt. Dagegen steht zum Anderen die „pensée laïciste: Unter dem Vorwand der Neutralität verbannt sie aus der Schule jeglichen, auch wissenschaftlichen Unterricht über die Geschichte der Religionen. Die menschlichen Gesellschaften sind jedoch auch von  einer permanenten und universell-religiösen Dimension geprägt. Mit einer solchen Wertung wendet sich Arkoun gegen einen positivistischen und szientistischen Rationalismus.

Der Verfasser ermutigt insgesamt, auf zwei historische Brüche zu reagieren: den Bruch des „orthodoxen“ islamischen Denkens mit der Philosophie und den Bruch des westlichen Denkens mit dem religiösen Denken aufgrund dessen semitisch-orientalischer Wurzeln.
Der Islam und der Westen scheinen zwei entgegengesetzte Pole zu sein. Aber Arkoun weist konsequent daraufhin, dass sie denselben philosophisch-religiösen Ursprung haben.

Auch nach über 20 Jahren seit dem Erscheinen dieses Buches hat es nichts von seiner
Aktualität verloren.

Dieser Beitrag wurde überarbeitet und aktualisiert. Er ist in seiner Ursprungsfassung  ein Auszug aus: 
Silvia Bartelheimer / Reinhard Kirste: Der Integrismus im Streit mit der Laizität. Ein Beitrag zur Fundamentalismusdebatte. Download des gesamten Textes: hier 
In: Reinhard Kirste / Paul Schwarzenau / Udo Tworuschka (Hg.): 
Interreligiöser Dialog zwischen Tradition und Moderne. Religionen im Gespräch, Bd. 3 (RIG 3) Balve: Zimmermann 1994, S. 290-323, hier S. 295-298

Weitere Rezensionen:


CC



Dienstag, 20. Februar 2018

Jacques Dupuis und der religiöse Pluralismus (aktualisiert)

Der belgische Jesuit Jacques Dupuis (05.12.1923 bis 28.12.2004) ist durch sein theologisches Engagement bei der Begegnung der Religionen international bekannt geworden. Er gehört zu den herausragenden Persönlichkeiten, die die katholische Theologie im Sinne des Vaticanum II für die Glaubenskonzepte anderer Religionen öffneten. 

Vgl. Hans Waldenfels: 
Jacques Dupuis
- Theologie unterwegs

Stimmen der Zeit Nr. 4 (2001), S. 217-218)



Bereits 1989 erschien:  
Jésus-Christ à la rencontre des religions. 
Paris: Desclée 1989, 345 pp. --- Collection "Jésus et Jésus-Christ", no. 39

--- Inhaltsverzeichnis und ausführliche Leseprobe: hier

--- Kommentar von Atoine Basunga SJ 


1997 kam dann in in Englisch und zeitgleich in Französisch das Buch heraus, das eine intensive Diskussion über die religionspluralistische Theologie in Gang brachte:


Die deutsche Version erschien erst 2010:

Jacques Dupuis
Unterwegs zu einer christlichen Theologie
des religiösen Pluralismus.
Hg.: Ulrich Winkler, Vorwort Hans Waldenfels
mit dem Text der Notifikation und weiteren Stellungnahmen
Innsbruck-Wien: Tyrolia 2010
Ausführliche Rezension: hier

Jacques Dupuis gelingt es mit diesem Werk, Geschichte und Systematik interreligiöser Begegnung so aufzuarbeiten, dass die  Unterschiede und Konvergenzen aus einer trinitarisch-christologischen Sicht heraus deutlich werden. Religiöser Pluralismus wird damit zur Chance vertiefter Begegnung religiöser Traditionen und ihrer Heilsangebote. Der Vatikan unter seinem damaligen Präfekten, Kardinal Josef Ratzinger, versuchte mit einer Notifikation (2001) diese interreligiöse Offenheit auszubremsen und schließlich Dupuis zu einer Art Widerruf zu bringen.

2002 erschien dann ein Buch, das (indirekt) auf die vatikanischen Vorwürfe einlenkend Bezug nahm:
La rencontre du Christianisme et des religions.
De l'affrontement au dialogue.

Paris: Cerf, Paris 2002
--- Eine französische Rezension hier --- 



Die Reaktionen auf den Tod Jacques Dupuis am 28.12.2004 aber auch spätere Beiträge zeigen die religionsökumenische Bedeutung dieses Theologen.







Donnerstag, 15. Februar 2018

Wieder im Blickfeld - Hasan Askari: Die innere Reise vom Bewusstsein zur Vision


Hasan Askari: 
Alone to Alone. From Awareness to Vision
Pudsey/ Leeds: Seven Mirrors 1991, 297 S.

Vom Alleinen zum Alleinen. 
Von der Erkenntnis zur Vision“ 
oder: Vom Bewusstwerden zum [wahren] Sehen 

Der den Dialog intensiv suchende und betreibende islamische Mystiker Hasan Askari hat eine abwechslungsreiche Biografie hinter sich, die ihn als theologischer Lehrer nicht nur an die verschiedensten Universitäten und Colleges Europas, der USA und des Nahen Ostens und Indiens führte, sondern ihn immer wieder nach den Verbindungswurzeln der verschiedenen Religionen und ihrer Ursprünge suchen ließ. Dadurch ist er auf Plotin (205-270 n. Chr.), den neuplatonischen Brückenbauer der Antike gestoßen, der griechische Philosophie, jüdische Religion und ägyptischen Glauben aufnahm und dessen Philosophie auch die christliche Theologie der Alten Kirche bis weit ins Mittelalter erheblich beeinflusste.
Askaris Buchtitel ist darum den Enneaden ( = der Neunheit) Plotins entnommen:
Vom All-Einen zum All-Einen. Er erinnert an die Bewegung des Aufstiegs der Seele zur nicht mehr trennbaren Einheit des Seins. Letztlich geht es dabei um die eigene Selbstaufhebung. Askari „reflektiert“ sie in sieben Spiegeln. Konkret handelt es sich um Aphorismen, Geschichten, Textmeditationen und Beobachtungen von Alltäglichkeiten, die plötzlich eine tiefe Bedeutung gewinnen. 

Der Lesenden sind eingeladen, eine spirituelle Reise in die Seele zu unternehmen - als Reise zum Selbst ist es die Reise zum All-Einen. Das All-Eine ist das Alleinige, in dem alles in allem ist. Dazu bedarf es vieler Klärungen. deshalb muss Realität in ihrer Immanenz und Transzendenz gespiegelt werden. Askari fühlt sich bei dieser Reise in tiefer Übereinstimmung mit Plotin, den er als Seelenverwandten wahrnimmt.

Im 1. Spiegel scheint der Weg nach Einheit (nach der unio mystica) auf:
„Sag Dank, wenn ein lang geliebter Glaube weggenommen wird; das ist das Zeichen, dass der Freund deine Stadt betreten hat und bald an deine Tür klopfen wird“ (S. 13). 
Der 2. Spiegel erlaubt bereits erste Blicke hinter sich selbst.
Der 3. Spiegel führt noch weiter, und zwar zu Reflexionen über die Nicht-Personalität. 
Der 4. Spiegel ermöglicht weitere Visionen
Der 5. Spiegel bereitet darauf vor, von den Bildern überhaupt wegzukommen
Der 6. Spiegel signalisiert universale Kontakte und öffnet den Horizont im „Zwischenstadium“ von Leben, Tod und Reinkarnation. 
Der 7. Spiegel gibt schließlich die tiefsten Einblicke. 
Es kommt zur entscheidenden "Sicht": Der Spiegel ist leer (S. 191), aber der Zusammenhang von Einzelseele und Weltseele wird erfahren (S. 195f). Im Atem der Weltseele taucht alles Lebende ein in den vierfachen Atem, den der Reinigung, den der Grenzüberschreitung, den des Aufstiegs zum eigenen Archetyp, den der Anbetung und des Erscheinens der Vision. Es sind Zeiten eines archetypischen Akkords, indem alles in eins( = in das All-Eine) fällt (S. 272).
So geht der Weg von der Seele zu Gott, und der Atem ist ein siebenstufiger Weg, der den Reisenden hinter das Sein und damit in die ewige Vollendung führt. 
Bei diesem Weg fühlt man sich übrigens sehr an den achtfachen Pfad des Buddha erinnert.
Es ist ein schwer und dann doch leicht zu lesendes Buch, wenn es gelingt, Wesentliches von Unwesentlichem zu unterscheiden und zu entdecken, dass im „allein“ schon das/der All-Einende, das/der All-Vereinende und das/der All-Versöhnende steckt. Nur hier findet wahre Anbetung statt.
Vor uns liegt ein mystisches Buch, das durchaus an andere Sufi-Meister erinnert. In der Begegnung mit Geschichten erfährt der/die Lesenden, wie und wo sich in Geschichten das Geschick verändert und der Mensch im Loslassen wesentlich wird. „Mensch, werde wesentlich!“, hat der christliche Mystiker Angelus Silesius gesagt. 
Askari sagt es auf seine, die Religionen miteinander verbindende Weise.

Zitate aus "Alone to Alone: hier
Reinhard Kirste
Diese Rezension erschien zuerst in:
Reinhard Kirste / Paul Schwarzenau / Udo Tworuschka (Hg.):
Interreligiöser Dialog zwischen Tradition und Moderne.Religionen im Gespräch, Bd. 3 (RIG 3).
Balve: Zimmermann 1994, S. 443-444. Sie wurde etwas überarbeitet und erweitert.

Rz-Askari-Vision, 14.02.2018 


Mittwoch, 7. Februar 2018

Wege zu einer humanistischen Erkenntnislehre - Positionen arabisch-islamischer Welt-Philosophie


Mohamed Turki:
Einführung in die arabisch-islamische Philosophie.
Freiburg / München: Karl Alber (Herder) 2015, 229 S.
--- ISBN: 978-3-495-48750-1 ---
Mohamed Turki (geb. 1945) gehört zu den wichtigen Vertretern einer interkulturellen Philosophie. Er schlägt eine Brücke zwischen arabischen und europäischen Vernunftdebatten. Sein Denken schulte er mit philosophischen Studien in seinem Heimatland Tunesien und auch in Deutschland und Frankreich. Nach einem weiterführenden Studium der Philosophie, Romanistik und Soziologie an der Universität Münster (Westfalen) lehrte er Philosophie an den Universitäten Bremen, Kassel, Frankfurt /M., aber auch in Tunesien.

Mehr zu seiner Person und seiner philosophischen Ausrichtung
:
https://religiositaet.blogspot.de/2018/01/philosophische-orient-okzident.html

In der hier vorgelegten Einführung in die arabisch-islamische Philosophie betont er die tiefen Wurzeln sowie die wechselseitige Durchdringung von griechischer Philosophie, islamisch-rationalistischer Theologie und mystischer Erleuchtungslehre mit dem Ziel, „einen Beitrag zur Philosophiegeschichte in interkultureller Perspektive [zu] leisten“(S. 11)..
Der Autor belässt es jedoch nicht mit einer Darstellung der aufklärerischen, „klassischen“ Periode des Mittelalters, vielmehr zeigt er Kulturen übergreifende Verbindungslinien islamischer Philosophie. Das spannungsreiche Verhältnis von Tradition und Moderne, Identität und Aufklärung kommt damit vielfältig zur Sprache. Um die Bedeutung der arabisch-islamischen Philosophie auch für den gegenwärtigen philosophischen Diskurs zu verdeutlichen, hat er seine Darstellung in den Weltkontext wichtiger Denktraditionen eingeordnet. Das geschieht in 7 Abschnitten – sowohl systematisierend als auch chronologisch orientierend:
1.  Die arabische Variante der Weltphilosophie:
Dafür sind zuerst Klärungen zum Verhältnis von Philosophie und Theologie vorzunehmen sowie die Entstehung einer geradezu diskursfreudigen rationalistischen Theologie im Sinne von „Kalam“ zu beleuchten. (S. 15–50). So rückt Turki das arabisch-islamische Kulturerbe in den Gegensatz zu der auch von Hegel vertretenen eurozentrischen Meinung, dass die Araber über die Erläuterungen zur göttlichen Offenbarung nie hinausgekommen sind (S. 15f).
Der Fokus ist darum insgesamt auf den Mittelmeerraum zu richten, weil von dort Philosophien ausgingen, die die Welt veränderten. So ist auch die arabische Philosophie in der Aufnahme, dem Transfer und der flexiblen Umgestaltung antiker Geistesströmungen und damit im Weltkontext zu sehen.
2.  Die Entstehung des Kalam im Sinne offener theologischer Positionen: Turki zeigt, dass die intellektuellen Auseinandersetzungen in Mohammeds frühem Tod und dem politischen Streit um seine Nachfolge begründet liegen. So werden innertheologische Debatten freigesetzt, die in den mu’tazilitischen Schulen und ihrer Absage an jeglichen Dogmatismus gipfelten.
Diese Richtung entstand im 9. Jahrhundert in Basra. Wichtige Vertreter sind u.a.
Abu‘- Hudhail al-`Allaf (8./9.
Jh.),
Ibrahim al-Nazzam (ca. 775–ca. 848),
 Abu Ali al-Jubbai (10.
Jh.) und al-Qadi Abd al-Dschabbar  (935–1025).
Auch in Bagdad entstand eine mu’tazilitische Schule – (vgl. S. 40f).

Ihre Prinzipien
sind: Einheit, Einzigkeit Gottes, seine Gerechtigkeit und seine Verheißungen und Drohungen. Der Mensch steht also in seinem Leben zwischen Glauben und Unglauben. Das nötigt zu gutem Handeln im Sinne praktischer Ethik. Daraus entwickelt sich eine Debatte in der Spannung von Willensfreiheit und göttlicher Prädestination im Horizont der (Wesens-)Eigenschaften Gottes. In diese Grundspannung gehört auch die Frage nach der Schöpfung als einer „creatio ex nihilo“ und die Überlegungen zur Ewigkeit bzw. Erschaffung des Koran als Gottes Offenbarung. Für die Mu’taziliten gehört er in die Zeitlichkeit. Die Ash’ariten nahmen hier eine vermittelnde Position ein. Das zeigt Turki an al-Ash’ari (874–935) selbst, aber auch an dem sich ausweitenden hermeneutischen Streit in der Herausarbeitung logischer Prinzipien im Gegenüber zu den Gesetzen der Grammatik.
3.  Die Herausarbeitung einer humanistischen Erkenntnislehre:
In diesem Streit treten u.a. al-Kindi (ca. 800–873), der „Philosoph der Araber“ (801–873),
al-Farabi (872–950) und schließlich al-Ghazali (1058–1111) besonders hervor. Diese Denker verinnerlichen verstärkt das griechische Denken, besonders des Aristoteles. Sie sind geprägt vom Wort in seiner geoffenbarten Wirkmacht und seiner vernunftgemäßen Kraft. Sie beschreiben den Intellekt in seinen unterschiedlichen Erkenntnisfähigkeiten auf neue Weise. Sie beziehen sich teilweise kontrovers auch auf die neuplatonischen Lehren Plotins (205-270). Bei al-Farabi hat dies zur Folge, dass er vom Einen Gott her den Intellekt kosmologisch und anthropologisch im Sinne einer Emanationslehre definiert. Der Mensch steht in universalen Zusammenhängen. Diese bilden den Hintergrund für die Ausbildung einer humanistischen Ethik, so am deutlichsten Ibn Miskawayh (932–1029) und al-Tawhidi (ca. 930–1023).
4./5.  Die Blüte des philosophischen Denkens zwischen Bagdad und Córdoba:
Turki führt den Lesenden durch die weitere Geschichte der islamisch-arabischen Philosophie, indem er von den „Lauteren Brüdern von Basra“ ausgeht. Diese unternahmen im Zweistromland bereits im 10. Jahrhundert, was die europäischen Enzyklopädisten erst im 18. Jahrhundert angingen, nämlich das Unterfangen, eine Sammlung des universalen Wissens herauszugeben. Dann folgen der Naturphilosoph Abu Bakr ar-Razi (865–925) und schließlich Avicenna / Ibn Sina (980-1037) mit seinem Einheitsdenken – der Mensch als Mikrokosmos im Makrokosmos (S. 93) und die Seele als eigenständige intelligible Instanz, die ihr Ego als existierendes Wesen erkennt (S. 98). Die Seele muss darum von allen Fesseln befreit werden, „die ihr Streben nach Wahrheit verhindern“ (S. 101).
Gegen diese Erleuchtungstendenz und die damit zusammenhängende Unsterblichkeit der Seele wendet sich Al-Ghazali, weil damit die Auferstehung des Leibes geleugnet würde (S. 108). In dieser Auseinandersetzung steht das Verständnis einer eigenständigen Individualität zur Debatte. Darauf kommt Turki u.a. auch bei Ibn Abdun (ca. 930-995), dem jüdischen Philosophen Ibn Gabirol (1021-1070) und Ibn Bajja (1095–1138) zu sprechen. Weiterführend beschreibt der Autor bei Ibn Tufail (1105-1185) den Weg der menschlichen Erkenntnis – beginnend mit der sinnlichen Wahrnehmung bis zum rationalen Aufstieg des Intellekts bis zur inneren Schau der göttlichen Wahrheit (S. 121).Der konsequenteste und eigenständige Aristoteles-Vermittler und Kommentator unter den arabischen Philosophen: Averroes / Ibn Rushd (1126-1198) beruft sich u.a. auf ihn. Für den berühmten „Kommentator“ „gibt es keinerlei Widerspruch zwischen Wissen und Glauben hinsichtlich des Zwecks ihres Erkennens und infolgedessen keine >doppelte Wahrheit<, wie dies von der Scholastik behauptet wurde“ (S. 135). Die Philosophie wird auch nicht die Magd der Theologie wie bei Thomas von Aquin. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass der christliche Averroismus keineswegs durchgängig dem Thomisten folgte. Al-Ghazali hatte unter Berufung auf die Allmacht Gottes die Kette der Ursachen als bloßes Ergebnis der Gewohnheit interpretiert. Zwar hatte Averroes natürliche Ursachen nicht leugnet, weil Gott die erste Ursache der Weltordnung ist. Er stellt aber heraus, dass ein Kausalzusammenhang nicht immer erkennbar ist. 

Vgl. zum Verständnis des Intellekts bei Averroes
 
meine Rezension --- https://buchvorstellungen.blogspot.de/2018/01/wieder-im-blickfeld-averroes-und.html


Auch wenn Orientalisten behauptet haben, mit Averroes sei die islamische Philosophie an ihr Ende gekommen, kann Turki sehr schön zeigen, dass gerade die Korrelation von Mystik und Rationalität sich auch in späterer Zeit durchhält und unter anderen politischen Bedingungen wieder neu aufflammt.

6.  Von einer rational offenen Mystik zur Theosophie im Sinne „göttlicher Weisheit“
In diesem Kapitel zieht Turki auch Positionen westlicher Orientalisten und Philosophen der jüngeren Gegenwart heran, um dadurch die Beziehungen zwischen arabisch-islamischem und europäisch-[post]-christlichem Denken zu verdeutlichen. Hauptsächlich geht es jedoch darum, wichtige Etappen islamischer Mystik-Geschichte in Erinnerung zu bringen: Rabia von Basra, Al Halladj, Rumi, Suhrawardi und die Schule der Illumination und ganz entscheidend Ibn Arabi von Murcia (1165–1240). Gerade der Letztere betont die Einheit des Seins im kosmologischen Kontext des vollendeten Menschen. 
Schließlich kommt noch Mulla Sadra (1572–1640) zur Sprache, der durchaus eine ähnliche Zielrichtung wie Ibn Arabi hat: „Das Sein erhält bei ihm eine absolute Priorität und stellt die umfassende Realität dar, die auch Gott mit einschließt“ (S. 168). Dieses reine Sein kann in den Dingen wirken: Manifestation des Göttlichen und Konstitutivum eines weiter wirkenden Schöpfungsprozesses.

Vgl. meinen Beitrag „Orientierung zum Sufismus“:
https://textmaterial.blogspot.de/2016/06/orientierung-zum-sufismus-wird-erweitert.html
Und meine Rezension des Buches von Claude Addas:Ibn Arabi et le voyage sans retour 1996/2013): https://buchvorstellungen.blogspot.de/2016/01/der-mystiker-ibn-arabi-reisen-im.html

7.  Eingrenzungen und Erneuerungen: 
Nicht einfach chronologisch, sondern systematisierend nimmt Turki die in den vorigen Kapiteln dargestellte Thematik unter dem Aspekt der Erneuerung wieder auf.
Mit Blick auf die Logik des Fachr ad-Din ar-Razi (1149–1210) und den Wirkungen einer islamischen Aristoteles-Rezeption kann der Fokus nicht nur auf die Widerlegung und Einengungstendenz von Ibn Taimiya (1263–1328) gelegt werden. Es zeigt sich nämlich die Entwicklung einer Ethik, „die auf einem Prinzip des gesellschaftlichen Zusammenlebens beruht, das von der Liebe der Menschen zueinander als Zeichen ihres Strebens nach Eintracht getragen wird“ (S. 174), so der berühmte Mathematiker, Astronom und Philosoph Nasîr al-Dîn Tusi (1201-1274). Besonders hervorzuheben ist jedoch Ibn Khaldun (1332–1406), der Begründer der Soziologie und der Geschichtswissenschaft im heutigen Sinne, die sich der kritischen Analyse der Fakten bedient, um von daher eine eigenständige Theorie geschichtlicher Prozesse zu entwickeln (S. 178). Damit war für ihn die religiöse Vorstellung einer Heilsgeschichte erledigt. Er arbeitet vielmehr zeigen sich evolutionäre Prozesse heraus. Er sieht allerdings im Zyklus von der Geburt bis zum Tod bzw. dem Verfall, ohne dass jedoch ein strenger Determinismus leitend wäre – immerhin jedoch „ein Wille zur Macht“, der an Nietzsche erinnert (S. 186).
Die neuzeitliche Phase als Bruch mit dem Bisherigen und neueren Reformansätzen macht Turki an der Eroberung Ägyptens 1798 durch Napoleon fest. Unter den Vorgaben europäischer Aufklärung und des Kolonialismus bringen die Reformer des 19. Jahrhunderts wie at-Tahtawi (1801–1873), Kheireddine at-Tunisi (1820–1890), Abderrahman al-Kawakibi (1855–1902), Jamal ad-Din al-Afghani (1839–1897) und Muhammad Abduh (1849–1905) die Religion ins Spiel: „Zwei zentrale Themen bestimmen seine [al-Afghanis] Weltanschauung: die politische Einheit unter den islamischen Völkern im Sinne eines Panislamismus, der sich dem europäischen Kolonialismus widersetzen sollte, und ein reformierter Islam, der von innen heraus gestaltet werden sollte …“ (S. 192f). Blickt man von da aus in die Gegenwart, dann erinnern Namen wie Ali Abd ar-Raziq (1888–1966), Abdul Rahman Badawi (1917–2002), Mohamed Aziz Lahbabi (1923–1993) und einige andere wichtige Autoren daran, eine islamische Anthropologie unter dem Kennzeichen der Freiheit zu formulieren. Nur einige Philosophen kann Turki in diesem Zusammenhang nennen, weil der Kreis derer, die Vernunft und Glaube in eine undogmatische Relation bringen, doch größer ist, als mancher im Westen denkt. Hier hat sich eine innerislamische Debatte in den letzten Jahren wesentlich verstärkt.
Darum verweist Turki in seinem Ausblick auf (fragwürdige) Versuche, Tradition und Moderne dialektisch durch eine erneute Renaissance aufzuheben, während andere – wie Abdelmajid Charfi, Seyyed Hossein Nasr, Abdelkarim Soroush und Farid Ishaq – dafür plädieren, Koran, Sunna und die muslimische Geschichte kritisch zu hinterfragen. Sie möchten damit das Bild eines monolithischen Islam aufbrechen und Grundlagen für eine neue, kontextuelle Hermeneutik schaffen. Dieser Diskurs ist derzeit noch völlig offen.
und die stärker an einzelnen Personen orientierte „Einführung in die islamische Philosophie“
von Hamid Reza Yousefi (2014):
Rezension:
https://buchvorstellungen.blogspot.de/2014/08/buch-des-monats-august-2014-die.html
Bilanz
Mohamed Turki schafft es, auf relativ wenigen Seiten und dennoch präzise, die variantenreiche Geschichte der arabisch-islamischen Philosophie in Grundzügen darzustellen. Er bindet einzelne Philosophen und Denkschulen in den Gesamtzusammenhang der jeweiligen geistesgeschichtlichen Kontexte und ihrer Weiterentwicklungen ein. So entsteht ein Bild islamischer Geistesgeschichte, das dazu herausfordert, den west-östlichen Dialog verstärkt fortzusetzen. Anknüpfungspunkte und temporäre Parallelentwicklungen bieten genügend Ansätze zu einer interkulturellen Philosophie.

Reinhard Kirste 

Rz-Turki-Philosophie, 07.02.18