Donnerstag, 28. März 2019

Katajun Amirpur: Reformislam - den Islam weiterdenken

Katajun Amirpur: Reformislam
Der Kampf für Demokratie,
Freiheit und Frauenrechte

Monographie --- C.H. Beck'sche Reihe 6075
München: C.H. Beck 2018, 3. Aufl., 256 S.
---  ISBN 978-3-406-73688-
9 --- 

Die erste Auflage erschien unter dem Titel:

Den Islam neu denken. Der Dschihad für Demokratie, Freiheit und Frauenrechte.

München: C.H. Beck 2013, 256 S., Personenregister

Rezension: hier
Verlagsinformation: Es gibt ihn doch, den modernen Islam, der für die Gleichberechtigung der Geschlechter, Demokratie, Freiheit, religiöse Toleranz und die Menschenrechte eintritt und sich dabei auf den Koran beruft! Katajun Amirpur zeigt eindrucksvoll, dass der Islam heute vielfältiger und moderner ist, als es bärtige Islamisten und westliche Islamkritiker wahrhaben wollen.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort 
1  Auf dem Weg in die Moderne
    --- Die Tradition des Reformislams --- Säkularismus und Islamismus 
2  Islamische Reformer heute
    --- Post-Islamismus --- Islamischer Feminismus  --- Männer für Frauen
    --- 
Islam in und für Europa --- Kritik als Selbstkritik 
3  Nasr Hamid Abu Zaid: Wer ist hier der Ketzer?
    Ein geborener Sieger --- Afrika, Amerika, Asien --- Scheidung von der Heimat 
    --- Gottes Wort  --- Spricht Gott Arabisch? --- Das Verhängnis Politik    --- Das Private ist politisch, ist Wissenschaft 
4  Fazlur Rahman: Vom Koran zum Leben und wieder zum Koran
    --- Ein traditioneller Gelehrter  --- Der Niedergang der muslimischen Gesellschaften
    --- Die Diktattheorie --- Der Koran als ethischer Leitfaden
    --- 
Die Leute des Buches --- Rezeption und Kritik 
5  Amina Wadud: Mitten im Gender Dschihad
    --- Muslimin aus Überzeugung --- Warum Islam? --- Weiblich, muslimisch, schwarz
    --- Gender im Koran --- Was sagt uns der Koran heute? 
    --- Perspektiven des islamischen Feminismus 
6  Asma Barlas: Als wären nur Männer objektiv
   --- Eine eurozentrische Sicht des Islams --- Die patriarchalische Deutung des Korans 
   --- Islamischer Feminismus? --- Als Muslimin in den USA  --- Befreiungstheologie 
   --- Plädoyer für ein anderes Gottesbild --- Wird sich die beste Deutung durchsetzen? 
7  Abdolkarim Soroush: Mehr als Ideologie und Staat
    --- Ein Revolutionär im Namen des Islams --- Vom Hofideologen zum Dissidenten 
    --- Die Wandelbarkeit der religiösen Erkenntnis --- Eine religiös-demokratische Regierung
    --- Wider die Ideologisierung der Religion Wessen Koran?
8  Mohammad Mojtahed Shabestari: Der Prophet liest die Welt
    --- Die Tradition und der Bruch mit ihr  --- Als Geistlicher in Hamburg 
    --- Wahrheit und Methode in Iran --- Die Rezeption protestantischer Theologie 
    --- Politische Bewegungen im religiösen Gewand --- Eine prophetische Lesart der Welt 
    --- Der Koran als Erzählung 
Die Zukunft des Islams
Die Tradition des Islams
Dank --- Literatur --- Personenregister


Weitere Titel von Katajun Amirpur

28.03.2019

Freitag, 22. März 2019

Ara Norenzayan: Big Gods --- Religion - Ursprünge und gesellschaftliche Entwicklungen


Ara Norenzayan:Big GodsHow Religion Transformed
Cooperation and Conflict
Große Götter.
Wie Religion in menschlichen Gesellschaften
Kooperation und Konflikt transformierte.

Princeton University Press [2013]
 2015, 264 pp.


--- ISBN 978-0691169743 ---


Verlagsinformation
How did human societies scale up
from tight-knit groups of hunter-gatherers to the large,

anonymous, cooperative societies of today —
even though anonymity is the enemy of cooperation?
How did organized religions with
'"Big Gods"—the great monotheistic and polytheistic faiths—
spread to colonize most minds in the world? In Big Gods,
Ara Norenzayan makes the surprising argument that these fundamental puzzles
about the origins of civilization answer each other.

Sincere faith in watchful Big Gods unleashed unprecedented cooperation
 within ever-expanding groups, yet at the same time
it introduced a new source of potential conflict between competing groups.
And in some parts of the world, societies with atheist majorities—
some of the most cooperative and prosperous in the world —
have climbed religion's ladder, and then kicked it away.

Big Gods answers fundamental questions about the origins
and spread of world religions and helps us understand the rise
of cooperative societies without belief in gods.
Ara Norenzayan is professor of psychology at the University of British Columbia.
His work has been featured on the BBC and CNN, and in the 
New York Times Magazine.

Freitag, 15. März 2019

Wieder im Blickfeld: Philip Jenkins über die Stellung der Religionen im Horizont der Zukunft Europas


Philip Jenkins: Gottes Kontinent?
Über die religiöse Krise Europas
und die Zukunft von Islam und Christentum.

Aus dem Amerikanischen von Ulrich Ruh.
Freiburg u.a.: Herder 2008, 399 S.  (kein Register!)
--- ISBN 978-3-451-29828-8 ---
Mehr zu Philip Jenkins (geb. 1952): https://en.wikipedia.org/wiki/Philip_Jenkins
--- English summary at the end of the review /
--- Résumé fran
ç
ais au bout du compte rendu
Wenn ein Professor für Geschichte und Theologie aus den USA über das ambivalente Verhältnis von Islam und Christentum im heutigen Europa schreibt, könnte leicht der Verdacht aufkommen, hier macht sich ein weiterer Zeitgenosse Sorgen um eine mögliche Islamisierung Europas. Überdies schaut Jenkins mit einer Brille von jenseits des Atlantik auf den alten Kontinent.
In seinem Einleitungskapitel setzt der Autor auch prompt mit dieser Frage an und sagt: „In dem Maße, wie das europäische Christentum schwindet, stellt der Islam eine ernsthafte Konkurrenz in der Gunst der zukünftigen Generationen dar“ (S. 7).
Säkularisierung und religiöse Aufbrüche
Was scheinbar auf dieser Linie begonnen hat, geht dann aber trotz der Auffälligkeiten im Säkularisierungsprozess Europas ganz anders weiter,
was sich besonders in den Kapiteln über „Glaube in Ruinen“ (Kap. 3), „Neue Christen“ (Kap. 4) und „Die Rückkehr der Mauren“ (Kap. 5) zeigt. So stellt er an den Anfang seiner Überlegungen zur Säkularisierung („Europa ohne Gott?“) die neu erwachenden Glaubenstendenzen gegenüber. Darum ist es falsch, von einer völligen Entchristianisierung Europas zu sprechen; dazu sind die Entwicklungen in den einzelnen Ländern und besonders im Blick auf Osteuropa zu unterschiedlich. Aber auch der Pilgerstrom über den Jakobsweg gibt wie andere Phänomene oder „heilige Landstriche“ (S. 77) zum ausführlicheren Nachdenken Anlass.
So meint der Autor, dass besonders die katholische Kirche eine gewisse Stärke behalten wird. Insgesamt bleibt das Christentum auch in säkularer Umgebung zumindest geistig präsent.
Daher ist das islamophobe Vorurteil, Europa werde von explodierenden Geburtenraten muslimischer Immigranten überrollt, noch nicht einmal statistisch zu halten. Dies gilt trotz der sich wandelnden religiösen und kulturellen Realitäten und Identitäten. Aber von einem „clash of civilizations“ ist die Zukunft Europas weit entfernt. Allerdings verändern die Einwanderer aus Afrika, Asien und Osteuropa das Gesicht des westlichen Europa, und zwar so, dass auch durch die eingewanderten Christen neue Typen des Christentums entstehen: Einwandererkirchen, das stärker in den Vordergrund tretende orientalisches Christentum sowie asiatisch religiöse Einflüsse usw.
Aber es gibt auch die Tatsache, dass sich europäische Christen dem Islam annähern. Dies darf allerdings nicht zu dem Fehlschluss führen, als würden sich Differenzen langsam nivellieren. Jenkins sieht z.B. in den Reaktionen der katholischen Kirche im Blick auf die Toleranz gegenüber Muslimen und die eingeforderte Religionsfreiheit für Christen in islamischen Ländern eine Verschärfung, die seit Benedikt XVI. wieder mehr zum Zuge kommt (S. 340). Die aktuelle Entwicklung seit Papst Franziskus scheint hier allerdings wieder in eine größere dialogische Öffnung hin zum Islam zu gehen.
Die innerkirchliche Tendenz geht allerdings dahin, dass in Europa die Mitgliederzahlen schwinden. Die großem Kirchen genossen bisher z.T. eine monopolartige Anerkennung in einer Reihe europäischer Länder. Hier ist der gesellschaftliche Einfluss weiter im Schwinden begriffen, während sich religiöse Einstellungen, aber auch Fundamentalismen (nicht nur im Islam!) verstärken (vgl. dazu das Kapitel über die Radikalen und den Terrorismus (Kap. 9, S. 258ff). So erklären sich abwehrende kirchliche und politische Reaktionen auch durch islamistische Extremtendenzen. Jenkins weist in diesem Kontext nach, wie die Einwanderer durch ihre verschiedenen Islam-Typen – von verhärteter antiwestlicher Ideologie, traditionellen religiös-kulturellen Mischformen bis hin zu inner-islamischen Reformbestrebungen – die gesellschaftliche Wirklichkeit verstärkt prägen.
Immigration und gemeinsame Herausforderungen
Quer durch das Buch belegt Jenkins an einer Fülle von Beispielen der jüngeren Zeit, wie unterschiedlich Strategien zur Begegnung mit den muslimischen Einwanderern entwickelt werden. Hier wird er zum Meister, seine erstaunliche Detailkenntnis zu systematisieren, so dass der Umformungsprozess Europas sich nicht in der Aufzählung von Geschichten und Einzelfällen verliert. Schwerpunkte seiner Betrachtung sind dabei Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Italien und Spanien. Dabei vergisst er nicht, dass es im „alten Europa“ einen eingesessenen Islam auf dem Balkan seit Jahrhunderten gibt (S. 142ff).
Im Blick auf diese Religion fällt darum dessen Pluralität ins Gewicht.
Gesellschaftliche Kooperationen und Mitverantwortung hängen nicht an der Religion als solcher, sondern an ihrer gesellschaftlichen Praxis. Und die allermeisten Muslime empfinden Freiheit und Demokratie in Europa gerade als Chance, ihren eigenen Glauben frei leben zu können und geben der Gewalt keine Chance. Man darf nämlich nicht vergessen, dass die sog. islamischen Länder selbst unter islamistischen Unruhen leiden haben. Politische Führer im Nahen und Mittleren Osten sowie auf der arabischen Halbinsel, besonders die wahabitischen Saudis, instrumentalisieren die Religion, um ihren Einflussbereich zu erweitern.
Anders gesagt: Christentum und Islam stehen angesichts der Säkularisierung Europas, besonders Westeuropas, letztlich vor denselben Herausforderungen. Darum kann und will Jenkins dem Negativklischee von der Islamisierung Europas nicht folgen. Vielmehr: In der Zielvorstellung gemeinsamer Moral, die Christen und Muslime von ihren heiligen Schriften her verbindet, könnte ein gesellschaftlicher Faktor von erheblicher Tragweite wirksam werden. Das erlaubt einen vorsichtig optimistischen Blick in die Zukunft Europas erlaubt. Religiös gesehen müssen sich allerdings Radikalisierungs- und Missionierungstendenzen in Grenzen halten.
Europas multireligiöse Zukunft
Ein weiterhin einigermaßen friedliches Europa wird nur dann Realität bleiben können, wenn die unterschiedlichen religiösen Kräfte die gemeinsamen Werte, einschließlich der Menschenrechte, der Demokratie und der Meinungsfreiheit als „ihre“ Sache ansehen. Sowohl religiöse Führer wie Politiker des „Westens“ haben sich davor zu hüten, mit zweierlei Maß zu messen, indem sie anderen predigen und selbst verwerflich werden. Interessant sind in diesem Zusammenhang zwei Bewertungen, die Jenkins vornimmt. Da ist einmal, der sich im islamischen Gewand präsentierende Antisemitismus / Anti-Zionismus, der sich durch den Palästinakonflikt noch verschärft hat (S. 210ff). Zum andern fallen die unterschiedlichen Einschätzungen in Europa und den USA zum Umgang mit der arabischen Welt auf, wie sie der Amerikaner Jenkins besonders doch recht beunruhigend sieht (S. 356ff). Vielleicht ist er an dieser Stelle doch zu weit von der Ostseite des Mittelmeeres entfernt, als dass er die Reserven gegenüber der USA-Politik in Mittelost wirklich ganz nachvollziehen kann.
Die Vielfalt der Themen lässt Jenkins zu dem Schluss kommen: „Religion wird eine intensivere Rolle in öffentlichen Diskussionen spielen, besonders wenn diese durch Gerichtsentscheidungen in kritischen und mit emotionsgeladenen Fragen, im Blick auf Sexualität und Geschlecht, Familie und Kinder, Tod und Verschiebungen in der Definition von Leben angefacht werden. ‚Gottes Erdteil’ birgt noch mehr Leben in sich. Als irgendjemand vor wenigen Jahre für möglich gehalten hätte“ (S. 355). Dies dürfte sicher auch für amerikanische Leser eine wichtige Einsicht sein, mit denen diese sich durch die 2007 erschienene Originalausgabe (Oxford Press) konstruktiv auseinandersetzen können.
Zusammenfassung: Christentum, Islam und die Zukunft Europas
Die Literatur zu den Themen Europa und Religion im Spannungsfeld von Staat, Kirche, Islam, Islamisierung, Islamismus, Terrorismus ist kaum noch zu übersehen. Jenkins gelingt es jedoch mit seinem Blick „von außen“, die Gefahren und Chancen in multireligiösen Zusammenhängen zu benennen. Denn es ist entscheidend, dass in den gesellschaftlichen Umbrüchen die Humanität weiterhin gesellschaftlicher und politischer Schlüssel des Handelns bleibt.
Ein weiterhin einigermaßen friedliches Europa wird nur dann Realität bleiben können, wenn die unterschiedlichen religiösen Traditionen die gemeinsamen Werte, einschließlich der Menschenrechte, der Demokratie und der Meinungsfreiheit als „ihre“ Sache ansehen. Sowohl religiöse Führer wie Politiker des „Westens“ haben sich davor zu hüten, mit zweierlei Maß zu messen, indem sie anderen predigen und selbst verwerflich werden.
„>Gottes Erdteil< birgt noch mehr Leben in sich, als irgendjemand vor wenigen Jahre für möglich gehalten hätte“ (S. 355).
Wenn man dieses Buch (2007 auf Englisch und 2008 auf Deutsch erschienen) nach längerer Zeit wieder ins Blickfeld rückt, ist man erstaunt, wie die von Jenkins gesetzten Orientierungsmarken für ein besseres Verständnis europäischer Entwicklungen in religiöser Perspektive eher noch aktueller geworden sind. Wer über die Zukunft Europas und den Stellenwert von Christentum und Islam auf „Gottes Kontinent“ klärende Ausblicke sucht, wird dieses Buch (erneut) mit Gewinn lesen.
English Summary: Christianity, Islam, and the Future of Europe
It is nearly impossible to overlook the literature on the subjects on Europe and religion in the fields of conflict between state, church, Islam, islamization, islamism, and terrorism. Jenkins succeeds, however, with his view "from outside" to name the dangers and opportunities in multi-religious contexts. For it is crucial that humanity continues to be the social and political key to act in the social upheavals. A still reasonably peaceful Europe will only be able to remain a reality if the different religious traditions regard as "their" thing the common values, including human rights, democracy and freedom of opinion. Both religious leaders and Western politicians must beware of double standards by preaching to others and becoming self-condemnable. ">God's continent< has more life in it, as anyone would have thought possible a few years ago "(p. 355).
When this book (2007 in English and 2008 in German) comes again into the focus after a long time, it is astonishing how the landmarks set by Jenkins for a better understanding of European developments in a religious perspective have become rather more actual. If you are looking for a clearer view of the future of Europe and the status of Christianity and Islam on "God's Continent", you will (again) read this book with benefit.
Résumé français: Christianisme, islam et l’avenir de l’Europe
il est presqu’impossible pour avoir une vue d’emsemble de la littérature sur l'Europe et la religion dans la tension entre l'Etat, l'église, l'islam, l'islamisation, l'islamisme et terrorisme. Jenkins, cependant, parvient à son point de vue «de l'extérieur» pour nommer les menaces et les chances dans un contexte multireligieux. Parce qu'il est essentiel que l’humanité reste la clé sociale et politique pour agir dans les bouleversements sociaux.
Une Europe tant bien que mal paisible ne restera qu’une réalité à condition que les différentes traditions religieuses considèrent les valeurs partagées, y compris les droits de l'homme, la démocratie et la liberté d'opinion comme «leur» enjeu. Il faut aussi bien les dirigeants religieux que les politiciens de «l'Occident» se gardent des doubles standards, en prêchant aux autres et devenir condamnables eux-mêmes.
«>Le continent de Dieu< comporte encore plus de vie en lui-même qu’on aurait pensé pour possible, il y a quelques ans avant« (p 355).
Si on remet ce livre au champ visuel après longtemps (publié en 2007 en anglais et en allemand en 2008), on est étonné de voir comment l'ensemble des points de référence par Jenkins pour une meilleure compréhension des développements européens ont devenu encore plus actuels dans une perspective religieuse. Ceux qui cherchent des perspectives clarifiantes pour l'avenir de l'Europe et la position du christianisme et de l'islam dans «le Continent de Dieu», liront ce livre (encore une fois) avec réussite.
Reinhard Kirste
 Rz-Jenkins, 16.08.08, aktualisiert 15.03.2019 


Samstag, 9. März 2019

Werner Trutwin und die Religionen der Welt: Didaktische Orientierungen (aktualisiert)


Angesichts der Globalisierung und rasanten gesellschaftlichen Entwicklungen zeigte sich bereits im letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts zunehmend die Notwendigkeit, umfassende Kenntnisse und vertiefte Einsichten in die Religionen zu erwerben. Die Schule und mit ihr der Religionsunterricht haben dabei eine entscheidende Schlüsselrolle erhalten.
Mit dem (katholischen) Theologen und Religionspädagogen Werner Trutwin 
(06.03.1929-12.02.2019) wurde schon bald ein kompetenten Didaktiker gewonnen. Er setzte sich sein Leben lang  als  dialogoffener Christ und Lehrer für eine sachkompetente Begegnung der Religionen und zugleich für eine kritische Auseinandersetzung im Religionsunterricht ein.
Die Verlage Patmos, bsv und Cornelsen haben kontinuierlich sowohl das theologische als auch das didaktische bzw. unterrichtspraktische Werk von Werner Trutwin  betreut.
Dies zeigt sich sehr deutlich auch in seinen Schulbüchern für katholische  Religionslehre: 
Das als Longseller thematisch aufgebaute und in vielen Heften erschienene „Theologische Forum“ [seit 1970, ebenfalls bei Patmos] haben viele Schüler als Materialbasis benutzt
--- Theologisches Forum: hier
--- Fortsetzung als "Neues Forum Religion": hier

Von Anfang an kam bei Trutwin neben den christlichen Themen und ethischen Fragestellungen die Darstellung der Weltreligionen in den Blick – mit den entsprechenden Unterrichtsmaterialien.    
In der Würdigung des Patmos-Verlages zum Lebenswerk von Werner Trutwin wird sein facettenreiches Engagement sehr schön deutlich.

Zum Tod von Werner Trutwin am 12.02.2019 
Werner Trutwin (2013, wikipedia)
  • Nachruf des Instituts für Lehrerfortbildung (ILF) Düsseldorf
  • Johannes Röser:  Der Glaubenslehrer 
    Nachruf in "Christ in der Gegenwart, 24.02.2019
  • Nachruf von Roman Mensing
    Münsteraner Forum für Theologie und Kirche, 20.02.2019
  • Aus dem Nachruf
    von Bruder Stephan Reimund Senge,
    Abtei Himmerod

    Himmeroder Rundbrief Nr. 03 (März 2019)
    Es ist schon ein kostbares Geschenk, um Menschen zu wissen 
    wie Werner Trutwin, der nun heimgegangen ist im 90. Lebensjahr, nicht nur ein beharrlicher Freund Himmerods, das er schon vor Jahrzehnten mit seinen Schülerinnen und Schülern aufsuchte, nicht nur der Verfasser und Gestalter von ungemein instruktiven und spannenden Religionsbüchern für alle Schulzweige seit einem halben Jahrhundert, nicht nur… Ach, andere können besser zum Ausdruck bringen, was er vielen bedeutete, was er schrieb, besprach, einbrachte, gestaltete und anregte! ...  Auf der Benachrichtigung über sein Ableben steht ein wunderbarer Satz: „Er ist in die unendliche Liebe Gottes hineingegangen.“ Ach, Werner, toll, dass Du umgezogen bist in die ewigen Wohnungen! Eines Tages kommen wir nach, wenn DER, DER uns unendlich liebhat, bei uns anklopft.
    Auf 
    Wiedersehn, Werner! Dein Stephan  

Didaktische Einführungen in die großen Weltreligionen

Der bisherigen Reihe „Die Weltreligionen“ (Patmos-Verlag 1998/1999) folgte eine unter dem Signet „bsv/Patmos“ die völlig neubearbeitete „Serie“ von fünf wichtigen
Weltreligionen:

Weltreligionen – für die Sekundarstufe II:  Islam, Judentum, Hinduismus, Buddhismus (2011), jeweils 192 S. --- Christentum (2012), 192 S. 

Das mehrfach überarbeitete Sachbuch und nicht auf die Schule zugeschnittene Werk:  
Werner Trutwin: Die Weltreligionen. Wege zum Licht
Düsseldorf: Patmos 1996, 464 S., Abb., --- 
Sonderausgabe 2002: "Die Weltreligionen" [Albatros], ebenfalls im Patmos-Verlag, zuerst 1976 erschienen unter dem Titel "Licht vom Licht. Religionen in unserer Welt" (s. Bild), kann man fast als eine Art (unterstützendes) Grundwerk für die hier angezeigten Arbeitsbücher bezeichnen.

Die neue Serie "Weltreligionen" dient wie die ältere Reihe überwiegend dem Religionsunterricht beider Konfessionen. Es sei angemerkt, dass ihr religiöser Schwerpunkt den Einsatz auch in anderen Schulfächern, also auch im Ethik-Unterricht, in Philosophie, Geschichte, Geografie und sogar im Kunstunterricht nahelegt. Mehr noch: Auch in der Erwachsenenbildung können diese Hefte ausgesprochen sinnvoll benutzt werden. 

Zur Gliederung:
Nach Anregungen für die unterrichtliche Arbeit folgen sog. Annäherungen, das heißt Besonderheiten der jeweiligen Religion – gerade im Blick auf ihr Selbstverständnis. Dann geht es weiter in die Geschichte, die heiligen Schriften werden vorgestellt, Gottesbilder bzw. das Transzendenzverständnis kommt zur Sprache, anthropologische Präzisierungen, Ethik und Moral, Bräuche, Riten, und Feste. Es werden immer Glaubensschwerpunkte besonders herausgestellt. An wichtigen Persönlichkeiten in Vergangenheit und Gegenwart kommen wirkungsgeschichtliche Weichenstellungen ins und religiöse Veränderungen innerhalb der Religion ins Blickfeld. Die Verbindungen zu den kulturellen Vorgegebenheiten und Korrelationen im Blick auf Geografie, Architektur, Kunst, Poesie usw. zeigen die vielen Gesichter der jeweiligen Religion. Mystische Dimensionen und politische Realisierungen, gegenwärtige Probleme und die Begegnung mit anderen Religionen finden schließlich im Heft auch noch Platz.
Trotz dieser eingängigen Grundstruktur geht Trutwin auch christlich-vorurteilsbedingten Vereinfachungen aus dem Wege und eröffnet – verbunden mit zusätzlichen Hinweisen und Arbeitsaufgaben – einen eigenständigen und differenzierten Zugang zu der behandelten Religion. Er verfällt dabei auch nicht einer religionskundlichen „Objektivität“, sondern übt eine von Sympathie für die anderen Religionen getragene Darstellung.


Weltreligionen: Judentum
--- ISBN 978-3-7627-0432-4 ---

Trutwin verweist gleich am Anfang darauf, dass das Judentum nicht nur in seiner Sonderstellung zum Christentum eine herausragende und prägende Rolle spiele. Zugleich ist das Judentum die älteste lebende Religion neben dem Hinduismus. So muss also das Judesein besonders geklärt werden und die wechselvolle Geschichte wenigstens in Umrissen nachgezeichnet werden. Die „Schriften der Heiligkeit“, das Gottes-Tetragramm JHWH, der Schöpfungsgedanke und das Ethos werden immer auch unter den vergangenen und gegenwärtigen Bedingungen angesprochen.
Nach Alltag und Festen, Strukturierung des jüdischen Jahres, wird das Messias-Problem gerade in Abgrenzung und Gemeinsamkeit mit dem Christentum behandelt. Dass wichtige jüdische Persönlichkeiten den Schülern näher gebracht werden, macht die Vielfältigkeit jüdischer Intellektueller konkret: Philo von Alexandrien, Maimonides, Baruch Spinoza, Moses Mendelssohn, Martin Buber, Walter Benjamin, Hannah Arendt, Emmanuel Lévinas. Die vielen Gesichter des Judentums kommen nicht nur in Architektur und Kunst, sondern auch in jüdischer Typik zwischen Rabbinen, Mystikern, Chassidim, Orthodoxen und Reformern zur Sprache.
Im Folgenden bezieht sich Trutwin auf den Juden Jesus und die Trennung von Juden und Christen. Dann kommt das heutige Israel und Palästina sowie jüdisches Leben in Deutschland zur Sprache. Angesichts von Antisemitismus und Schoa ist dies ein hoffnungsvoller, aber zugleich belasteter „Trialog“ von Juden, Christen und Muslimen, beispielhaft dokumentiert an Jerusalem.



Weltreligionen: Islam
--- ISBN 978-3-7627-0420-1 ---

Dieses Unterrichtsmaterial wird sicher die größte Aufmerksamkeit in den Schulen finden, weil der Islam für die Menschen in Deutschland die nächste Religion neben dem traditionellen Christentum und dem Judentum ist. Es ist auch diejenige Religion, die mit den meisten Vorurteilen zu kämpfen hat. Trutwin sagt sehr klar, dass die mit dem Islam verbundenen bedrohlichen Elemente nicht ignoriert werden sollten. Das Bild des Islam lässt sich von daher nicht sinnvoll zeichnen: Der Islam ist eine „Religion, … die über viele positive Ressourcen verfügt, die für eine gute Zukunft der Menschheit nützlich sind“ (S. 4). Von dieser Einstellung her konstruiert der Autor nun einen Islamkurs, dem einige wichtige Daten vorangestellt werden, um von daher den Blick auf die Geschichte von Abraham bis in die Gegenwart zu zeichnen. Im Sinne der Intentionen versäumt es der Autor nicht, auf den Islam in seiner vielfältigen Schönheit in Kunst, Literatur und Architektur zu verweisen.
Die Basis des Heftes bilden die Ausführungen über den Propheten Mohammed, den Koran als Gottes Wort und den islamischen Glauben an den einen Gott. Von daher werden das Menschenbild im Islam und die ethischen Ableitungen (eben auch die 5 Säulen) thematisiert. Bei der Besprechung der „Scharia“ (S. 96ff) hätte man gewünscht, dass dies weniger als „Recht des Islam“, sondern mehr als Rechtsrahmen dargestellt worden wäre. Sehr schön ist dann die Auswahl wichtiger engagierter dialogoffener Persönlichkeiten von Mohammed Iqbal bis Fatima Mernissi.
Zu guter Letzt fächert Trutwin die Begegnung mit dem Islam „trialogisch“ auf und macht damit die inhaltliche Nähe und zugleich Problematik der theologischen und religionspolitischen Auseinandersetzung mit dem Islam deutlich.
Schon beim Blick auf die Geschichte fiel die Pluralität des Islam auf, die im Kapitel „Vielfalt statt Einheit“ deutlich durch die Darstellung der Sunniten, Schiiten, Alewiten, Wahabiten und des Sufismus ausdifferenziert wird. Die Aktualität fordert hier vermutlich bald eine Ergänzung durch die Bewegung der Salafiyya. Damit ist die Basis in der Spannung des heutigen Islamismus und der Rolle des Islam in der europäischen und deutschen Politik gegeben.
Im Rahmen eines Seminars an der TU Dortmund zum Thema "Vielfalt des Islam"
(WiSe 2013/2014) entstand eine ausführliche Besprechung des Islam-Arbeitsheftes.


  Weltreligionen: Hinduismus
--- ISBN 978-3-7627-0434-8 ---

Beim Hinduismus betont Trutwin zum einen den religiösen Pluralismus der indischen Religionen und die Bedeutung der heiligen Schriften mit ihrer zum Teil ausgefeilten Philosophie eine wesentliche Rolle. Zum andern geht es natürlich um die (reinkarnatorischen) Erlösungswege hin zur Befreiung (Moksha). Die Vielfalt der Götter wird sorgfältig auf die Grundstrukturen vom frühen Indra bis zu den wirkmächtigen „Haupt“göttinnen zurückgeführt. Natürlich kommt auch der göttlichen Dreigestalt die nötige Beachtung zu.

In der Folge wird die den Alltag durchdringende Spiritualität angesprochen: Heilige Kuh, Tantrismus, moralische Lebensordnung, Dharma-Struktur der Kasten. Aus der lebendigen Spiritualität erwuchsen und erwachsen Reformversuche bis hin zu eigenen Religionen: Buddhismus, Jainismus und Sikhismus.
Es sei auch erwähnt, dass Trutwin große indische Reform-Denker unter bestimmten Gesichtspunkten darstellt: Shankara als Lehrer der Einheit, Ranamuja als dualistischen Philosophen, Tagore als Dichter in neuer Zeit, Ramakrishna als Mystiker der Gottesliebe, Vivekananda als religiöser Reformator, Gandhi als Politiker der Gewaltlosigkeit.

Angesichts des dialogischen Ansatzes der Weltreligionen-Hefte setzt sich der Theologe am Schluss auch mit den Schwierigkeiten und Chancen interreligiöser Begegnung auseinander, und zwar sowohl im Blick auf den Islam in der indischen Geschichte und in der Gegenwart, auf das Christentum und auf die Möglichkeiten hin zu einem Religionen übergreifenden Weltethos.


                                              Weltreligionen: Buddhismus

--- ISBN 978-3-7627-0435-5 ---

Neben den Anregungen für die Arbeit erlaubt der „erste Blick“ einen Zugang, über den sich die Grundlagen und weiteren Besonderheiten des Buddhismus in seiner Vielfalt aufschlüsseln lassen. Diese nicht-theistische Glaubenstradition gilt als die erste „universale Religion“. In klarer Aufgliederung werden zuerst die buddhistischen Anfänge im Sinne eines Reform-Hinduismus auf dem indischen Subkontinent dargestellt. Es folgen das Leben des historischen Buddha mit den legendarischen Überhöhungen. Trutwin zeigt in der buddhistischen Lehre, dem Dharma, sowohl die literarisch-typischen Elemente wie die inhaltlichen Fundamente. Er elementarisiert dies auf die 4 Edlen Wahrheiten und den achtfachen Pfad, das Ich-Verständnis, die Anhaftungsproblematik, den Weg zum Verlöschen, zum Nirwana, ohne dass dazu eine personale Gottes- oder Göttervorstellung notwendig ist.
Die Ausformung der Lehre in der Theravada- und Mahayana-Richtung (kleines und großes Fahrzeug) verbindet er mit dem von Zen und dem Amida-Buddhismus. Das Diamantfahrzeug, die Vajrajana-Ausprägung, zeigt sich im tibetischen Buddhismus. Sie werden die Unterschiedlichkeit buddhistischer Entwicklungen und Rituale deutlich. Es entwickelt sich auch eine Spiritualität der Frömmigkeitspraxis in Festritualen, Kontemplation und ethisch-praktischer, Gewaltlosigkeit.
Dass die Wanderung des Buddhismus nach Westen diesen nicht nur selbst verändert hat, sondern auch eine große Herausforderung für die westliche Moderne geworden ist, zeigt sich nicht nur an Veränderungen der Frömmigkeitspraxis in den asiatischen Ländern, sondern in der Begegnung und Auseinandersetzung mit (post-)kolonialen Einflüssen und zunehmender Globalisierung. So werden buddhistische gewaltlose Aktionen und soziales Engagement mehr und mehr kennzeichnend. Dies wird an einigen Beispielen wie Ambedkar in Indien und Aung San Suu Kyi in Burma verdeutlicht.    
Dass es auch im Westen einen „Buddhismus light“ gibt, unterscheidet sich dann allerdings wesentlich von den asiatischen Aufbrüchen.
Der interreligiöse Aspekt des vorgestellten Heftes kommt ähnlich wie in den anderen Heften dadurch zum Ausdruck, dass neben dem Vergleich von Buddha und Jesus die unterschiedlichen Lebensziele thematisiert werden. Sie lassen allerdings die Frage offen, ob man als Christ zugleich Buddhist sein kann.


Weltreligionen: Christentum
ISBN 978-3-7627-0433-1 --- Rezension hier --- 

ZWISCHENBILANZ

Didaktischer Gewinn: Werner Trutwin ist es aus seiner christlichen Sicht heraus gelungen – unabhängig von der Konfession oder Religion – den SchülerInnen einführendes und vertiefendes Material zu wichtigen großen Religionen vorzulegen. Dies tut der ehemalige Lehrer ohne vorurteilsbehaftete Einführungen. Die Schüler haben so die Chance, mit diesem Material selbständig zu arbeiten. Die klare Struktur ermöglicht es, sich leicht zurecht zu finden. Die Glossare erlauben ein schnelles Nachschlagen wichtiger und oft fremder Begrifflichkeit. Dies gilt übrigens nicht nur für die asiatischen Religionen, sondern auch für die drei monotheistischen Glaubenstraditionen, wohlgemerkt auch für das Christentum; denn auch hier kann man von einer allgemeinen Grundbildung aller SchülerInnen nicht mehr ausgehen. Die dem Text schon beigegebenen Erläuterungen helfen, Sachverhalte umfassender zu verstehen. Das reiche Bildmaterial hat keineswegs illustrierenden Charakter, sondern ist Teil des Lernprozesses. Dieser stützt sich nicht nur auf Texte und Bilder, sondern auf die unmittelbar damit zusammenhängenden didaktischen Hinweise und Aufgabenstellungen.

Kontinutät der Lernwege im Blick auf andere Religionen: Diese ansprechend aufgemachte Reihe ist – wie schon erwähnt – eine Fortsetzung der im Patmos-Verlag 1998/1999 herausgekommenen Unterrichtsmaterialien. Werner Trutwin hat im Prinzip die damalige Grundstruktur beibehalten, hat jedoch Präzisierungen, neuere Forschungsergebnisse eingearbeitet und Aktualisierungen vorgenommen. Die „alte“ Reihe muss deshalb keineswegs ad acta gelegt werden, sondern kann als Hintergrundmaterial herangezogen werden. Dabei lohnt sich an manchen Stellen, besonders im Islam und im Christentum ein Vergleich der Fassungen. Dieser macht deutlich, dass unsere Kenntnis von den Weltreligionen immer wieder einer Revision bedarf. Es geht darum, mit empathischer Sichtweise auf die anderen Erlösungswege zuzugehen.
Hinzu kommt natürlich, dass alle religiösen Traditionen derzeit große Veränderungen durchmachen sowohl was den Umgang mit den Inhalten, der Interpretation der Glaubensgrundlagen als auch den Zusammenhang mit gesellschaftlichen Entwicklungen betrifft. Diese haben für die dargestellten Religionen im Westen oft eine andere Bedeutung als in den Herkunftsländern. Eine Printausgabe schreibt immer einen bestimmten Zeitpunkt fest. Man wird gespannt sein dürfen, wann Neuauflagen die aktuellen religiösen und politischen Veränderungen aufnehmen. Eine kompetente Basis-Arbeit zum Religionen-Lernen in der Sekundarstufe II ist hiermit jedoch gelegt.
                                                                                                              
  Reinhard Kirste


Die Vorgängerausgabe:

Werner Trutwin: Die Weltreligionen.

Arbeitsbücher
für die Sekundarstufe II. 

Religion – Philosophie – Ethik: 
JUDENTUM, CHRISTENTUM,
HINDUISMUS, BUDDHISMUS, ISLAM

Düsseldorf: Patmos 1998/1999 
mit weiteren Auflagen in den folgenden Jahren.



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Nevfel Cumart / Ulrich Waas: Orient - Okzident -------- kulturelle Bereicherung durch Begegnung (aktualisiert)

Nefvel Cumart / Ulrich Waas: 
Orient und Okzident  
 die andere Geschichte. 
Das Fremde als kulturelle Bereicherung. 
Buchreihe der Georges-Anawati-Stiftung, Bd. 14. 
Freiburg/Br. u.a.: Herder 2017, 240 S.
 
--- ISBN 978-3-451-37884-3 ---


InterReligiöse Bibliothek (IRB):
Buch des Monats September 2017
Die beiden Autoren sind von ihrer Herkunft und ihren Studien her mit dem Thema vertraut: Nevfel Cumart (geb, 1964) hat als Sohn türkischer Einwanderer Orientwissenschaften studiert und arbeitet als Schriftsteller, Übersetzer und Journalist. Ulrich Waas (geb. 1947) ist gewissermaßen ein Quereinsteiger, denn er war bis zu seiner Pensionierung für Sicherheitsfragen in Atomkraftwerken zuständig. Er arbeitete sich intensiv besonders durch Kulturreisen in die Geschichte Anatoliens ein.
Die Georges Anawati-Stiftung hat diesen Band herausgegeben. Ihre Intentionen zielen darauf ab, das gegenseitige Verständnis von Christen und Muslimen besonders zu fördern: 
Die Autoren widmen das Buch Semiya Simsek. Ihr Vater Enver Simsek wurde im September 2000 das erste Opfer in der Mordserie des rechtsradikalen, terroristischen Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU). In ihrer Rede im Februar 2012 angesichts der Morde des NSU und in ihrem Buch  Schmerzliche Heimat  (2013) spiegelt sich das Leiden ihrer Familie. Es ist ein Skandal, dass die Opfer als Täter verdächtigt wurden!  Das hat die Autoren motiviert, das Verbindende von Morgenland und Abendland in der Geschichte zu betonen.

Trotz aller Missverständnisse und nicht aufhörender Konfliktserien „Ost gegen West“ und „West gegen Ost“ gelingt es den Autoren, ein Bild der Hoffnung zu zeichnen. Das ist der Schwerpunkt in Kapitel 1. Die Vorstellungen der Extremisten auf beiden Seiten und die negativen Wahrnehmungen des Islam („Kampf der Kulturen“) bis in die Gegenwart werden keineswegs ausgeblendet. Vielmehr geht es in der Fortführung von Goethes Blick auf den Orient darum, respektvolles gegenseitiges Verständnis zu entwickeln. So entsteht eine west-östliche Religions- und Kulturgeschichte von der Steinzeit bis ins 20. Jahrhundert. Es ist ein guter Überblick, der die wesentlichen Epochen und Brennpunkte sachgemäß und verständlich beschreibt.
In Kapitel 2-4 erfolgt dann eine genauere Differenzierung im Blick auf den Kulturtransfer von Ost nach West, und zwar aufgegliedert in folgende Epochen: Hellenismus, Römisches Reich, Aufstieg des Christentums, das sog. Goldene Zeitalter des Islam zwischen 800 und 1100 und das Heraufkommen der Turkvölker. Das Kapitel 5 verweist auf den Vorsprung der islamischen Kultur im Hochmittelalter, besonders in den Naturwissenschaften. Mit dem Kapitel 6 und 7 kommt neben dem osmanischen Imperialismus auch der des Abendlandes zur Sprache. Machtverschiebungen unterschiedlicher Art führen schließlich zum Niedergang des Osmanischen Reiches.
Mit Kapitel 8 beginnen Rückblicke und gegenwärtige Reflexionen gleichermaßen. Angesichts der Quellenlage und genauerer Untersuchung der islamischen Anfänge lassen sich reichlich klischeehafte Vereinnahmungen oder Abwertungen aufdecken. Die Autoren betonen dann in Kapitel 9 die Flexibilität koranischen Verständnisses sowie im Handeln des Propheten Mohammed. Sie verweisen auch auf die Wertschätzung Jesu im Islam und die Betonung der Vernunft (S. 161ff, 151ff). Das Kapitel 10 geht den gegenseitigen Abgrenzungen sowie den christlichen und islamischen Vorurteilen bis in die Gegenwart nach: Der heutige islamistische Terrorismus hat die Reformversuche des 19. Jahrhunderts und das Salafiyya-Verständnis eines Mohammed Abduh und eines Dschmal ad-Din al-Afghani geradezu fanatisch karikiert (S. 113ff). Das verschärft die Schwierigkeiten heutiger Ost-West-Begegnung zusätzlich, wie Kapitel 11 zeigt.
In Kapitel 12 versuchen die Autoren, eine dialogfähige Bilanz zu ziehen, indem sie Wege für eine fruchtbare interreligiöse Begegnung aufzeichnen, und zwar durch Vernunft und Ablehnung von zweierlei Bewertungsmaßstäben. Die positiven Seiten des „Anderen“ lassen zugleich zukunftsorientierte Möglichkeiten aufscheinen.
Die Autoren sprechen insgesamt viele Aspekte einer Ost-West-Geschichte im Kontext des Islam an. Sie war und ist nicht nur (religiös) konfliktgeladen, sondern auch  von enger kultureller Verbundenheit geprägt. Einige Brennpunkte seien herausgehoben:  
  • Islamische Aufbrüche in Bagdad und Toledo sowie Kaiser Friedrich II. in seiner Funktion als Brückenbauer (S. 54f und 66f).
  • Das Osmanische Reich mit seinen christlichen Verbündeten (!), also kein Kampf Ost – West, sondern oft seltsame Realpolitik. Man denke an die Anti-Kaiser-Koalitionen und die preußische Türkenpolitik (S. 104).
  • Seit dem hohen Mittelalter fällt eine zunehmende Dogmatisierung des Islam auf (besonders Ibn Taimiyya im 13./14. Jh.) gegen die immer wieder Aufklärer als flexible Ausleger von Koran und Sunna auftreten.
  • Der Koran und die Gewalt: Die Autoren reden die problematischen Korantexte nicht klein, die angesichts der Sure 5,32 und einiger weiterer Stellen zu ausgesprochen „grenzwertigen Kommentaren“ führen. Das betrifft nicht nur fundamentalistische islamische Theologen (S. 142ff).

In Erinnerung an die Mu‘taziliten mit ihrer Betonung der Rationalität ist es darum besonders wichtig, die Debatte um den Idschtihad im Sinne eines offenen Tors der Auslegung neu ins Spiel zu bringen
(S. 152–155). Das haben Autoren wie Kermani, Abu Zaid und Khorchide bereits getan. Auch aus Franz von Assisis friedlichen Orient-Begegnungen lässt sich gegenwärtig viel lernen. Die einzige Chance scheint nämlich zu sein, dass „man den Weg zu einer glaubwürdigen Verständigung zwischen der Mehrheit bzw. ihren Repräsentanten in Abendland und Morgenland findet“ (S. 226). Stolpersteine auf diesem Weg dorthin gibt es allerdings genug! Dass jedoch ein Muslim und ein Christ gleichermaßen und einhellig betonen, dass ein politisches und theologisches Umdenken großen Stils notwendig ist, signalisiert zumindest Hoffnung für einen Frieden der Kulturen und Religionen, der herstellbar ist.
Reinhard Kirste



Rz-Cumart-Orient-Okzident, 31.08.17