Montag, 6. Februar 2017

Ibn al-Farid: Reisewege der Seele (aktualisiert)



Ibn al-Farid: Der Diwan. 
Mystische Poesie aus dem 13. Jahrhundert.
Aus dem Arabischen übersetzt

und herausgegeben von Renate Jacobi. 

Berlin: Verlag der Weltreligionen im Insel-Verlag (Suhrkamp)
Berlin 2012, 407 S., mehrere Register

--- ISBN 978-3-458-70037-1 ---
Kurzrezension: hier

Ausführliche Beschreibung
Der Diwan des Ibn al-Farid lenkt den Blick auf einen der herausragenden Vertreter des späteren Sufismus und der arabischen Poesie. Er hieß mit vollem Namen: Ibn al-Farid, ‘Umar ibn ‘Ali Abu'l-Qasim al-Misri al-Sa’di. Er wurde 1181 in Kairo geboren und starb auch dort im Jahre 1235. Er wurde wegen seiner herausragenden Persönlichkeit und verinnerlichten Sprache geradezu als Heiliger verehrt. Er lässt sich in seiner gelebten Spiritualität und sprachlichen Ausdruckskraft durchaus mit Meister Eckhart, Johannes vom Kreuz und Angelus Silesius vergleichen. Ibn al-Farid entstammte einer Gelehrtenfamilie aus Hama in Syrien, wanderte jedoch nach Ägypten aus. Schon früh kam er mit dem Sufismus in Berührung und übte sich in asketischen Praktiken und intensiven Anbetungsübungen. 
15 Jahre blieb er nach dem Tod des Vaters in Mekka, ehe er nach Kairo zurückkehrte. Später machte er sich mit seinen beiden Söhnen noch einmal auf die Pilgerreise nach Mekka, wo sie sich Sufi-Gruppen anschlossen. Sie sollen dort Shihab al-Din Umar as-Suhrawardi (1145-1234), d.h. dem Neffen des Ordensgründers der Suhrawardiyya, begegnet sein.
Während seiner letzten Jahre in Kairo hatte Ibn al-Farid großen Einfluss auf das spirituelle Leben Kairos. Er wohnte nicht nur in der Nähe der Al-Azhar Universität, sondern seine Wohnung entwickelte sich auch zu einem mystischen Zentrum mit Koran-Rezitationen, theologischen Gesprächen und intensiven mystischen Gebeten, den dhikrs. 
Es sei daran erinnert, dass der ayyubidische Sultan al-Malik al-Kamil (um 1180–1238) angesichts des Kreuzzugs von Kaiser Friedrich II. (1194–1250) mit diesem in intensiven Verhandlungen stand. Und allein durch diplomatisches Geschick beider erhielt Friedrich II. 1229 das Königreich Jerusalem – mit ausdrücklicher Bestätigung durch den Ayyubiden-Sultan.
Der Diwan des al-Farid beginnt mit den Kassiden“. Der Dichter bezieht sich dabei auf die arabisch-poetische Tradition der Beduinenpoesie mit ihrer Symbolik. Eine Kasside beschreibt lyrisch und variantenreich immer wieder den Schmerz der Trennung von der Geliebten und den Freunden.
„Denn wenn die Liebe treu ist, scheint der Aufschub schön. Ich schwöre bei der Heiligkeit des Bundes, den ich niemals löste. Und bei dem Band, das unsere Hände bindet und unlöslich ist: Im Zorn der Trennung und im Frieden der gestillten Sehnsucht bist du in meinem Herzen, es ist niemals frei von dir.“ (S. 64)

Geradezu unvermittelt wird die räumliche Trennung zu einer Seelenreise, in der ebenfalls Liebe und Leiden dicht beieinander liegen. Die Texte verweisen schnell über das menschliche Empfinden hinaus in göttliche Dimensionen. Liebessehnsucht und Trennungsschmerz machen die Begrenztheit menschlichen Lebens offenbar, die es zu überwinden gilt.
Im folgenden Weinlied bricht die Symbolik von Wein und Weinstock so durch, dass die Trunkenheit durch den wahren Wein den Begrenzungen durch die Zeit keine Macht mehr gibt. Man kann ahnen, dass angesichts solch kühner Verse engstirnige Fromme „Ketzerei“ riefen. Dies musste sich noch bei der Betrachtung seiner spirituellen Reisebeschreibung „Die Ordnung des Weges“ verstärken, denn auf dem Weg zur Vereinigung mit dem Göttlichen, wo Ich und Gott verschmelzen, wird das wahre Selbst lichtvoll erfasst. Erfahrungen der Gottesliebe brechen in den (Schöpfungs-)Manifestationen des Kosmos durch, in Bildern von Gefährdung und von Gnade. Dies geschieht in einer sprachlichen Ästhetik, der es gelingt, sich dem Geheimnis der Überwindung von Dualität anzunähern. Die organisierten Religionsformen spielen dabei kaum noch eine Rolle.
Als ich den Spalt geschlossen hatte und die Risse in der Einheit, entstanden durch die Eigenschaften, sich zusammenfügten, als nichts mehr blieb, was zwischen mir und der Gewissheit vertrauter Liebe zur Entfremdung führen konnte, erkannte ich, dass wir in Wahrheit beide eins sind, vorbei die Trennung, wie die Nüchternheit der Einheit es beweist“ (S. 114).

Ich frage mich bei den Stufen der „Weg-Ordnung“ sogar, ob sich nicht trotz der unterschiedlichen Sprachstile bei dem Poeten al-Farid und dem bereits 1191 in Aleppo hingerichteten iranischen Mystiker-Philosophen Shahab ad-Din Yahya al-Suhrawardi (1153-1193) eine innere Nähe auftut. Der Poet redet von Stufen eines seelischen Reiseweges, der Philosoph spricht von der Seelenwanderung ins reine Licht (vgl. die Rezension zu dessen „Philosophie der Erleuchtung“: http://buchvorstellungen.blogspot.de/2013/01/v-behaviorurldefaultvmlo.html).
Wie dem auch sei, der ausführliche Kommentar zum Buch ist eine Hinführung zu dem großen Mystiker, was sein Leben, Denken und Wirken betrifft: „Prägungen“ durch intuitive Erkenntnis (S. 155ff). Durch die Erläuterungen lässt sich al-Farids Weg zur Einheit, der „unio mystica, über die verschiedenen Stufen leichter nachvollziehen. Zum Verständnis der Textdetails gibt es dann noch einen Verskommentar.
Auch wenn der Rezensent die Übersetzung nicht unter sprachwissenschaftlichen Gesichtspunkten beurteilen kann, so gelingt doch im lesenden Nachvollzug der vorgelegten Übersetzung ein Eintauchen in die mystische Tiefe des Ibn al-Farid. Man kann der Islamwissenschaftlerin Renate Jacobi darum nur dankbar sein, dass sie sich nicht nur der Mühe einer offensichtlich sehr sorgfältigen Übersetzung unterzogen hat, sondern dem Mystiker Ibn al-Farid sowohl in seiner Weiterbearbeitung arabischer Poetik-Traditionen methodisch wie inhaltlich nachgegangen ist. Den Lesenden eröffnet sich mit der bildreichen Sprache eine Welt, die aus dem Alltäglichen heraus in die Tiefe wahren Seins führt. Die innere Nähe zu christlichen MystikerInnen macht Ibn al-Farid zugleich zu einem Brückenbauer zwischen Orient und Okzident, und zwar in glaubwürdiger Authentizität über Religionsgrenzen hinweg. Ich wünschte mir, dass Ibn al-Farid mit seiner interreligiösen Perspektive stärker im christlich-islamischen Gespräch wirksam wird.

Reinhard Kirste

Rz-Ibn al-Farid,
zuerst veröffentlicht: 17.01.13

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