Ulrich
Willems, Detlef Pollack,
Helene Basu, Thomas Gutmann,
Ulrike Spohn (Hg.):
Moderne und Religion. Kontroversen um Modernität und Säkularisierung.
Reihe Sozialtheorie.
Bielefeld: Transcript 2013, 540 S.
--- ISBN 978-3-8376-1966-9 ---
Helene Basu, Thomas Gutmann,
Ulrike Spohn (Hg.):
Moderne und Religion. Kontroversen um Modernität und Säkularisierung.
Reihe Sozialtheorie.
Bielefeld: Transcript 2013, 540 S.
--- ISBN 978-3-8376-1966-9 ---
Ausführliche Beschreibung
Der
vorliegende voluminöse Band entstand aus dem Exzellenzcluster „Moderne – Religion – Politik. Konzepte,
Befunde und Perspektiven“ an der Universität Münster. Neben der
Ringvorlesung von 2009 werden weitere Beiträge dokumentiert. So entsteht unter
der weiten Thematik von Tradition und Moderne eine Art Epochenanalyse, in der
die Einordnung und Bedeutung der Säkularisierung in Relation zur Religion immer
wieder in den Fokus rückt. Einheitlichkeit der Bewertungen kann hier nicht
erwartet werden, und so bildet dieser Band die Umstrittenheit der Sachverhalte
ab, ohne sich auf einen Standpunkt festzulegen (S. 19). Neben den kompetenten
Herausgebern steht ein ganzes Team von Sozial- und Kulturwissenschaftlern sowie
Philosophen, die in diesen kontroversen Debatten im gegenüber zur
Säkularisierung die Veränderungen von Religion und Religionen in der Gegenwart
untersuchen.
In der
Einleitung nehmen die Herausgeber „Definitionen“ des Moderne-Begriffs als eine
Art fünffacher Status-Bestimmung vor: Betonung der Kontinuitäten statt
Epochenbrüchen, Kontingenz statt Determiniertheit im sozialen Wandel, Betonung
vielfältiger Modernitäten, Herausarbeitung einer nicht-westlichen, vielmehr einer
globalen Perspektive Pluralität; schließlich wird nicht mehr nach dem „Kern“
der Moderne gefragt (S. 13), sondern es geht zugespitzt um
Modernitätskonstruktionen. In zwei Blöcken wird nun versucht, die Kontroversen
zu bündeln und durchsichtig zu machen. Im 1. Teil beschreiben die Autoren die
unterschiedlich gelagerten Ansichten zur Moderne, im 2. Teil geht es um die
Spannungsbögen zwischen Säkularisierung und (der sog. Wiederkehr der) Religion.
1.
Kontroversen um die Moderne
Der
Soziologe Volker H. Schmidt von der Nationaluniversität in Singapur
untersucht die „Geschwindigkeiten“ verschiedener Modernisierungsströmungen im
Blick auf Gesellschaft, Kultur und Organismus im globalen Kontext. Dabei
verliert der „Westen“ seine zentrierende Funktion im Sinne von „polyzentrischen Strukturen“ (bes. S.
67). Wolfgang
Knöbl vom Soziologie-Institut der Universität Göttingen verweist
bisherige Modernisierungstheorien
bereits in die Historie. Sie sind trotz aller handlungstheoretischer Ansätze veraltete
Modelle. Für die Gegenwart sind sie nicht geeignet, so dass Knöbl letztlich für
Skepsis angesichts von Theorieansprüchen plädiert (S. 111). Zwischen
aufklärerischem Projekt der Moderne und Prozessen der Modernisierung seit dem
18. Jahrhundert versucht der Jenenser Soziologe Hartmut Rosa im Sinne von
Shmuel S. Eisenstadt „multiple modernities“ (S. 131ff) zu
orten. Wachstum und Beschleunigung haben Zwangscharakter bekommen und
Gegenentwürfe der „décroissance“ erzeugt (S. 139). Peter Wagner von der
Universität Barcelona geht dieselbe Problematik dagegen von den „sukzessiven Modernen“
an (S. 146f gegen Shmuel Eisenstadt),
die in ihrer Multiplität “das Gespenst des Relativismus“ aufscheinen lassen (S.
149).
Transformationen des Kapitalismus haben zugleich sich ändernde Ambivalenzen des materiellen
und politisch-gesellschaftlichen Fortschritts erzeugt. Eine andere Sichtweise –
sehr stark auf den Denkansatz von Gilles
de Leuze bezogen – bringt der Historiker Dipesh Chakrabarty von
der Universität Chicago ein, indem er sich mit dem Fokus auf Indien dem Historischen Materialismus
und sozialrevolutionärer
Moderne-Theorien annähert. Er verweist auf die kolonialen Konstruktionen,
die in den „Subaltern Studies“ die politische Kraft von Bauern oder
Randständigen der Gesellschaft systematisch unterbewerten. „Verschiebung“ westlich-sozialistischen
Denkens in Asien und „Verkleidung“ postkolonialer Neuaufbrüche werden darum zum
hermeneutischen Schlüsseln, mit denen der Autor Karl Marx in ein neues,
allerdings keineswegs hoffnungsfrohes Zukunftslicht rückt. Mit Martina
Wagner-Egelhaaf von der Universität Münster kommt eine
Literaturwissenschaftlerin ins Gespräch. Ihr liegt daran, die
Ausdifferenzierung der Wissenschaften in der Moderne als notwendige Forderung einer Transdisziplinarität im
Blick auf die Sozialwissenschaften zu begreifen. Sie plädiert darum für eine
(post-)moderne Interdisziplinarität, „die vorwärts, rückwärts und seitwärts
denken kann“ (S. 231).
2.
Kontroversen um Modernität und Säkularisierung
Mit dem
Abtasten der Modernisierungsströmungen im 1. Teil ist der Boden bereitet, um
nun den unterschiedlichen Narrativen, den Erzählmustern, im Spannungsfeld von
Religion und Moderne nachzugehen und den Fokus auf ein sich änderndes Säkularisierungsverständnis zu legen. Obwohl
Literaturwissenschaftler geht Albrecht Koschorke von der
Universität Konstanz mehr kulturwissenschaftlich und recht kritisch auf die
Behauptung bzw. die Narrative von der „Wiederkehr
der Religion“ ein. Säkularisierung kommt dabei im Fortschritts- wie im
Verfallsaspekt alles Transzendentalen zur Sprache. Gegenläufige Bewegungen wie
Fundamentalismus werden mit dem Narrativ der wiederkehrenden Religion abgefangen,
obwohl im Grunde nur das Beharrungsmoment von Religion damit zum Ausdruck kommt.
Dennoch halten sich Säkularisierungsgedanken, „einschließlich der in ihm als
Sedimentschicht gelagerten eurozentrischen Perspektive“ (S. 248). Als
Gesamtbild bleibt ein „asymmetrischer
Universalismus“ der Narrative „Europäische Moderne“ (S. 258).
Da darf man
gespannt sein, wie der Historiker Christof Dipper von der TU Darmstadt
„Religion in modernen Zeiten“ sieht (S. 262ff). Er hat das gängige
Geschichtsschema dafür parat: Zeitalter der Revolution, Moderne, Postmoderne.
Dabei scheinen sich Religion und Moderne als Gegensätze zu verstehen, was für
den Katholizismus zur Belastungsprobe wurde, während durch Max Webers Ansatz
von der „protestantischen Ethik“ ein schöpferisch-dialektisches Verhältnis
Fortschritt beschreibend wirkte. Die Merkmale
religiöser Moderne werden an Kulturschwellen und Kulturbrüchen besonders
markant. Die verschiedenen Lebenssphären erlauben keine Religionsgeschichte,
sondern nur noch „das Nebeneinander vieler Religionsgeschichten“ (S. 285). Der
Münsteraner Religionssoziologe, Kulturforscher und Mitherausgeber Detlef
Pollack ist durch seine Umfragen und Auswertungen des
Bertelsmann-Religionsmonitors 2013 einer breiteren Öffentlichkeit bekannt
geworden – auch im Blick auf die Untersuchung anti-islamischer Tendenzen in
Deutschland. Sein Beitrag hier im Buch wirkt nun wie ein erster ausführlicher
statistisch abgesicherter Bündelungsversuch in der Ambivalenz von Theorie und Empirie: „Politische Herrschaft wird
nicht mehr durch religiöse Formeln und Inszenierungen legitimiert,
wissenschaftliche Wahrheit nicht mehr durch Rekurs auf das Absolute begründet,
die Gültigkeit rechtlicher Normen nicht mehr aus theologischen Denkfiguren
hergeleitet, und selbst die Moral hat sich von ihren religiösen Motiven
weitgehend unabhängig gemacht“ (S. 316). „Religion und Kirche [sind] von den
Folgen der Modernisierung doch eher negativ betroffen“ (S. 324). Das gilt nicht
nur für West-Europa, sondern auch für Amerika,
wie der Soziologe Steve Bruce von der
Universität Aberdeen betont. Denn trotz der bisherigen hohen Popularität von
jenseitig ausgerichteter Religiosität in den USA, hat sie inzwischen ihre
Integrationskraft weitgehend eingebüßt. Religion
verortet sich mehr und mehr psychologisierend im Diesseits. Gleichzeitig
hat die Polarisierung religiös-fundamentalistischer und säkularer
gesellschaftlicher Ausrichtung und Leben in Subkulturen erheblich zugenommen.
Und schließlich hat die Religion für Immigranten (noch) eine wichtige
Integrationsfunktion.
Shmuel N. Eisenstadt († 2010), einer
der Vordenker eines Moderneverständnisses jenseits jeglichen Eurozentrismus‘
verweist (in diesem nicht mehr zu Ende geführten Beitrag) auf die kulturelle Transformationen in
gesellschaftlichen Prozessen im Blick auf Status, Klassenzugehörigkeit,
soziale Netzwerke Organisationsstrukturen im Zusammenhang weitreichender
Einflüsse der Globalisierung. Dies trifft vehement auch die Religion(en), die
sich in der Gegenwart zwischen Konkurrenz
und interreligiöser Begegnung bewegen. Neben den Kulturwissenschaften im
weiteren Sinne haben auch Ethnologie und (die in Deutschland etwas
unterbewertete) Anthropologie ein gewichtiges Wort mitzureden, wie die Anthropologin
und Mitherausgeberin Helene Basu betont. Es geht nämlich
um den Weg, „auf dem die Ethnologie von der >primitiven< über die
>traditionelle> zur vielfältig modernen Gesellschaft gelangt ist“ (S.
383). Mit seiner vorkolonialen, kolonialen und postkolonialen Geschichte dient Indien dafür als signifikantes Beispiel.
Mit Charles
Taylor, emeritierter Philosophieprofessor aus Montreal (Kanada), kommt
ein weiterer wichtiger kritischer Ideengeber zum Verhältnis von Aufklärung und Moderne ins Gespräch. Er untersucht
vorneuzeitliche hierarchische Ordnungsvorstellungen zum Verstehen von Welt und
Mensch, um als Charakteristikum der Moderne gegenüber den alten Ordnungen das „wechselseitige Entgegenkommen“ zu
markieren (S. 429). Die neuzeitliche Ausrichtung von Hugo Grotius bis Max Weber
legt das Schwergewicht auf die Diesseitigkeit auch im Blick auf Normen und
Moral. Aber bei genauerem Hinsehen erweist sich die hoch gehaltene Richtlinie
der „bloßen Vernunft“ als eine „Fata Morgana“ (S. 445). Der Mitherausgeber Thomas
Gutmann, Rechtsphilosoph an der Universität Münster, scheint den
Taylorschen Überlegungen dasjenige Rechtssystem entgegenzusetzen, das die
Dynamik einer Modernisierung ausmacht, die auf normativen Diskursen beruht (S.
450). Das führt zur Abkehr vom Naturrecht hin zu den Menschenrechten. Die Religion gerät unter dem Gesetz der Freiheit
in eine nachrangige Position, denn Gesellschaften machen insgesamt normative Wandlungen durch. Zum Schluss
kommt auch noch Jürgen Habermas
ausführlich ins Spiel, der erst seit Ende der 1990er Jahre das Verhältnis
Religion und Moderne von seiner Theorie der „Genese der Moderne“ genauer bedenkt. Der mitherausgebende
Politikwissenschaftler Ulrich Willems von der Universität
Münster bemängelt dann auch an der Säkularisierungstheorie von Habermas, dass dieser
die erstaunliche Vitalität der Weltreligionen und die insgesamt veränderten
Bewusstseinseinstellungen nur unscharf beschreibt. Wenn sich Säkularität
wiederum für religiöse Traditionen öffnet, dann fehlen bei Habermas erstaunlicherweise
Elemente „wie etwa >moralische Intuitionen<, >kognitive Gehalte<
oder die >Kreativität religiöser Welterschließung< (S. 501.507).
Letztlich bleibt offen, wie „säkularistisch verhärtete Bürger“ von dem
„empfohlenen Bewusstseinswandel“ hin zu einer gewissen kooperativen Übersetzungsarbeit religiöser Gehalte überzeugt werden
können (S. 508.518f). So werden – wie der Autor bilanziert – angesichts der
gesellschaftlichen Pluralität „die Zwänge zu Verhandlung und Kompromiss erhöht
werden“ müssen (S. 520), ohne dass es dafür bereits eine eindeutige Strategie
gäbe.
Bilanz:
Der Leser /die Leserin erlebt eine Vielfalt von
Zugängen und eine intensive kontroverse Debatte, wie religiös oder säkular die „Epoche“
nun wirklich ist, die man als „Moderne“ bezeichnet. Herausgeber und Autoren haben
systematisierend, jedoch kaum wertend, zusammengetragen, wie angesichts der
„Moderne“ sich Religion nicht dogmatisch oder konfessionell eng fassen lässt.
Darum ist es extrem schwer festzuschreiben, wie Religion und Religionen in
ihren geschichtlichen und gegenwärtigen Wandlungsprozessen weiter wirken oder
neu ins Blickfeld treten. So bleibt auch unklar, welche Rolle Religion in ihrer Vielfalt in säkularen-pluralen
Gesellschaften spielen soll und wie sie selbst in ihrem moralischen Impetus Außenwirkungen
zeigt. Es bleibt zu hoffen, dass die aufgezeigten (Verstehens-)Konflikte
unter den Standards von Demokratie und Menschenrechten ausgetragen werden. Auf
eine Lösung des Spannungsfeldes Religion und Moderne muss man wohl vorläufig
verzichten. Aber säkular und religiös geprägte moralische Verantwortung dürfen niemals zur Disposition stehen.
Darum sollten die hier aufgezeigten Diskurse auch zu Handlungsempfehlungen
führen.
Angesichts religiös motivierter Konflikte weltweit, müssen auch Analysen gesellschaftlich umgesetzt werden.
Der Mitverfasser der UNO-Menschenrechtserklärung, Stéphane Hessel, mahnte zu Recht: Engagiert Euch!
Angesichts religiös motivierter Konflikte weltweit, müssen auch Analysen gesellschaftlich umgesetzt werden.
Der Mitverfasser der UNO-Menschenrechtserklärung, Stéphane Hessel, mahnte zu Recht: Engagiert Euch!
Weiterführendes:
1. Charles Taylor (* 1931) - (wikipedia)
Der Suhrkampverlag zum 90. Geburtstag
Am 5. November feierte der große kanadische Philosoph und Vordenker
des Kommunitarismus und Multikulturalismus Charles Taylor seinen 90. Geburtstag.
Sein bahnbrechendes Werk hat die Grundlagen der hermeneutischen Wissenschaften
vom Menschen und eines philosophischen Realismus rekonstruiert
und die Quellen des modernen Selbst und des sakulären Zeitalters freigelegt.
In seinem Zentrum steht der Mensch als sprechendes Tier.
>>> Charles Taylor: A Reader’s Guide – Ideas – Berggruen Institute
Sein bahnbrechendes Werk hat die Grundlagen der hermeneutischen Wissenschaften
vom Menschen und eines philosophischen Realismus rekonstruiert
und die Quellen des modernen Selbst und des sakulären Zeitalters freigelegt.
In seinem Zentrum steht der Mensch als sprechendes Tier.
>>> Charles Taylor: A Reader’s Guide – Ideas – Berggruen Institute
2. Claude Lévi-Strauss
- Dictionnaire Lévi-Strauss (Jean-Claude-Monod, dir.)
Paris: Bouquin [Laffont] 2022, 1188 pp.
Rezension / compte rendu:
Lévi-Strauss : ce qu’il doit, ce qu’il a fait, ce qu’on en retient
(Christian RUBY, Nonfiction, 01.06.2022)
- Claude-Lévi Strauss (1908-2009) - wikipedia
- L'Héritage de Lévi-Strauss (Analyse, L'Express, Octobre 2021)
- Lévi-Strauss. entre Montaigne et Rousseau
(Robert Kopp, Revue des Deux Mondes, 15.11.2021) - L'Express Novembre 2021, Inhaltsverzeichnis: Lévi-Strauss
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