Sonntag, 1. Juni 2014

Buch des Monats Juni 2014: Religionspädagogik im Spannungsfeld von Schule und Religion



Lucas Graßal: Wie Religion(en) lehren? Religiöse Bildung in deutschen religionspädagogischen Konzeptionen im Licht der Pluralistischen Religionstheologie von John Hick.
Pädagogische Beiträge zur Kulturbegegnung Band 30. Berlin: EB-Verlag 2013, 426 S.
(zugleich Diss. Universität Erlangen)
--- ISBN 978-3-86893-078-8 ---

Kurzrezension: hier

Ausführliche Beschreibung
Dies ist ein Buch zur Grundlegung des Religionsunterrichts in Deutschland im Horizont religionstheologischer Veränderungen. Der Autor, evangelischer Pfarrer, wurde mit dieser Arbeit in Erlangen als Stipendiat und Kollegiat des DFG-Graduiertenkollegs „Kulturhermeneutik“ promoviert. Er setzt seit 2010 als Schulpfarrer an zwei Gymnasien in München das nun auch praktisch um, was er als Orientierung für die Religions-Lehre generell und unter den jeweiligen schulpolitischen Bedingungen erarbeitet hat.
So kommen die entscheidenden Fragen auf die Agenda: Wie ist Religion zu unterrichten? Welche Bedeutung hat der konfessionelle Religionsunterricht im Kontext von Säkularisierung und sich verwischender religiöser Identitäten? Welche Funktion haben die Religionsgemeinschaften und die Lehrpläne für den Religionsunterricht an den staatlichen Schulen?


Darum müssen sowohl hermeneutische wie auch religionspädagogische Entscheidungen getroffen werden, die allerdings im öffentlichen Raum der Schule auf widerstreitende Interessen stoßen. Das lässt sich allein schon daran sehen, wie in einzelnen Bundesländern – etwa im Unterschied von Stadtstaaten und Flächenländern – Religionsunterricht und Ethik politisch „abgesegnet“ und praktisch erteilt wird.
Nun hat sich die Religionspädagogik bereits seit den 1960er Jahren des vorigen Jahrhunderts auf die religiös plurale Situation in den Schulen eingestellt und entsprechende Konzepte entwickelt. Sie schwanken zwischen der Beheimatung in der eigenen (Herkunfts-)Religion und im Sinne von Dialog und Auseinandersetzung mit Sinn- und Lebensfragen. In den 90er Jahren ist dann die grundsätzliche Ausrichtung des Religionsunterrichts überprüft worden. Dies geschah im Horizont der jeweiligen religiösen Tradition und ihrer Basiswerke mit der Zielrichtung der Weitervermittlung ohne Missionierungsabsichten.
Graßal bearbeitet nun sein Thema im Kontext des Moderne-Verständnisses von Jürgen Habermas (S. 203ff). Von daher muss natürlich der im Religionsunterricht wirkende Religionsbegriff analysiert und hinterfragt werden. Dem Verfasser hilft hier ein offenes Kulturverständnis im Sinne eines „abgrenzbaren, aber doch nach außen hin offenen Bestandes symbolischer Formen“ (S. 50). Die Gedächtnistheorie Assmans wie die mehr strukturalistische Kulturtheorien erlauben ihm, „das kulturelle Gedächtnis des Staates als in sich differenziert zu denken“ (S. 51). Graßal muss nun ausloten, wie angesichts von Festschreibungen religiöser Traditionen („Kanonisierung“) religiöse Identitätsverunsicherungen und -verluste aller Beteiligten (Lehrer, Schüler) abgefangen werden sollen. In einem säkularisierten und pluralen Gemeinwesen muss die Normativität der Vermittlung von Werten und Sinnorientierung darum neu bedacht werden. Dies gilt auch für den Religionsunterricht, weil die Spannung angesichts der „kanonisierenden Qualität schulischer Lernprozesse und der dabei leitenden konzeptionellen Entscheidungen und inhaltlichen Selektionen“ (S. 52) besonders auffällt.
Ehe es nun aber – wie angekündigt – zu einer kritischen Einbeziehung der Theologie Hicks im Blick auf  adäquate Modelle des Religionsunterrichts kommt, unterzieht Graßal die (praktizierten) Haupttypen einer sehr klaren und differenzierten Beschreibung: Es sind der von der EKD favorisierte konfessionell-kooperative Religionsunterricht, der Hamburger „Religionsunterricht für alle in evangelischer Verantwortung“ und das brandenburgische Schulfach „Lebensgestaltung – Ethik – Religionskunde“. Als Kriterien der Beurteilung dieser Unterrichtsformen setzt Graßal als „Marker“ die Konfessionalität, Individualität und Neutralität ein (S. 212ff).
So vorbereitet, kann der Autor die pluralistische Religionstheologie von John Hick einbringen, weil sie für unterschiedliche biografische wie gesellschaftliche Erfahrungen offen ist und Geltungsansprüche in ihrer Absolutheit begrenzt werden. Der theologische Ansatz von John Hick im Zusammenspiel von Gottesbild, Subjekttheorie, Menschenbild und Beschreibung des „Wirklichen“ ermöglicht nun eine soteriologisch orientierte Hermeneutik. Sie lässt sich auf die großen religiösen Traditionen anwenden und hebt ihre Ideale besonders dort hervor, wo sie moralisch umgesetzt werden oder Verstöße sich bemerkbar machen. Diese Bewertung lässt sich allerdings nicht „für kurzfristige religiöse Bewegungen, präaxiale Religionen, den marxistischen Humanismus“ übernehmen (S. 255). Die Anfragen an John Hicks Kriterienraster versucht Graßal nun didaktisch weiter zu entwickeln, so dass Konsequenzen für ein Wahrheitsverständnis benannt werden können (287ff), das sich an einem pluralen Kulturbegriff orientiert (S. 301ff). Solche Wahrheit kann weder absolut noch normativ sein. Wenn man nämlich auf die religiöse Bedeutungsebene geht, „so hängt folglich die Variabilität religiöser Wahrheit zum einen von der Variabilität des Gegenstandes ab, auf den sie sich bezieht, also der transzendenten Wirklichkeit, zum andern aber auch von dem Netz von Differenzen, in dem sie konzipiert wird“ (S. 284). Damit ist der Weg frei, Heil nicht nur in einer religiösen Tradition zu akzeptieren.
Im Schlusskapitel 7 führt Graßal die verschiedenen Religionsunterrichtsmodelle mit John Hicks Religionstheorie zusammen. Er erweitert Hick insofern, als er eine Didaktik der Pluralität entwickelt und sich dabei auf das offene Religionsverständnis von Johannes Lähnemann stützt. Es geht Graßal darum nicht um die Anpassung des Religionsunterrichts an gesellschaftliche Gegebenheiten, sondern um die religionspädagogische Authentizität im Kontext der religiös vorhanden Kulturen und Traditionen. Von daher kann sich der Autor nicht mit dem brandenburgischen LER anfreunden, grenzt sich aber auch etwas vom Hamburger Weg des Religionsunterrichts ab. Mit seiner Kritik am konfessionell-kooperativen Religionsunterricht und der dahinter stehenden Beheimatungsthese zielt Graßal letztlich auf eine Alternative zu den bisherigen Religionsunterrichtstypen, belässt es jedoch zumindest in dieser Arbeit bei der Fragestellung. Er plädiert nämlich dafür, dass die kanonisierende Praxis sowie die Synkretismen in Schule und Gesellschaft angesichts der notwenigen Neutralität des Staates von den Religionsgemeinschaften her neu aufgerollt werden sollten.
M.E. ergibt sich dennoch, dass sich aus dem Argumentationsmuster des Verfassers ein interreligiöser Religionsunterricht begründen lässt, dem das Hamburger Modell am nächsten kommt.
Insgesamt hat Graßal mit diesen Klärungen eine Basis für die weitere pädagogische Kulturbedeutung des Religionsunterrichts gelegt.
Reinhard Kirste

Rz-Graßal-Religionen, 31.05.14