Freitag, 5. August 2016

Die Islamische Welt im Umbruch - von 1900 bis heute

Reinhard Schulze: Geschichte der Islamischen Welt.
Von 1900 bis zur Gegenwart
  
München: C.H Beck 2016, 767 S., 7 Karten
--- ISBN 978-3-406-68855-3 ---
Grundlegend neu bearbeitete, 
aktualisierte und erweiterte Fassung des Buches
Geschichte der islamischen Welt im 20. Jahrhundert
 
(C.H. Beck 1994)
Als Reinhard Schulze,
Professor für Islamwissenschaft an der Universität Bern,

1994 in der  "Geschichte der islamischen Welt
 im 20. Jahrhundert" (überarb. Aufl. 2002)
die schwierigen Prozesse der Modernisierung

beschrieb und „Abschied von den Märchenländern“ nahm,
hat er dies nun ergänzt, erweitert und vertieft. 
Denn seit damals hat sich die Konfrontation zwischen dem Westen
und den islamischen Ländern verschärft:
11. September 2001, der Irakkrieg,

arabischer Frühling und Syrien sowie der „Islamische Staat“
 verleiten zur These: 

Islam und Terror gehören zusammen.
Schulzes Themen sind in der neuen Fassung gleich geblieben:
Fünf der ursprünglich sechs Kapitel hat er ergänzt: Die Überschriften,
auch der jeweiligen Unterabschnitte sind weitgehend unverändert. 
Er bietet Aktualisierungen zur Geistes-, Kultur- und politischen Geschichte
der islamischen Länder seit 1900 - insgesamt nun sieben große Kapitel.
Die Einleitung (S.13ff) skizziert originell die Geschichte der Islamischen Welt
von 1900 bis zur jüngsten Gegenwart. 

Das detailreiche Kapitel 1 steht unter dem Thema: 
Islamische Kultur und koloniale Moderne 1900–1920
Die Vision von einer islamischen Souveränität (S. 35 ff.) beginnt mit Der Umbruch 1905–1909:
Die Durchsetzung des nationalstaatlichen Konstitutionalismus (S. 46). 
Danach folgt: Die islamische Welt um 1900 (S. 46) – Die islamische Welt aus der Sicht 
eines muslimischen Intellektuellen (S. 49), Die arabische Halbinsel zu Beginn des 20. Jahrhunderts (S. 51)
 – Hegemoniale Konflikte (S. 53); Koloniale Krise und Konstitutionalismus (S. 57)
 – Politische Ideologien am Vorabend des Krieges (S. 59) und Konstitutionelle Forderungen (S. 63).
In Kapitel 2: Bürgerlicher Nationalismus und staatliche Unabhängigkeit 1920–1939
Es geht um das Kalifat zwischen Republikanismus und Royalismus, und zwar so aufgeschlüsselt: 
Die tripolitanische Republik (S. 99) – Die Rif-Republik (S. 102) – Die Abschaffung des Kalifenamts (S. 105)
– Indische Reaktionen (S. 110) – Der Konflikt um den Ḥiǧāz (Hedschas) 1924–1926 (S. 111) 
– Die Suche nach einem neuen Kalifen (S. 117), Islamische Nationalpolitik und die Deislamisierung
der politischen Öffentlichkeit (S. 118), Turkestan unter sowjetischer Herrschaft (S.121)
– Die Erhebung der Basmači (S. 124) – Islamischer Nationalkommunismus in der UdSSR 126
– Neue Ordnung in Afghanistan 129 – Die Rettung der Monarchie in Persien (S. 134)
– Islamische Politik in Algerien (S. 136) – Indonesische Formen islamischer Politik (S. 139).
Es folgt Die Weltwirtschaftskrise und die neuen islamischen Bewegungen: 
Die Weltwirtschaftskrise in der islamischen Welt (S.145); 
Die Gründung der ägyptischen Muslimbruderschaft (S. 149)
– Islamische Politik und Palästina (S. 154) – Die politische Transformation (S. 161ff.) 
und Faschismus in der islamischen Öffentlichkeit (S. 169).
Das Kapitel 3: Die Zeit der Restauration 1939–1958: Die islamische Welt im Zweiten Weltkrieg (S. 173). 
Kriegsfolgen (S. 174) – Wechselnde Bündnisse (S. 177) – Ein oder zwei Indien? (S. 179)
– Islam im Rahmen einer Staatsideologie: Indonesien (S. 183) 
– Die politische Wende in Marokko und Algerien 187; 
islamische Politik (S. 195) – Neue Staatsgründungen in der islamischen Welt (S. 199); Pakistan 1947 (S. 200)
– Israel / Palästina 1948 (S. 202) – Libyen 1951 (S. 207) – Das Scheitern der Nationalisten im Jemen (S. 209),
Die «liberale Dekade» oder die Revolte gegen die alte Ordnung (S. 212). Die ägyptische Republik (S. 212)
– Die Islamische Befreiungspartei in Palästina (S. 215) – Nationalpolitik im Iran 1951–1953 (S. 216)
– Das Ende der «Liberalen Dekade» (S. 220) sowie Saudi-Arabien (S. 222).
Aufschlussreich stellt das Kapitel 4 dar: 
Islamische Kultur und Republikanismus der Dritten Welt 1956–1973
mit diesen Unterthemen:
1.  Der Triumph der Dritten Welt (S. 227), Suez 1956 (S. 228)
– Islam als Kultur der nationalen Befreiung (S. 231)

– Der Niedergang des Royalismus (S. 233) – Libanon und Syrien 1958 und Irak 1958 
sowie Republikanismus im Jemen (S. 241).
2.  Die Kultur der Nationalen Befreiung (S. 244): Algerien im Krieg (S. 244)
– Islamische Nationalpolitik in Nordafrika (S. 251) – Regionalismus und Revolution in Indonesien (S. 256)
– Algerien auf dem Weg in den Einparteienstaat (S. 260).
3.  Der islamische Block und der Beginn der saudischen Hegemonie: 
Saudi-Arabien und die neue islamische Öffentlichkeit (S. 262)
– Islam als Ideologie der sozialen Befreiung (S. 267)
– Islamische Dissidenten in Iran (S. 270) – Der Stellvertreterkrieg im Jemen (S. 273)
 – Der baʿṯ an der Macht (S. 276).
4.  Der Niedergang des Republikanismus der Dritten Welt (S. 281).
Eine neue palästinensische Nationalpolitik und der Sechs-Tage-Krieg (S. 285) und:
Die saudische Hegemonie setzt sich durch (S. 290); Der Rückzug aus dem Jemen (S. 294)
– Die Durchsetzung der PLO und die islamische Öffentlichkeit (S. 296)
– Islamischer Republikanismus in Libyen (S. 299).
In Kapitel 5 wird beschrieben: Die Durchsetzung der islamischen Ideologien 1973–1989:             
1.  Die Krise der Jahre 1973 und 1974; Der Beginn der politischen Sezession (S. 301)

– Die Sezession von Bangladesch (S. 306); Die neuerliche Rekonstruktion der islamischen Öffentlichkeit:
Asketische Lebensmodelle der Praxis in Saudi-Arabien als Ausdruck eines neuen sozialen Standards
beeinflussten zunehmend den islamischen Diskurs (S. 312). Transnationale Verflechtungen (S. 313)
– Staatliche Reaktionen, der Oktoberkrieg und der Ölboom (S. 315)
– Die Politik der wirtschaftlichen Öffnung (S.319)
– Islamische Avantgarden in Ägypten (S. 321).
2.  Ethnizität und die Vollendung der islamischen Ideologien. Ethnizität und Befreiungsbewegungen
in der islamischen Welt (S. 327) – Perspektivwechsel im politischen Feld (S. 330)
– Der Krieg in Libanon (S. 333)
– Der Islam als Instrument nationalstaatlicher Restauration: Malaysia und Sudan (S. 335) 

– Islamische Politik in Malaysia 335 – Politischer Partikularismus im Sudan 337 
– Neue Fronten: der ägyptisch-israelische Friedensschluss (S. 339)
– Die islamische Revolution in Iran (S. 342).
3.  Anni horribiles in der islamischen Welt: 1979–1989 (S. 349ff.): Die Krise von Mekka 1979 (S. 350)
– Der Krieg in Afghanistan und die Islamisierung Pakistans (S. 354); 
Der iranisch-irakische Krieg (S. 364); 
Die Aporie der islamischen Bewegungen (S. 369); Die gescheiterte Islamisierung im Sudan (S. 374)
und Brotunruhen in den achtziger Jahren (S. 377)
– mit Diskreditierung der Idee einer „Islamischen Wirtschaft“ 
(S. 378ff., dazu CNRS-DFG-Projekte, etc. 1986-91).
Daraus folgte eine erste Umwertung der islamischen Ideologien (380ff).
Im 6. Kapitel folgt nun „Die Erosion der islamischen Öffentlichkeit“ 
Der Autor analysiert ausführlich jene anni horribiles zwischen 1979 und 1989:
1.  Eine mythische Erneuerung des Nationalismus?
Der Zusammenbruch der ideologischen Welten (S. 385);
Erhebung in Israel/Palästina (S. 390) und Kriegsende in Libanon (S. 395). 
Schulze hebt besonders hervor: 
Der Krieg um die Hegemonie über Afghanistan (1987–1994) [S. 398] 
sowie die ethnische und islamische Sezession
in der UdSSR (S. 400) mit den Tschetschenien-Kriege (S. 407ff). Das sind spannende Beschreibungen.
2.  Die islamische Welt nach dem Ende des Ost-West-Konflikts (S. 415)

– Verkehrte Fronten: der Krieg um Kuwait 1990/91 (S. 420)
– Das Plädoyer für eine «offene islamische Gesellschaft» (S. 424)
 – Algerische Bemühungen um die Demokratie (S. 425)
– Desintegration der Gesellschaft in Algerien (S. 431).
3.  Vom Ende der Hoffnung auf eine islamische Souveränität: Kein neuer Royalismus (S. 438)

– Ethnisierung des Islam: Der Krieg in Bosnien-Herzegowina (S. 441) – Gescheiterte Staaten
– Gescheiterte Gesellschaften: Somalia (S. 445) – Islam, Ethnizität und Ultrareligiosität (S. 450).        
4.  Zwischen Zivilgesellschaft und Militanz, Religion und Gesellschaft als normative Ordnungen (S. 456);

Die verspätete Globalisierung und die Vorboten der Revolte (S. 460)
 – Islamische Demokratisierung in Iran (S. 471)
– Der Umbruch in Indonesien (S. 475) – Die Modernisierung der islamischen Öffentlichkeit in der Türkei (S. 480)
– Der transnationale Terrorismus von al-Qāʿida und die Bewegung der Ṭālibān (S. 487)
– Die palästinensische Autonomie (S. 502)
 – Der Zusammenbruch des Irak (S. 510) und Das Scheitern einer Einheit im Jemen 1993–2011. 
Die sowjetische Besetzung Afghanistans und deren gewalttätige Folgen, 
die Golfkriege, der Bürgerkrieg in Algerien
und zu viele Konflikte zerstörten das Vertrauen in die Eliten, die durch social engineering 
die Gesellschaften entwickeln wollten.
Ein neues Kapitel 7 präsentiert den Arabischen Frühling und die Jahre danach“ (S. 521ff)
mit diesen Gesichtspunkten1.  Das Verharren der republikanischen Ordnung und
2.  Der Beginn der arabischen Revolten mit Sturz des Regimes in Tunesien (S. 528)

und Der politische Umbruch in Ägypten sowie die Rückkehr der alten Ordnung (S. 531).       
3.  Revolte als Krieg:  
Ultraislamische Bünde und soziale Nischen (S. 537) – Syrien im Krieg (S. 540)

 – Libyen 2011–2015 (S. 544)
4.  Neue Fronten: Konfessionalisierung im Jemen und in Baḥrain und 

Der jemenitische Krieg 2012–2015 551 – Revolte in einem Königreich: Baḥrain (S. 556) sowie
5.  Ultraislamische Bünde als neue territoriale Macht? (S. 559). Der «Islamische Staat» (S. 559)
 – Boko Haram in Nigeria (S 567) – Ethnizität und ultraislamische Bünde in Mali (S. 569). 
Dies wird in den genereller Kontext von Gesellschaft, Wirtschaft, Politik, Technik, Nation, Kultur, Fortschritt, 
Zivilisation eingebunden – Begriffe der Moderne die eine spezifische „islamische Rede“ (Schulze) formten. 
Das fremde Konzept des Nationalstaates brachte 56 Nationalstaaten, 41 davon sind koloniale Schöpfungen. 
Ausführlich als Folge des totalen Scheiterns der Eliten wird der Arabische Frühling behandelt. 
Die Entwicklungen,die mit der immer größer werdenden islamischen „Diaspora“ 
in Amerika und Europa sowie die wachsende Interdependenz der Kulturen könnten 
unter der Fragestellung Europäischer Islam? vertieft werden.
Bilanz
Reinhard Schulze schreibt als einer, der mit diesen Themenbereichen seit langem vertraut ist.
Er analysiert die Zusammenhänge in diesem Standardwerk für die islamische Geschichte
durchaus anspruchsvoll und zugleich vorbildlich. 
Angesichts der historischen wie der geographischen Breite der Ausführungen
– von Marokko bis Indonesien und von 1900 bis heute – skizziert er das Entscheidende
hoch kompetent.
Terrorakte und Flüchtlingsströme aus den Krisengebieten nach Europa bringen erneut Fragen, 
die mit einem differenzierteres Bild der islamischen Welt und ihrer unterschiedlichen Gesellschaften
einer Lösung leichter näher gebracht werden können. Das Internet beschleunigt dies 
sowohl in der westlichen als auch in der islamischen Öffentlichkeit.
Das detailreiche Buch sowie der Rückblick und Ausblick (S. 573ff) bringen abstrahierend die 
Ideenwelt und Realität zur Sprache und ermöglichen so einen umfassenden Überblick. 
Der Autor arbeitet das Versagen der einheimischen Eliten (Ägypten, Syrien, usw.) gut heraus.
Generell für das Verständnis der islamischen Welt ist dies ein vorbildliches Werk. 
Denn diese Publikation bringt informativ, kritisch und spannend fundierte Einblicke in die Probleme. 
Man findet hier eine wichtige Lektüre sowie einen adäquaten Anhang: 
Glossar, Literatur- und Stichwortverzeichnis, Zeittafel, Register und Karten (S. 585 ff.).
                                        Prof. em. Dr. Eckhard Freyer, Bonn
                                   
Rz-Schulze-Islam-Freyer
 05.08.16 


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