Mittwoch, 12. Juli 2017

Wieder im Blick: Indien und die Kastenproblematik

Miriam Nandi: M/Other India/s. 
Zur literarischen Verarbeitung von Armuts- und Kastenproblematik 

in ausgewählten Texten der indisch-englischen und muttersprachlichen indischen Literatur seit 1935. Anglistische Forschungen Bd. 377.

Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2007, 298 S.
(gleichzeitig Diss. Universität Freiburg/Br.)
ISBN 978-3-8253-5285-1

Der Titel verrät bereits die Spannung, in die hinein dieses Buch geschrieben ist. Die Zeit des Kolonialismus ist vorbei, und postkoloniale Theorien über Indien und besonders angesichts der Reizworte Kasten Armut, Orient zeigen eine Mischung aus Sehnsucht und Arroganz auf. Aber gerade die inner-indische Kritik nimmt im Spannungsfeld des anglisierten, intellektuellen städtischen Indien und der bitterarmen Landbevölkerung des „anderen Indien“ zu. Mit eigenem indisch-biografischen Hintergrund recherchiert und analysiert die 1974 geborene Verfasserin postkoloniale Literaturtheorien.

In ihrer klar gegliederten Dissertation, in die sie prägnant ausgewählte Literaturbeispiele (nur Prosa) eingefügt hat, arbeitet sie ein Stück weit die postkoloniale Ambivalenz auf, die Indien prägt. Sowohl in der englischsprachigen wie in der muttersprachlichen indischen Literatur des 20. Jahrhunderts (im Übergang von der Britischen Kolonie zur Unabhängigkeit und danach) zeigt sich diese Problematik, die damit zusammenhängt, dass zum einen die Mittelschicht in einem Lebenshorizont zu Hause ist, der immer noch durch die teilweise seltsame Hochachtung vor dem ehemaligen Kolonialherrn geprägt wird und zum anderen die Kastenlosen und damit auch die Dalit-Literatur außer acht lässt. Hier schlägt Miriam Nandi eine Schneise. Das Übrigbleiben des „Vaters“ und der Verlust von Mutter Indien hängt offensichtlich mit der hegemonialen Kolonial-Kultur und dem Problem der Subalternität zusammen Nandi stützt sich dabei . auf die Post-Kolonialismustheorien von Jacques Lacan und Homi Bhabas und deren Verständnis des Anderen – mit Rückbezug auf J. Derrida. Unbestritten, aber oft recht zwiespältig taucht das „andere Indien“ (M-other India) zwischen Unterdrückung und Widerstand auf – u.a. beispielhaft an den Dalit-Bewegungen und der Konversion Bhimao Ambedkars auch in der Auseinandersetzung mit Gandhi (S. 98ff) dargestellt.
Die Autorin zieht dann eine Reihe von Beispielen aus der indischen Literatur heran, SchriftstellerInnen, die auch in Europa teilweise sehr bekannt wurden und für ein westliches Publikum offensichtlich auch durch die Mischung aus Exotik und Sozialkritik hohe Attraktivität gewannen und gewinnen, wie die Indien-Veranstaltungen beispielsweise rund um die Frankfurter Buchmesse 2006 zeigten. Es sind Prosatexte indischer Autoren, die entweder englisch schreiben oder deren Muttersprache eine der indischen Hauptsprachen ist. Es kann hier nicht auf die einzelnen Literaturbeispiele eingegangen werden, es seien nur einige Namen und Titel genannt, auf die Nandi ausführlich eingeht: Mulk Raj Anand (Untouchable), U.R. Ananatha Murthy (Samskara), Mahasveti Devi (Draupadi), Arundathi Roy (The God of Small Things) und Shasi Deshpandi (The Binding Vine). Aber sie berücksichtigt auch Vikram Seth (A Suitable Boy), Vikram Chandra (Shakti), Salman Rushdie (Midnigh’s Children) sowie Amitav Gosh (The Hungry Tide).
Als Ergebnis sieht Miriam Nandi angesichts der vielfältigen Umbrüche auf dem indischen Subkontinent, dass die Theorie der “postkolonialen Ambivalenz“ geradezu ein hermeneutischer Schlüssel für das Verständnis anderer postkolonialer Literatur (nicht nur in Indien) sein kann. Für Indien aber gilt, dass das Andere Indien „aus dem Diskurs des Postkolonialismus nur scheinbar verschwunden“ ist – „als phantasmatische(s) M/Other India, als Objekt der Sehnsucht und der Angst, sucht es die indische Literatur immer wieder auf unheimliche Weise heim. Das ‚wirkliche’ Andere Indien bleibt damit freilich unerreichbar.“ (S. 278). Solange also die soziale Kluft und die weiter bestehenden Kastenideologien die literarischen Diskurse prägen, schwankt das Indienbild zwischen dem „kolonialen Vater“ und den „vorkolonialen Mutter“, und beides will nicht zusammenkommen (vgl. bereits S. 21). Die Problematik scheint sich weiter zu verschärfen, wenn der kritische Intellektuelle zum Fürsprecher des subalternen Anderen werden will (S. 22).
Nun geht es Nandi Miriam weder um das Hochloben subversiver literarischer Kritik noch um die Auseinandersetzung mit nationalistischen Fantasien. „Aus der Sicht der Theorie der postkolonialen Ambivalenz ist auch engagierte Literatur letztlich Teil eines postkolonialen Identitätsdiskurses, in dem es einerseits um Abgrenzung von den kolonialen Patriarchen, andererseits jedoch um das brüchige Verhältnis zwischen anglisierten Intellektuellen und ihrem ‚subalternen’ Anderen geht (vgl. S. 274f). Sie hat ebenfalls deutlich gemacht, wie problematisch Projektionen des „Anderen“ sind: So positiv das „andere Indien“ hervorgehoben wird, so schnell macht sich auch die dunkle Seite dieses Anderen breit. Als ein vermutlich „typisch“ westlicher Leser bleibt der Rezensent ausgesprochen nachdenklich zurück, und in die Faszination der Extreme mischen sich die Fragen, welchen Weg Indien wohl in den nächsten Jahren und Jahrzehnten gehen und wie das „Real India“ wohl aussehen wird.
Reinhard Kirste

 Rz-Nandi, 26.12.07 

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