Miriam
Nandi: M/Other India/s.
Zur literarischen Verarbeitung von Armuts- und
Kastenproblematik
in ausgewählten Texten der indisch-englischen und
muttersprachlichen indischen Literatur seit 1935. Anglistische
Forschungen Bd. 377.
Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2007,
298 S.
(gleichzeitig Diss. Universität Freiburg/Br.)
(gleichzeitig Diss. Universität Freiburg/Br.)
ISBN 978-3-8253-5285-1
Der Titel verrät bereits die Spannung, in die
hinein dieses Buch geschrieben ist. Die Zeit des Kolonialismus ist vorbei, und
postkoloniale Theorien über Indien und besonders angesichts der Reizworte
Kasten Armut, Orient zeigen eine Mischung aus Sehnsucht und Arroganz auf. Aber
gerade die inner-indische Kritik nimmt im Spannungsfeld des anglisierten,
intellektuellen städtischen Indien und der bitterarmen Landbevölkerung des
„anderen Indien“ zu. Mit eigenem indisch-biografischen Hintergrund recherchiert
und analysiert die 1974 geborene Verfasserin postkoloniale Literaturtheorien.
Die Autorin zieht dann
eine Reihe von Beispielen aus der indischen Literatur heran,
SchriftstellerInnen, die auch in Europa teilweise sehr bekannt wurden und für
ein westliches Publikum offensichtlich auch durch die Mischung aus Exotik und
Sozialkritik hohe Attraktivität gewannen und gewinnen, wie die Indien-Veranstaltungen
beispielsweise rund um die Frankfurter Buchmesse 2006 zeigten. Es sind
Prosatexte indischer Autoren, die entweder englisch schreiben oder deren
Muttersprache eine der indischen Hauptsprachen ist. Es kann hier nicht auf die
einzelnen Literaturbeispiele eingegangen werden, es seien nur einige Namen und
Titel genannt, auf die Nandi ausführlich eingeht: Mulk Raj Anand (Untouchable), U.R. Ananatha Murthy (Samskara), Mahasveti Devi (Draupadi), Arundathi Roy (The God of Small Things) und Shasi
Deshpandi (The Binding Vine). Aber
sie berücksichtigt auch Vikram Seth (A
Suitable Boy), Vikram Chandra (Shakti),
Salman Rushdie (Midnigh’s Children) sowie Amitav
Gosh (The Hungry Tide).
Als Ergebnis sieht Miriam Nandi
angesichts der vielfältigen Umbrüche auf dem indischen Subkontinent, dass die
Theorie der “postkolonialen Ambivalenz“ geradezu ein hermeneutischer Schlüssel
für das Verständnis anderer postkolonialer Literatur (nicht nur in Indien) sein
kann. Für Indien aber gilt, dass das Andere Indien „aus dem Diskurs des
Postkolonialismus nur scheinbar verschwunden“ ist – „als phantasmatische(s)
M/Other India, als Objekt der Sehnsucht und der Angst, sucht es die indische
Literatur immer wieder auf unheimliche Weise heim. Das ‚wirkliche’ Andere Indien
bleibt damit freilich unerreichbar.“ (S. 278). Solange also die soziale Kluft
und die weiter bestehenden Kastenideologien die literarischen Diskurse prägen,
schwankt das Indienbild zwischen dem „kolonialen Vater“ und den „vorkolonialen
Mutter“, und beides will nicht zusammenkommen (vgl. bereits S. 21). Die
Problematik scheint sich weiter zu verschärfen, wenn der kritische
Intellektuelle zum Fürsprecher des subalternen Anderen werden will (S. 22).
Nun geht es Nandi Miriam weder um das
Hochloben subversiver literarischer Kritik noch um die Auseinandersetzung mit
nationalistischen Fantasien. „Aus der Sicht der Theorie der postkolonialen
Ambivalenz ist auch engagierte Literatur letztlich Teil eines postkolonialen
Identitätsdiskurses, in dem es einerseits um Abgrenzung von den kolonialen
Patriarchen, andererseits jedoch um das brüchige Verhältnis zwischen
anglisierten Intellektuellen und ihrem ‚subalternen’ Anderen geht (vgl. S.
274f). Sie hat ebenfalls deutlich gemacht, wie problematisch Projektionen des „Anderen“
sind: So positiv das „andere Indien“ hervorgehoben wird, so schnell macht sich
auch die dunkle Seite dieses Anderen breit. Als ein vermutlich „typisch“ westlicher
Leser bleibt der Rezensent ausgesprochen nachdenklich zurück, und in die
Faszination der Extreme mischen sich die Fragen, welchen Weg Indien wohl in den
nächsten Jahren und Jahrzehnten gehen und wie das „Real India“ wohl aussehen wird.
Reinhard
Kirste
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