Dienstag, 27. Februar 2018

Milad Karimi: Gottes-Berührungen


Ahmad Milad Karimi:
Warum es Gott nicht gibt und er doch ist.

Freiburg u.a.: Herder 2018, 223 S.
mit einer Liste der zitierten TV-Serien und Filme (!)
--- ISBN 978-3-451-31310-3 ---
Bereits der Titel des Münsteraner Islamwissenschaftlers Milad Karimi (geb. 1979) erinnert an eine Formulierung Dietrich Bonhoeffers, die er in seinen Gefängnisbriefen „Widerstand und Ergebung“ niederschrieb: „Den Gott, den es gibt, gibt es nicht“. Dahinter steht der Gedanke, dass Gott ein wirkendes Geheimnis in seiner Offenbarung ist.
Außerdem: Welche Konsequenz hat es für das persönliche Leben, wenn es sozusagen objektiv Gott nur irgendwie und irgendwo gibt? Dietrich Bonhoeffer betonte, dass Gott mitten in unserem Leben jenseitig ist. Es geht darum, Religion nicht in starren Dogmen und Ritualen zu leben.
Hier entsteht durchaus eine Nähe zu Karimis Aussage:
„Die Religion kann Träger der Kultur sein, den Menschen zum besten erheben, aber sie kann auch Träger der Gewalt und des Übels sein … Nicht die Religion ist es, die dieses tut und jenes unterlässt, sondern wir selbst sind es, die gefragt sind, unsere Religiosität im besten Sinne mit dem Leben zu verflechten“ (S. 25). Nun zeigen die gegenwärtigen Debatten, dass man dem Islam am wenigsten zutraut, dies in friedlichem Sinne zu tun. Dem widerspricht allerdings die vorhandene Kulturgeschichte des Islam mit ihren unterschiedlichen Entwicklungssträngen.
Die Ambivalenz des Religiösen
Unbestreitbar bleibt aber die fehlende Eindeutigkeit des Religiösen – gerade angesichts der schockierenden Bilder von Gewalt, Frauenmissachtung und Diskriminierung religiöser Minderheiten. Dies ist für Karimi nun der Anknüpfungspunkt, den (hintergründig) religiösen Ausprägungen der Gegenwart nachzugehen. Dazu wählt er ein auf den ersten Blick ungewöhnliches Verfahren, nämlich bestimmte populäre (weitgehend amerikanische) TV-Serien unter diesen Gesichtspunkten als Belege für problematische religiöse Muster und Haltrungen und Wunschvorstellungen heranzuziehen. Es ist schon erstaunlich, wie vielfältig Gottesvorstellungen dort zur Sprache und ins Bild kommen: Game of Thrones, The Preacher, Die Simpsons, The Wire, Breaking Bad, Walking Dead, Mad Men, Homeland, Sopranos Hand of God, Der Pate u.v.a.m. Das ermöglicht zugleich, Rückschlüsse der besonderen Art zu ziehen. Anders formuliert: „Wenn sich die Religion auf eine bloß kulturelle Größe reduziert hat, die wir heute genauso gut, aber ohne irgendwelche aufgesetzten oder irrationalen Gebote und Verbote im Café, Kino oder Disco erleben können, dann hat die Religion tatsächlich nur noch eine antiquarische Bedeutung“ (S. 30). Dem ist jedoch keineswegs so, denn mit der Suche nach dem Sinn des Lebens ist das entscheidend Religiöse angesprochen, und hier „steht der Mensch als Mensch in Frage“ (S. 31). Im Kontext von Schleiermachers Votum von der Religion als Sinn und Geschmack für das Unendliche (S. 32), unternimmt Karimi nun den Nachweis, dass gerade der Islam darauf aufmerksam macht, dass Gott ein Geheimnis bleibt. Man kann Gott nicht „haben“, aber Religion lehrt, das Innere offenzuhalten, um zu hören und zu spüren, wie und wo sich Gott ereignet und sich damit gegenwärtig schöpferisch erweist.

Wer meint Gott habhaft zu werden, macht ihn nämlich zu einem Supergötzen, der aber die Hilfe des Menschen braucht, um „seinen Willen durchzusetzen. Wie könnte er auch sonst in die Welt eingreifen?“ (S. 44). So sehen sich die (islamistischen) Terroristen als Vollstrecker des Willens Gottes. Dass diese Mentalität auch in der Zeichentrickserie der Simpsons und anderen Serien auftaucht, zeigt die weite Verbreitung eines solchen Glaubensmusters. Und es ist auch nicht neu, dass sich brutale Gewaltausübung auf Gott beruft, so als müsse der Mensch Gott beschützen. Es ist vielmehr umgekehrt: Der im Islam Lebende fühlt sich von Gott getragen und beschützt (S. 48).
Rationalität und Inspiration im Islam
Aber die Erfahrungen des (alltäglichen) Lebens scheinen einen solchen Glaubensgrundsatz nicht selten zu konterkarieren. Weil aber die Suche nach (ewigem) Glück und Heil menschliche Zielvorstellungen derart stark beherrschen, sind Konflikte zwischen dem Vorfindlichen und dem Gewünschten geradezu vorprogrammiert. Der Tod ist dabei die schlechteste Lösung (S. 61). Der Islam aber ist eine Religion des Lebens und der Liebenden, deren Lebenskraft sich im Gebet immer wieder aufs Neue realisiert, weil im betenden Gottesgedenken der Mensch zu sich selbst zurückfindet. Darauf haben die Mystiker wie Rumi und Ibn `Arabi immer wieder aufmerksam gemacht: „Das Band, das den Menschen an Gott bindet, ist die Liebe“ (S. 77). Kann eine solche Religion durch die Auswüchse wie des „Islamischen Staates“ oder durch Karikaturen wirklich gelästert werden? Allerdings ließ und lässt Religion immer wieder Emotionen hochkochen. So ist Aufklärung im Sinne von Desillusionierung nötig, um jeglichen Schein zu überwinden und zur Wahrheit zu kommen. Religionskritik hat hier das Christentum notwendigerweise durchleben müssen. Für den Islam liegt die Sache jedoch anders, denn die islamische Philosophie und Theologie hat sich mit der Philosophie der Antike rational auseinandergesetzt und ist  zugleich vom Koran und dem Propheten Mohammed inspiriert (S. 93f). Der Islam – so zeigt die Geschichte – unternimmt die Aufklärung auf dem Weg der Ästhetik, denn die Schönheit führt „zur adäquaten Freiheit“ (S. 96) – ja Gott selbst ist schön.
Reinigung von den objektivierenden Gottesbildern und der Koran als Ereignis
Wenn die Leser/innen so weit gekommen sind , hat sich eine Frage für sie im Grunde bereits gelöst: Es gibt explizit keinen Unglauben. Und der neue Atheismus eines Hitchens oder Dawkins geht von Gläubigen als  primitiven und unfreien Menschen aus. Und diejenigen, die sich angesichts der Absurditäten und Sinnlosigkeiten des Lebens engagiert für den Tod Gottes einsetzen oder denen es gleichgültig ist, gehen von einem Gottesverständnis aus, dass es Gott irgendwie gibt. Sie machen damit ihr begrenztes Verständnis zum Maßstab des Unverrechenbaren. Sie überheben sich quasi bei der Frage nach Gott. Von daher ist die Reinigung von allen theistischen Gottesbildern, die wir verinnerlicht haben, notwendig. Das ist in anderer Weise durchaus a-theistisch. Karimi bezieht sich auf den französischen Philosophen Jean-Luc Nancy mit seinem „Atheistisch-Werden des Christentums“ (S. 113). Karimi hätte auch die Theologin Dorothee Sölle nennen können. „Atheistisch an Gott glauben“ (Olten [CH], Freiburg/Br. 1968). Hier wird deutlich, dass angesichts eines unverfügbaren Gottes philosophisch-theologische Hilfestellungen nötig sind. Versteht man den Koran als Gottes Wort, dann bahnt sich ein entscheidendes dialektisches Verständnis an, nämlich: „Gottes Anwesenheit – dass es ihn nicht gibt und er doch ist – wird offenbar, indem sich der Koran ereignet.
Der Koran ist der Versuch, mit dem Gott ins Offene, in die Wirklichkeit menschlichen Lebens, zu kommen“ (S. 122). Um mit dem ev. Theologen Gerhard Ebeling zu sprechen: Die Offenbarung Gottes in der Heiligen Schrift ist ein Wortgeschehen, in dem Gott aktuell erfahrbar wird. So lässt sich die Offenbarung in den Texten des Korans eben nicht nur als eine Buchwerdung verstehen, sondern als eine lebendige, nicht abgeschlossene Beziehung. Im Abschnitt über die Auseinandersetzung mit dem (Real-)Theismus und unter Berufung auf Sören Kierkegaard bringt es Karimi auf den Punkt: „Gott spricht zur Nicht-Existenz, und insofern kommt sie in die Existenz. Doch die Existenz der Welt stellt keine Existenz neben der Existenz Gottes dar“ (S. 176). Ganz im Sinne des Mystikers `Ibn Arabi, dass es kein Sein außer Gott gibt, folgert Karimi darum, dass die Schöpfung als vergängliche, also dem Tod geweihte, da ist, aber: „Die frohe Botschaft besteht darin, dass Gott dieses Nicht-mehr-sein, das unserer Existenz eingeschrieben ist, aufhebt, indem er dem Tod nicht das letzte Wort überlässt“ (S. 176).
Krise und Erneuerung
Was heißt das konkret für den Islam? Im Kapitel VIII über die Renaissance des Islam plädiert Karimi für eine Erneuerung in der Richtung einer Re-Naissance, und zwar in dieser Weise: An der Symbolhaftigkeit der Kaaba wird deutlich, dass es hier um einen Weg nach innen, ins Herz, ins Zentrum menschlichen Seins geht. Aber das Symbol Kaaba und der hier seine Mitte findende Glaube ist allerdings durch die gegenwärtigen Gewalt-Ereignisse verraten. Doch die eigentliche Krise des Islam liegt faktisch an anderer Stelle: „Die jeweiligen Quellen des Islams wirken wie ein Kerker inmitten einer prinzipiellen Haltung, die sich Wahabismus nennt und sich für den einzigen und authentischen Islam hält“ (S. 184). Diese Krise zeigt zwei Verkrampfungen, die eine besteht darin, die Religion politisch zu instrumentalisieren, die andere besteht in der Gegenposition, nämlich die Religion aus der Politik heraushalten zu wollen. „Die Realpolitik zu ignorieren, korrumpiert aber die Religion, weil diese Haltung zumeist die Religion zu einer Handlangerin der Politik degradiert“ (S. 187). So sind die Pilgerzeremonien und der „heilige Ort“ selbst zum politisch-ideologischen Geschäft geworden (S. 187). Darum bedarf die Kaaba der Reinigung.
Bei diesen Worten fühlt sich der Rezensent unmittelbar an die Reinigung des Tempels durch Jesus erinnert. Dort ruft der Nazarener in aller Schärfe, indem er den Propheten Jeremia (7,11) zitiert: „>Mein Haus soll ein Bethaus heißen< ihr aber habt eine Mördergrube daraus gemacht“ (Mt 21,13).
Rumi dagegen wusste schon, wo der wahre Tempel und die wahre Kaaba sind. Darum heißt es im Diwan:
Ich prüfte – ER war nicht am Kreuz …
Ich ging zur Kaaba nach Mekka.
ER war nicht da.
… Ich sah in mein eigenes Herz,
Dort, an diesem Ort, da sah ich IHN.
ER war an keinem anderen Ort.
Insgesamt wird deutlich: die Krise des Islam bietet Chancen, um der (Glaubwürdigkeit von) Religiosität willen gegen die religiöse Vereinnahmung und Pervertierung aufzutreten. Dazu braucht man die Erkenntnis, die Zeit sachgemäß und zeitgemäß zu deuten. Damit muss sich das religiöse Denken auseinandersetzen (S. 199). Eine Reform des Islam heißt von daher, aus der eigenen Traditionsgeschichte heraus, Möglichkeiten zu erarbeiten, um die Veränderungen der Gegenwart zu verstehen und den Glauben entsprechend neu zu formulieren. Da niemand eine Absolutheitsanspruch auf Gott hat, bedeutet dies, dass der Islam als eine reale Religion (und natürlich auch in Deutschland) kein Selbstzweck sein kann, sondern aufgrund seiner Verfasstheit konkret für Friedensstiftung steht. Die Konsequenz muss darum lauten, dass es nicht reicht, nur mit Worten gegen die religiösen Gewalt-Exzesse vorzugehen. Es gilt, den Frieden in den Spannungen der Gesellschaft wagen, denn der Frieden ist „dieser Religion im Namen Gottes eingeschrieben“ (S. 207). Was ist also jetzt  zu tun, wenn Gott da ist? (S. 210)
Bilanz
Karimi spiegelt seinen essayistischen Annäherungsweg an das Geheimnis Gottes an den manchmal seltsamen Gestalten beliebter, überwiegend amerikanischer TV-Serien. Sie sind Anknüpfungspunkte für seine grundsätzlichen Überlegungen. Diese gewinnen zum Teil poetischen Charakter unter Einbeziehung sufischer Traditionen und westlicher (hauptsächlich deutscher) Philosophen und Dichter. Es ist erstaunlich, welche multikulturelle und multireligiöse Vielfalt damit zum Ausdruck kommt! Für die gemeinsame Annäherung an das Geheimnis Gottes – unabhängig von der jeweiligen religiösen Tradition – lässt sich daraus viel lernen! Es ist für alle Glaubenden die Aufforderung, tätig zu werden, weil Gott schon immer bei den Menschen ist.

Reinhard Kirste
Rz-Karimi-Gott, 26.02.18 


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