Jacqueline Chabbi:
Les trois Piliers de l’Islam.
Lecture anthropologique du Coran
Paris: Seuil 2016, 376 pp., glossaire
[Die drei Pfeiler des Islam.
Anthropologische Lektüre des Korans]
Les trois Piliers de l’Islam.
Lecture anthropologique du Coran
Paris: Seuil 2016, 376 pp., glossaire
[Die drei Pfeiler des Islam.
Anthropologische Lektüre des Korans]
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--- ISBN 13: 978-2021231014 ---
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Bei
den Glaubensgrundsätzen des Islam denken die meisten an die 5 Pfeiler:
Glaubensbekenntnis, Pflichtgebet, Fasten im Ramadan, Sozialabgabe und Wallfahrt
nach Mekka. Was sind nun die drei Pfeiler des Islam?
Jacqueline Chabbi, Orientalistin und Arabisch-Spezialistin an der Universität Saint-Denis in Paris, wählt nicht den üblichen Zugang zum Verstehen des Islam. Sie geht vielmehr von den gesellschaftlichen Voraussetzungen aus, die den Koran geprägt haben.
Jacqueline Chabbi, Orientalistin und Arabisch-Spezialistin an der Universität Saint-Denis in Paris, wählt nicht den üblichen Zugang zum Verstehen des Islam. Sie geht vielmehr von den gesellschaftlichen Voraussetzungen aus, die den Koran geprägt haben.
Sie kann dabei auf eigene frühere Arbeiten
zurückgreifen, z.B.:
- Le Seigneur des tribus. L’islam de Mahomet. Paris: Noêsis, 1997
- Le Coran décrypté. Figures bibliques en Arabie. Paris: Fayard, 2008
Sie bezieht sich aber auch auf die Forschungsergebnisse, die im Rahmen des
Projekts Corpus Coranicum an der
Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften entstanden:
Angelika Neuwirth, Nicolai Sinai et Michael Marx:, The Qur'ān in context: historical and literary investigations into the
Qur'ānic milieu.
Leiden (NL): Brill 2009
In der Einleitung
erinnert die Autorin deutlich daran, dass einer der Hauptfehler des
Koran-Verstehens heute darin besteht, die historischen und religiösen Zusammenhänge
von damals nicht zu berücksichtigen. Darum setzt die Autorin nicht bei den üblichen
5 Pfeilern des Glaubens an, sondern zeigt als Grundlage für diese drei Schlüsselbegriffe: Allianz, Führung
und Spende. In der Oasenstadt Mekka sind sich alle der Risiken der Wüste
unmittelbar bewusst. Das bedeutet, dass Menschen nur im Zusammenhalt überleben
können: Dafür sind Koalitionen und Allianzen sowie kompetente Leitung nötig.
Außerdem ist es wichtig, durch Spenden für die Anderen (denen es schlechter
geht oder die man als Partner braucht) Unterstützung zu gewähren.
In
den späteren Jahrhunderten spielen diese Basiswerte unter anderen
gesellschaftlichen Bedingungen eine wesentlich geringere Rolle bzw. waren den
Koranlesern nicht mehr bekannt. Damit zeigt Jacqueline Chabbi zugleich an, dass
der Koran letztlich nur in seinem jeweiligen historischen und sozialen Kontext
sachgemäß zu verstehen ist. Die Entstehungsgeschichte der jeweiligen Suren in
Mekka und Medina spielt dabei eine wesentliche Rolle. Diese ist jedoch
teilweise nicht mehr rekonstruierbar und auch die Tradition, also die Hadithe,
helfen nur bedingt weiter. Darum untersucht die Autorin Korantexte linguistisch
und literarkritisch, um die anthropologischen Strukturmuster und
sozialgeschichtlichen Wortbedeutungen einiger wesentlicher Glaubensbegriffe zu
erhellen. Welche Konsequenzen hat das für alle späteren Lektüren und Kommentare
des Koran?
1. Pfeiler: Die koranische Allianz – Bündnisse
auf lokaler Basis
Der
Koran ist unter besonderen gesellschaftlichen Verhältnissen auf der Arabischen
Halbinsel im 7. Jahrhundert entstanden: Der Wortgebrauch der Clans ändert und
erweitert sich in anderen Begriffszusammenhängen. Ausdrücke regionaler Bedingtheiten
bekommen überregionale, ja schließlich universale Bedeutung. Darum ist es
nötig, die einzelnen Suren und Koranverse zu untersuchen und den früheren, den
verborgenen oder vergessenen Sinn aufzudecken.
Als besonders
auffälliges Beispiel aus den literarkritischen Exegesen von Chabbi sei die Sure 84 „Al-Insiqaq – Das Spalten /Zerbrechen)
herausgegriffen. Hier wird thematisiert, dass sich der Mensch ändert, sein Zustand
schwankt. Das zeigt die Schwäche des Menschen. Gott dagegen ändert sich nie,
das beweist, dass er der Schöpfer ist. Sünde und Unglaube führen von Gott weg
in die Hölle, das Gegenstück zum Glück des Paradieses.
Der hier
auftauchende Begriff Kitab wird
normalerweise als Buch übersetzt, hat
aber seine Tiefenbedeutung im Sinne einer endgültigen Existenz-Aussage. Da es
in dieser Sure um die“ letzten Dinge geht“, um die Repräsentation des
Paradieses, ist es entscheidend, den ursprünglichen nomadischen Zusammenhang
der hier verwendeten Begriffe zu beachten. Jacqueline Chabbi legt darum
entsprechende Übersetzungen vor, die verdeutlichen, auf welche Weise das
originale Verständnis der Worte vom späteren Verständnis dieser Worte abweicht.
Mit dem Blick voraus auf den 3. Pfeiler
sei bereits angemerkt: Ist das Paradies in den mekkanischen Suren noch sehr
lustvoll zwischen Eros und Familie angesiedelt, wird dieses in Medina zu einem
wunderschönen Garten (S. 81–84.287–324).
In ähnlicher Weise
werden auch Namen und Eigenschaften
Gottes untersucht (man denke an die 99 schönen Namen Gottes). Dabei zeigt
sich, dass al-Rahman, der Barmherzige,
ein importiertes Wort ist. Aus den vorhandenen Götterverständnissen wird die Gestalt
„Allah“ konstruiert. Dieser unterscheidet sich vom Allah des Noah ganz erheblich.
Das spielt Chabbi an der Noah-Sure 71
durch. Überhaupt hat der „mekkanische“ Koran in seinem Verständnis des
Göttlichen eine stärker anthropologische Ausrichtung.
2. Pfeiler: Führung und Anleitung als wesentliche
Funktion und Aufgabe
Führung/Leitung
hat für einen Nomadenstamm in der Wüste
eine andere Bedeutung als für sesshafte Städter. Darum müssen hier sabab (Verstand), scharia (Wegbestimmung zur Tränke), sunna (Tradition) und umma
(Gemeinschaft) in ihrer vielfältigen Bedeutung untersucht werden. Ausgesprochen
wichtig sind auch sabil (der Pfad)
und jihad (Anstrengung). Die linguistische
Untersuchung nötigt zur geschichtlichen Übertragung. Das bedeutet, dass der
Islam des Mohammed die mekkanischen Suren durch die Offenbarungen in Medina
teilweise korrigiert wird. Immer bleibt durchgehend wichtig, Gewalt einzudämmen
und ggf. bisherige Gegner in die neue Gemeinschaft zu integrieren (Sure 9, bes.
V. 29 – S. 202ff).
Zur Zeit
der Hidschra, also der Auswanderung Mohameds von Mekka nach Medina im Jahr 622,
dem Beginn des arabischen Kalenders, ist die Oasenstadt trotz des Kaaba-Heiligtums
nicht sehr bedeutend. Mekka ist nicht das große Karawanenzentrum an der
Weihrauchstraße, zumal die wichtigen Handelsrouten weiter nordwestlich verliefen.
Vgl. https://www.br.de/themen/wissen/weihrauch-myrrhe-weihrauchstrasse-seidenstrasse-100.html
Vgl. https://www.br.de/themen/wissen/weihrauch-myrrhe-weihrauchstrasse-seidenstrasse-100.html
Hinzu
kommt, dass der Süden Arabiens von vielen voneinander abweichenden Dialekten
geprägt ist. Dank der sprachlichen Kultureinflüsse aus dem griechischen und
syrischen Norden, aus dem Jemen oder Äthiopien wird diese Zersplitterung durch
ein formales oder poetisches Arabisch als Amtssprache abgefedert. Aber erst
unter der Herrschaft des Umayyaden-Kalifats seit 661 wird die regionale
Verengung durch die neue Religion, und zwar auch durch die Verschriftlichung
des Korans, durchbrochen. Damit tritt die Konkurrenz zum christlichen Byzantinischen
Reich offen zu Tage. Jerusalem kommt als wichtiges islamisches Heiligtum in den
Blick. Tempelberg und Felsendom signalisieren aber auch geografisch eine
gewisse Nähe zum Judentum außerhalb Arabiens. Hier zeigt sich ein Gegensatz zur
Christologie und zur polytheistisch empfundenen Trinitätslehre des byzantinischen
Christentums.
Chabbi verfolgt nun
die schnelle islamische Entwicklung weiter. Bagdad wird islamische Kulturmetropole
des Ostens mit wesentlichen Einflüssen aus Zentralasien. Der Islam ist damit
bereits eine Weltreligion, die ihr zweites Zentrum mit Córdoba als geistigem
Mittelpunkt des Westens findet. Aber diesen Fortentwicklungen stehen auch
Rückschritte gegenüber. Bei einer solchen Zeitreise durch die Jahrhunderte zeigt
schließlich der Wahabismus in Arabien des 18. Jahrhunderts geradezu eine Vision
rückwärts – der Traum vom regionalen Anfang der vereinigten Clans (S. 180ff).
3. Pfeiler: Spende/Unterstützung – Funktion
und Beitrag für gemeinsamen Zusammenhalt
Die
Spende entwickelt sich aus der Allianz der Partner im gegenseitigen Zusammenhalt
und zeigt den engen Zusammenhang der Loyalität zwischen Verbündeten. Das
Vorbild ist der Tausch, von dem beide Partner profitieren. Die Großzügigkeit
des Spenders bewirkt beim Empfänger Dankbarkeit und damit auch eine gewisse
Abhängigkeit. Damit wird Bindung vertieft. Dieses Modell wird auf Gott und den
Menschen übertragen. Damit erweitert sich die Stammesspende zu einer eschatologischen
Gabe (S. 269f). Gott gibt dabei ein Doppeltes: Verheißung ewigen Heiles und das
Geschenk der täglichen Nahrung. Die Gabe des täglichen Lebens manifestiert sich
in der Schöpfung Gottes, die dem Menschen anvertraut ist und die sich darin
zeigt, dass Mensch und Tier ihre täglichen Bedürfnisse befriedigen können – paradiesische
Verheißungszustände werden nun dem irdischen Kontext enthoben. Die göttliche
Gabe aber ist so groß, dass der Bund zwischen Gott und Mensch nur durch die
völlige Bundestreue, d.h. in völlig hingebender Dankbarkeit des Menschen in
Balance bleibt. Bei Undankbarkeit jedoch fordert Gott Lösegeld ein (S. 344ff).
Folgerungen: Wie der Koran eine neue
(islamische) Gesellschaft auf den Weg brachte
Chabbi
hat deutlich gemacht, dass die bekannten fünf Säulen als koranische
Interpretation das Ergebnis einer fortschreitenden Formalisierung und
Durchstrukturierung des Glaubens sind. Die ursprüngliche Basis bilden die drei
Pfeiler: Allianz, Führung, Spende. Die anderen monotheistischen Religionen
jener Zeit, besonders das Judentum, sind für die Neupositionierung eines
Gottglaubens in Mekka und Medina darum nur bedingt hilfreich und
aussagekräftig. So kann Chabbi zeigen, welche anthropologischen Strukturen in
den ersten Islam-Gläubigen Arabiens durch die Vermittlung des Korans zum Tragen
kamen. Darum schreibt sie schlussfolgernd: Man darf die verschiedenen
Glaubensweisen nicht vermischen. In der Ursprungszeit geht es keineswegs um
eine religiöse Überzeugung. Auf der arabischen Halbinsel des 7. Jahrhunderts
handelte es sich bei Bündnis-Beziehungen um Menschen oder Götter (nicht um
einen universalen Gott). Brachte das Bündnis keinen Nutzen, konnte es gebrochen
werden. „Man glaubt nicht um des Glaubens willen“ (S. 350). Bei der Verbreitung
des Islam über die arabischen Heimatregionen hinaus, also einer weiteren
Hidschra, entwickelten die Eroberer nach und nach mit der koranischen
Glaubensgrundlage eine neue Gesellschaft in Ländern, die ihnen vollkommen fremd
waren. Diese Umbruchs- und Veränderungssituationen dauerten etwa zwei
Jahrhunderte bis zur Stabilisierung. Erst dann war die neue Glaubensweise so
gefestigt, dass sie mit den weiteren aus Zentralasien und dem Mittleren Osten
eindringenden Völkern kompatibel werden konnte (z.B. bei Mongolen und Türken).
Ohne Zweifel hatten die Führer der ersten muslimischen Territorien
Schwierigkeiten, sich außerhalb Arabiens an die neuen gesellschaftlichen Gegebenheiten
anzupassen (S. 350), handelte es sich doch um die alten Kulturen des Iran und
der pluralen hellenistischen Welt. Genau genommen brachten die fremden Völker und
nicht die Araber den Islam weiter voran. Zugespitzt gesagt: Eine Religion
erfindet sich von Epoche zu Epoche immer wieder neu.
Dass eine solche
Erkenntnis den rückwärts gewandten arabischen Fundamentalisten und Salafisten
nicht ins Konzept passt, liegt zu offensichtlich auf der Hand!
Bilanz
Jacqueline
Chabbi präsentiert eine beeindruckende historisch-kritische, sozial- und
sprachgeschichtliche Darstellung zu den Grundmustern des Islam und seinen
späteren – geradezu zwangsläufigen – Veränderungen. Sie hat wahrhaft aufregende
Erkenntnisse im Kontext der arabischen Sprache, der vielfältigen Völkerkultur
Arabiens, des Mittelmeerraums, des Mittleren Ostens und Zentralasiens im
Horizont der Entstehung und Weiterentwicklung des Islams zur Sprache gebracht. Es
wäre zu wünschen, wenn es für dieses Buch auch eine deutsche Übersetzung gäbe.
Die Schöpfung im Koran und Erweiterungen der Tradition:
Jacqueline Chabbi: On a perdu Adam - La création dans le Coran
Paris: Seuil 2019, 361 S.
Reinhard
Kirste
Rz-Chabbi-Piliers-Islam, 31.05.2018
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