Dienstag, 27. Juni 2023

Wieder im Blickfeld: René Girard - Die Zusammenhänge von Nachahmung, Neid, Gewalt und Martyrium (aktualisiert)

René Girard (2007) - wikipedia
Der französische Literaturwissenschaftler, Religionsphilosoph und Anthropologe
René Noël Théophile Girard

(25.12.1923 in Avignon, gest. 04.11.2015 in Stanford, USA) gehört zu den bedeutendsten Kulturwissenschaftlern der Gegenwart. Er wurde mit vielen Preisen ausgezeichnet.

Seine erkenntnistheoretischen Ansätzen zum Begehren des Menschen, der sich in Neidkomplexen manifestiert, systematisierte er in seiner "Mimetischen Theorie", die den unmittelbaren Zusammenhang von Nachahmung und Gewalt betrifft: Ich will, was Du willst, weil Du es willst..


Angesichts der Corona-Pandemie bekam René Girards Werk dramatische Aktualität: Johannes Thulfart: Von Sündenböcken und Erlösern. Wie Corona-Krise und Anti-Rassismus-Proteste zusammenhängen [Monopol (Kunstmagazin), 15.06.2020]

Schon 2019 zeigte ein Beitrag in der NZZ Online (12.01.2019) die aktuelle Brisanz von Girards Werk. Der Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht schrieb:
"Wenn sich alle mit allen vergleichen, schmerzt das Ergebnis viele:
René Girard, 
der «Prophet des Neids», ist ein Denker
auf der Höhe der neuen sozialen Dynamiken
Je gleicher die Gesellschaft ist, desto deutlicher sticht das Ungleiche heraus. Wer die Obsessionen unserer egalitären Gegenwart verstehen will, sollte René Girard lesen. Der französisch-amerikanische Anthropologe wird im Silicon Valley gerade neu entdeckt.
Auch wenn sich die eine grosse Welt gerade wieder in viele kleine Welten von Nationen und Regionen auseinander dividiert, bleibt sie doch in einer Hinsicht homogen: Alle vergleichen sich in allem mit allen – mehr denn je. Und darum ist René Girard der Autor der Stunde. Wer unsere Gegenwart verstehen will, mit Blick auf globale Kommunikationsmedien wie auf lokale Krisenherde des Populismus, tut gut daran, die Bücher des französisch-amerikanischen Anthropologen zu lesen. Girard, der zuletzt in Stanford lehrte, hat die Entfesselung des rivalisierenden Sich-Vergleichens von Menschen wie keiner vor ihm analysiert und als Haupttriebfeder gesellschaftlichen Handelns begriffen."
Zum gesamten Artikel: hier



Christian Ruby:
René Girard : une introduction critique
(nonfiction, 22.06.2023)
Kommentar zum Buch von: 
Bernard Perret: 
Violence des dieux, violence de l'homme.
René Girard, notre contemporain.

Paris: Seuil 2023, 384 pp.


Vorstellung zweier Bücher

1. René Girard / Ralf Miggelbrink: Das Ende der Gewalt (2009)

2. René Girard: Ich sah den Satan vom Himmel herabfallen wie einen Blitz (2008)

------------------------------------------------------------------------------------------------------


1. René Girard / Ralf Miggelbrink: Das Ende der Gewalt. Analyse des Menschheitsverhängnisses. Erkundungen zu Mimesis und Gewalt
mit Jean-Michel Oughourlian und Guy Lefort.

Vollständige Neuübersetzung aus dem Französischen von Elisabeth Mainberger-Ruh.
Freiburg u.a.: Herder 2009, 520 S., Register --- ISBN 978-3-451-29385-6 ---
Original:
Des choses cachées depuis la fondation du monde,1978 –

Der Literatur­wissenschaftler Réné Girard (1923-2015) gehörte gleichzeitig zu den wichtigsten Kulturwissenschaftlern. Er hat hauptsächlich an Universitäten in den USA gelehrt. 2005 wurde er in die Académie Française aufgenommen. 2006 erhielt er den Tübinger Leopold-Lucas-Preis.
Seine Bücher sind in viele Sprachen übersetzt worden, z.B.: „La violence et le sacré“ (1972), deutsch: „Das Heilige und die Gewalt“, 1994 (neu bei Patmos 2006) sowie 2006 zusammen mit dem Philosophen Gianni Vattimo Verità o fede debole? Dialogo su cristianesimo e relativismo, deutsch: „Christentum und Relativismus“ (Herder 2008).
In Les origines de la culture (2006) im Gespräch mit Pierpaolo Antonello, et João Cezar de Castro Rocha erläutert er seine Kulturtheorie mit den Schlüsselelementen, die 2008 in dem zusammen mit Gianni Vattimo publizierten „Christentum und Relativismus“ spezifiziert werden. Das schon 1982 erschienene Buch „Le bouc émissaire“ (Der Sündenbock, deutsch bei Benziger 1988) kann neben den genannten Titeln als eine Art Verstehensschritt für die jetzige Ausgabe von „Das Ende der Gewalt“ dienen, zumal „Des choses cachées …“ vollständig erst jetzt in deutscher Sprache vorliegt (Die Herder-Ausgabe von 1983 war unvollständig geblieben) Das im jetzigen Buch auffällige diskursive Erläutern ist das äußere Merkmal von „Das Ende der Gewalt“, denn Girard hatte in Begleitung und Auseinandersetzung mit dem klinischen Psychopathologen Jean-Michel Oughourlian und Guy Lefort 1977 in Baltimore (Maryland) den Grundstein für „Des choses cachées ...“ legten.
In der Einführung zu dieser Kulturgeschichte der besonderen Art macht der katholische Systematiker Ralf Miggelbrink nicht nur mit dem Werk René Girards vertraut, sondern zeigt auch dessen religionsgeschichtliche Bedeutung auf: Man muss dem Teufelskreis von Gewalt und Gegengewalt von Anfang an nachgehen, um die Ursachen gewalttätigen Verhaltens zu entdecken in der Menschheitsgeschichte zu entdecken. Dass dies mit einem Nachahmungsbedürfnis zusammenhängt, der sich zum Trieb ausweitet, ist nicht die gängige Geschichtsinterpretation. Aber mit diesem Nachahmungsmuster („mimetische Theorie“) gewinnt Girard einen hermeneutischen Schlüssel zur Entwicklung kulturellen Fortschreitens, die sich unmittelbar auf die Entwicklung und Veränderung von religiösen Opferriten und einer Neuinterpretation von Mythen bezieht. Wenn dem aber so ist, so liegt hier zugleich der Schlüssel zur Zivilisierung von Konflikten und zur Begrenzung von Gewalt und deren apokalyptischen Bedrohungspotential sowohl individuell wie gesellschaftlich.
--- Das 1. Buch bezeichnet er als Fundamental-Anthropologie mit der Intention das „versöhnende Opfer“ als Zeichen zu verstehen, das sich kulturell ausdifferenzieren lässt und die Humanisierung („Hominisation“, S. 115ff) in Gang setzt: „Und es kommt der Moment, da das ursprüngliche Opfer, statt von neuen Opfern bezeichnet zu werden, durch andere Dinge bezeichnet wird: durch Dinge aller Art, die stets dieses Opfer bezeichnen, während sie es gerade mehr und mehr maskieren, verkleiden und verkennen“ (S. 135). Sakrifizielle Deutungen erweisen sich als Konfliktpotential, darum: „Wer glaubt, mit der Beibehaltung des Opfers die Transzendenz zu verteidigen, irrt auf der ganzen Linie … Was in diesem Augenblick ( = d.h. im Zentralgeschehen der Kreuzigung Jesu), das ist die Opfergottheit des historischen Christentums, nicht der Vater Jesu, nicht die Gottheit der Evangelien, die zu erreichen uns gerade durch den Stein des Anstoßes, den das Opfer darstellt, … nach wie vor verwehrt bleibt. Diese Opfergottheit muss ‚sterben’ und mit ihr das historische Christentum überhaupt, damit der Evangeliumstext vor unseren Augen wieder aufleben kann … als die neueste, schönste, lebendigste und wahrste Sache, die uns je begegnet wäre“ (S. 291), denn der Gott der (biblischen) Offenbarung hat nicht mit Gewalt zu tun.
--- Diese Quintessenz bereitet Girard im 2. Buch durch die Auslegung biblischer Texte („die jüdisch-christliche Schrift“) vor, u.a. an Kain, Josef, der Passion Jesu, dem Martyrium des Stephanus und dem Hebräerbrief als hermeneutischem Schlüssel: es ist der Weg einer besonderen Form der Entmythologisierung hin zu einem nicht-sakrifiziellem Verständnis des Todes Christi, die dank der Intentionen des Johannesevangeliums den Weg zu Liebe und Erkenntnis freigibt und somit ein positives gewaltfreies Nachahmen ermöglicht.
--- Etwas eigenwillig wird dann im 3. Buch eine „interindividuelle Psychologie“ vorgestellt, die das schon im 1. Buch angesprochene mimetische Begehren wieder aufnimmt und dieses unter den Gesichtspunkten des objektlosen Begehrens, im Blick auf die Sexualität u.a. im Masochismus, der Homosexualität, Bi-Sexualität, des Narzissmus und der Rivalität weiter exemplifiziert. Ob das das Ende des Platonismus in der Psychologie ist, sei allerdings dahingestellt (S. 403). Schließlich nimmt der Autor die „psychoanalytische Mythologie“ Freuds mit seiner mimetischen Theorie wieder auf, um dessen Begehren mit Hilfe von Proust kritisch zu hinterfragen.
Im Blick auf die Theorie der mimetischen Rivalität hat es von psychologischer und philosophischer Seite den Vorwurf der „ehrgeizigen Hypothese“ gegeben, weil sie in der Art, wie Girard die mögliche und notwendige Aufhebung blutiger Opferrituale beschreibt, doch noch zu sehr seinem katholischen Denken verhaftet sei. Von Theologen dagegen Girards Kulturtheorie teilweise sehr gelobt. Wie dem auch sei: Am Ende dieses essayistisch und doch systematisch strukturierten Buches bleibt das Nachdenken über die „Mimesis“, die Gewalt produziert und nur durch die Abschaffung der Opfermechanismen beseitigt werden kann – eine neue „Mimesis“ um der geoffenbarten Menschlichkeit willen.

Reinhard Kirste, Rz-Girard, 29.07.09 (aktualisiert, 13.01.2018)

2.  René Girard: Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz.
Eine kritische Apologie des Christentums.
Aus dem Französischen von Elisabeth Mainberger-Ruh. Mit einem Nachwort von Peter Sloterdijk
[München: Hanser 2002]. Frankfurt/M. und Leipzig: Verlag der Weltreligionen im Insel-Verlag.
VWR tb 9, 2008, 254 S. --- ISBN-978-3-458-72009-6 --- 
Der französische Literaturwissenschaftler René Girard hat mit seinen Gewalt- und Opferdiskursen im Rahmen seiner anthropologisch angelegten „mimetischen Theorie“ heftige Diskussionen losgetreten und große Zustimmung verursacht. Nach seinem Hauptwerk Das Heilige und die Gewalt“ (französisches Original 1972: La Violence et le Sacré, deutsch 1994)1 setzt er die Debatte mit Der Sündenbock“ (Le bouc émissaire“, 1982, deutsch 1988) fort. Das Ritual gewaltsamer Ausstoßung zieht sich durch die Menschheitsgeschichte und beendet die destruktive Anarchie um der Gemeinschaft willen, allerdings bisher unter dem Symbol des Heiligen verdeckt. Jesus durchbricht diese Verschleierung einzigartig im Neuen Testament. Mit dem hier vorzustellenden Buch leitet Girard eine weitere verstärkte Apologie des Christentums ein. Diese hatte sich bereits mit dem Buch Das Ende der Gewalt.
Analyse des Menschheitsverhängnisses“
(1983/2009, französische Ausgabe: 
 Des choses cachée depuis la fondation du monde, 1978) angekündigt.2
Mit heftiger Theologenkritik, besonders am Entmythologisierungsprogramm Bultmanns beginnend (S. 11f), untersucht er das "mimetische Begehren" mit der Behauptung, dass jeder Mensch nur das haben wolle, was andere schon haben. Darum ist das 10. Gebot: Du sollst nicht begehren! so wichtig. Denn Begehren ist das Grundmuster von Rivalität, die sehr schnell zu Gewalt-Eskalationen führt. Das lässt sich an den Mythen und der Bibel zeigen. Streng dualistisch geht dies für Girard nicht ohne den Satan, der, wie er immer wieder ausführt, nur durch den Sündenbock – also ebenfalls mit einer Gewalthandlung – ausgetrieben werden kann. Hier tritt nun Jesus als Vorbild in den Kontext unserer Nachahmungsmuster. Zwar verfallen auch die Jünger in dieses mimetische Muster, besonders deutlich Petrus (S. 51f). Sie geraten ins Chaos angesichts seines Todes, finden aber schließlich aufgrund des wahren Kreuzesverständnis den Weg heraus:
 „Die vier Kreuzigungsberichte [sc. der Evangelien] lassen uns also am Ablauf eines Opfermechanismus teilnehmen. Die Sequenz gleicht … den unzähligen analogen Phänomenen, deren Regisseur Satan ist“ (S. 55). Aber „Jesu Tod unterläuft das satanische Kalkül“ (S. 56) und den dahinter stehenden Opfermechanismus aller gegen alle. Anders als der Wundertäter Apollonius von Tyana im Zusammenhang einer mythologisch überhöhten Steinigung in Ephesus wird im Sterben Jesu der Besänftigungsmechanismus des Mordes ans „Kreuz geheftet oder eher genagelt“. So „tritt dessen Lächerlichkeit und Bedeutungslosigkeit an den Tag“ (S. 176). Das ist der Triumph des Kreuzes. Dadurch ließ sich das Rad der mimetisch orientierten Gewalt nicht wieder zurückdrehen, und die Zeit Satans ist abgelaufen. Das ist die Chance des Christentums und der Botschaft von Jesu Gewaltlosigkeit und die aus dieser Haltung erwachsene Sorge um die Opfer. Darum gilt es, „den Akzent auf die Menschenrechte zu setzen“ …. Damit kann man die Bemühung stärken, „den unkontrollierbaren mimetischen Furor zu verhüten und zu überwachen“ (S. 210).
In seiner Darstellung bleibt nun Girard nie in der Vergangenheit stehen, sondern zieht die mimetischen Muster und Opfermechanismen bis in die Gegenwart aus. So kommen die Dreyfus-Affäre, Nietzsche, aber auch Heidegger und Hitler ins mimetische Blickfeld. Aber der Heilige Geist triumphiert über die gewalttätige Mimetik (S. 236f). In der Auferstehung Jesu wird Menschen bewusst, wie Gott Opfer des Menschen ist, aber mit Jesus zugleich eine neue Menschlichkeit ins Spiel kommt, die Freiheit von der Begierde und Eifersucht ermöglicht. Das macht das Christentum mit der Bibel und besonders den Evangelien sowie Paulus einzigartig.
Am Schluss des Bandes bietet der Philosoph Peter Sloterdijk mit seiner Kritik an Girard zum einen die Möglichkeit die Schwäche von dessen Ansatz gegenüber dem schöpferischen Nietzsche herauszustellen und dann zu einer kräftigen Kapitalismus- und Globalisierungskritik durchzustarten:
„Moderne Gesellschaften stellen … marktintegrierte Eifersuchtsreaktoren oder Neidkraftwerke dar, die unentwegt die Aufgabe bewältigen müssen, das Erniedrigungs- und Hasspotential zu binden, das sie durch ihre geschichtlich beispiellose Ambitions- und Appetenzpublizistik schüren“ (S. 252f).
Dass Girard den Finger zu Recht auf die Strukturen von Begierde und Gewalt gelegt hat, ist sein großes Verdienst. Allerdings sollte bedacht werden, dass die von ihm abgelehnte entmythologisierende und zugleich Existenz bezogene Theologie ohne die (mythologische) Personifizierung Satans schon die Möglichkeit eines Evangeliums der Freiheit aufgezeigt hat, und zwar ebenfalls im Symbol von Kreuz und Auferstehung. Gerade der Theologe Rudolf Bultmann und die ihm kritisch Folgenden haben die positive Seite der Entmythologisierung der Bibel nicht als abstrahierende Verkürzung, sondern als existential-weiterführende Interpretation beschrieben. Was im Wortfeld „Satan“ zum Ausdruck kommt, ist damit nicht minder gefährlich, auch wenn auf eine Personalisierung verzichtet wird. Hier wird ohne dualistische Entgegensetzungen auf die Verstrickungen des Menschseins und die Befreiungswirkung der Offenbarung in Jesus Christus abgehoben; und sie wird ganz anders als bei Girard zu einem Markstein eines neuen Lebensverständnisses gemacht. So erfährt sich der unter den Anspruch des göttlichen Wortes geratene Mensch in einer neuen Seinsweise von Schuld befreit und zu einer neuen Existenz vor Gott berufen.
Diese Radikalisierung des Glaubens ist mir sympathischer als die Uminterpratation des Sündenbock-Mechanismus mit Hilfe der Neuetablierung vergangener Satansbilder.
Reinhard Kirste
  
Rz-Girard-Satan, 11.12.11 mehrfach aktualisiert
Anmerkungen

1  La Violence et le SacréParis: Grasset 1972. Deutsche Ausgabe: Das Heilige und die Gewalt.
     Frankfurt/M.: Fischer 1994, neu aufgelegt: Düsseldorf: Patmos 2006.

 Originalausgabe: „Des choses cachée depuis la fondation du monde. Paris: Grasset & Fasquelle 1978. 






Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen