Philip Jenkins: Gottes Kontinent?
Über die religiöse Krise Europas
und die Zukunft von Islam und Christentum.
Aus dem Amerikanischen von Ulrich Ruh.
Freiburg u.a.: Herder 2008, 399 S. (kein Register!)
--- ISBN 978-3-451-29828-8 ---
Über die religiöse Krise Europas
und die Zukunft von Islam und Christentum.
Aus dem Amerikanischen von Ulrich Ruh.
Freiburg u.a.: Herder 2008, 399 S. (kein Register!)
--- ISBN 978-3-451-29828-8 ---
Mehr zu Philip Jenkins (geb. 1952):
https://en.wikipedia.org/wiki/Philip_Jenkins
Originaltitel: God's
ontinent: Christianity, Islam, and Europe's Religious Crisis.
Oxford University Press
[2007], 2009 (Reprint), 352 pp., index
--- Verlagsinformation, Inhaltsverzeichnis
und Leseprobe: hier
Oxford University Press
[2007], 2009 (Reprint), 352 pp., index
--- Verlagsinformation, Inhaltsverzeichnis
und Leseprobe: hier
--- English summary at the
end of the review /
--- Résumé français au bout du compte rendu
--- Résumé français au bout du compte rendu
Wenn ein Professor für Geschichte und Theologie aus
den USA über das ambivalente Verhältnis von Islam und Christentum im heutigen
Europa schreibt, könnte leicht der Verdacht aufkommen, hier macht sich ein
weiterer Zeitgenosse Sorgen um eine mögliche Islamisierung Europas. Überdies
schaut Jenkins mit einer Brille von jenseits des Atlantik auf den alten
Kontinent.
In seinem Einleitungskapitel setzt der Autor auch prompt mit dieser Frage an und sagt: „In dem Maße, wie das europäische Christentum schwindet, stellt der Islam eine ernsthafte Konkurrenz in der Gunst der zukünftigen Generationen dar“ (S. 7).
In seinem Einleitungskapitel setzt der Autor auch prompt mit dieser Frage an und sagt: „In dem Maße, wie das europäische Christentum schwindet, stellt der Islam eine ernsthafte Konkurrenz in der Gunst der zukünftigen Generationen dar“ (S. 7).
Säkularisierung und religiöse
Aufbrüche
Was
scheinbar auf dieser Linie begonnen hat, geht dann aber trotz der
Auffälligkeiten im Säkularisierungsprozess Europas ganz anders weiter,
was sich besonders in den Kapiteln über „Glaube in Ruinen“ (Kap. 3), „Neue Christen“ (Kap. 4) und „Die Rückkehr der Mauren“ (Kap. 5) zeigt. So stellt er an den Anfang seiner Überlegungen zur Säkularisierung („Europa ohne Gott?“) die neu erwachenden Glaubenstendenzen gegenüber. Darum ist es falsch, von einer völligen Entchristianisierung Europas zu sprechen; dazu sind die Entwicklungen in den einzelnen Ländern und besonders im Blick auf Osteuropa zu unterschiedlich. Aber auch der Pilgerstrom über den Jakobsweg gibt wie andere Phänomene oder „heilige Landstriche“ (S. 77) zum ausführlicheren Nachdenken Anlass.
So meint der Autor, dass besonders die katholische Kirche eine gewisse Stärke behalten wird. Insgesamt bleibt das Christentum auch in säkularer Umgebung zumindest geistig präsent.
was sich besonders in den Kapiteln über „Glaube in Ruinen“ (Kap. 3), „Neue Christen“ (Kap. 4) und „Die Rückkehr der Mauren“ (Kap. 5) zeigt. So stellt er an den Anfang seiner Überlegungen zur Säkularisierung („Europa ohne Gott?“) die neu erwachenden Glaubenstendenzen gegenüber. Darum ist es falsch, von einer völligen Entchristianisierung Europas zu sprechen; dazu sind die Entwicklungen in den einzelnen Ländern und besonders im Blick auf Osteuropa zu unterschiedlich. Aber auch der Pilgerstrom über den Jakobsweg gibt wie andere Phänomene oder „heilige Landstriche“ (S. 77) zum ausführlicheren Nachdenken Anlass.
So meint der Autor, dass besonders die katholische Kirche eine gewisse Stärke behalten wird. Insgesamt bleibt das Christentum auch in säkularer Umgebung zumindest geistig präsent.
Daher
ist das islamophobe Vorurteil, Europa werde von explodierenden Geburtenraten
muslimischer Immigranten überrollt, noch nicht einmal statistisch zu halten.
Dies gilt trotz der sich wandelnden religiösen und kulturellen Realitäten und
Identitäten. Aber von einem „clash of civilizations“ ist die Zukunft Europas
weit entfernt. Allerdings verändern die Einwanderer aus Afrika, Asien und
Osteuropa das Gesicht des westlichen Europa, und zwar so, dass auch durch die
eingewanderten Christen neue Typen des Christentums entstehen:
Einwandererkirchen, das stärker in den Vordergrund tretende orientalisches
Christentum sowie asiatisch religiöse Einflüsse usw.
Aber
es gibt auch die Tatsache, dass sich europäische Christen dem Islam annähern.
Dies darf allerdings nicht zu dem Fehlschluss führen, als würden sich
Differenzen langsam nivellieren. Jenkins sieht z.B. in den Reaktionen der
katholischen Kirche im Blick auf die Toleranz gegenüber Muslimen und die
eingeforderte Religionsfreiheit für Christen in islamischen Ländern eine
Verschärfung, die seit Benedikt XVI. wieder mehr zum Zuge kommt (S. 340). Die
aktuelle Entwicklung seit Papst Franziskus scheint hier allerdings wieder in
eine größere dialogische Öffnung hin zum Islam zu gehen.
Die innerkirchliche Tendenz geht allerdings dahin, dass
in Europa die Mitgliederzahlen schwinden. Die großem Kirchen genossen bisher
z.T. eine monopolartige Anerkennung in einer Reihe europäischer Länder. Hier
ist der gesellschaftliche Einfluss weiter im Schwinden begriffen, während sich
religiöse Einstellungen, aber auch Fundamentalismen (nicht nur im Islam!)
verstärken (vgl. dazu das Kapitel über die Radikalen und den Terrorismus (Kap.
9, S. 258ff). So erklären sich abwehrende kirchliche und politische Reaktionen auch
durch islamistische Extremtendenzen. Jenkins weist in diesem Kontext nach, wie
die Einwanderer durch ihre verschiedenen Islam-Typen – von verhärteter
antiwestlicher Ideologie, traditionellen religiös-kulturellen Mischformen bis
hin zu inner-islamischen Reformbestrebungen – die gesellschaftliche
Wirklichkeit verstärkt prägen.
Immigration und gemeinsame
Herausforderungen
Quer
durch das Buch belegt Jenkins an einer Fülle von Beispielen der jüngeren Zeit,
wie unterschiedlich Strategien zur Begegnung mit den muslimischen Einwanderern
entwickelt werden. Hier wird er zum Meister, seine erstaunliche Detailkenntnis
zu systematisieren, so dass der Umformungsprozess Europas sich nicht in der
Aufzählung von Geschichten und Einzelfällen verliert. Schwerpunkte seiner
Betrachtung sind dabei Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Italien und
Spanien. Dabei vergisst er nicht, dass es im „alten Europa“ einen eingesessenen
Islam auf dem Balkan seit Jahrhunderten gibt (S. 142ff).
Im Blick auf diese Religion fällt darum dessen Pluralität ins Gewicht.
Im Blick auf diese Religion fällt darum dessen Pluralität ins Gewicht.
Gesellschaftliche
Kooperationen und Mitverantwortung hängen nicht an der Religion als solcher,
sondern an ihrer gesellschaftlichen Praxis. Und die allermeisten Muslime
empfinden Freiheit und Demokratie in Europa gerade als Chance, ihren eigenen
Glauben frei leben zu können und geben der Gewalt keine Chance. Man darf nämlich
nicht vergessen, dass die sog. islamischen Länder selbst unter islamistischen
Unruhen leiden haben. Politische Führer im Nahen und Mittleren Osten sowie auf
der arabischen Halbinsel, besonders die wahabitischen Saudis, instrumentalisieren
die Religion, um ihren Einflussbereich zu erweitern.
Anders gesagt: Christentum und Islam stehen
angesichts der Säkularisierung Europas, besonders Westeuropas, letztlich vor
denselben Herausforderungen. Darum kann und will Jenkins dem Negativklischee
von der Islamisierung Europas nicht folgen. Vielmehr: In der Zielvorstellung
gemeinsamer Moral, die Christen und Muslime von ihren heiligen Schriften her
verbindet, könnte ein gesellschaftlicher Faktor von erheblicher Tragweite
wirksam werden. Das erlaubt einen vorsichtig optimistischen Blick in die
Zukunft Europas erlaubt. Religiös gesehen müssen sich allerdings Radikalisierungs-
und Missionierungstendenzen in Grenzen halten.
Europas multireligiöse
Zukunft
Ein
weiterhin einigermaßen friedliches Europa wird nur dann Realität bleiben können,
wenn die unterschiedlichen religiösen Kräfte die gemeinsamen Werte,
einschließlich der Menschenrechte, der Demokratie und der Meinungsfreiheit als
„ihre“ Sache ansehen. Sowohl religiöse Führer wie Politiker des „Westens“ haben
sich davor zu hüten, mit zweierlei Maß zu messen, indem sie anderen predigen
und selbst verwerflich werden. Interessant sind in diesem Zusammenhang zwei Bewertungen,
die Jenkins vornimmt. Da ist einmal, der sich im islamischen Gewand
präsentierende Antisemitismus / Anti-Zionismus, der sich durch den
Palästinakonflikt noch verschärft hat (S. 210ff). Zum andern fallen die
unterschiedlichen Einschätzungen in Europa und den USA zum Umgang mit der
arabischen Welt auf, wie sie der Amerikaner Jenkins besonders doch recht beunruhigend
sieht (S. 356ff). Vielleicht ist er an dieser Stelle doch zu weit von der
Ostseite des Mittelmeeres entfernt, als dass er die Reserven gegenüber der
USA-Politik in Mittelost wirklich ganz nachvollziehen kann.
Die Vielfalt der Themen lässt Jenkins zu dem Schluss
kommen: „Religion wird eine intensivere Rolle in öffentlichen Diskussionen
spielen, besonders wenn diese durch Gerichtsentscheidungen in kritischen und mit
emotionsgeladenen Fragen, im Blick auf Sexualität und Geschlecht, Familie und
Kinder, Tod und Verschiebungen in der Definition von Leben angefacht werden.
‚Gottes Erdteil’ birgt noch mehr Leben in sich. Als irgendjemand vor wenigen Jahre
für möglich gehalten hätte“ (S. 355). Dies dürfte sicher auch für amerikanische
Leser eine wichtige Einsicht sein, mit denen diese sich durch die 2007
erschienene Originalausgabe (Oxford Press) konstruktiv auseinandersetzen
können.
Zusammenfassung: Christentum,
Islam und die Zukunft Europas
Die
Literatur zu den Themen Europa und Religion im Spannungsfeld von Staat, Kirche,
Islam, Islamisierung, Islamismus, Terrorismus ist kaum noch zu übersehen. Jenkins
gelingt es jedoch mit seinem Blick „von außen“, die Gefahren und Chancen in
multireligiösen Zusammenhängen zu benennen. Denn es ist entscheidend, dass in
den gesellschaftlichen Umbrüchen die Humanität weiterhin gesellschaftlicher und
politischer Schlüssel des Handelns bleibt.
Ein
weiterhin einigermaßen friedliches Europa wird nur dann Realität bleiben
können, wenn die unterschiedlichen religiösen Traditionen die gemeinsamen
Werte, einschließlich der Menschenrechte, der Demokratie und der
Meinungsfreiheit als „ihre“ Sache ansehen. Sowohl religiöse Führer wie
Politiker des „Westens“ haben sich davor zu hüten, mit zweierlei Maß zu messen,
indem sie anderen predigen und selbst verwerflich werden.
„>Gottes
Erdteil< birgt noch mehr Leben in sich, als irgendjemand vor wenigen Jahre
für möglich gehalten hätte“ (S. 355).
Wenn man dieses Buch (2007 auf Englisch und 2008 auf
Deutsch erschienen) nach längerer Zeit wieder ins Blickfeld rückt, ist man
erstaunt, wie die von Jenkins gesetzten Orientierungsmarken für ein besseres Verständnis
europäischer Entwicklungen in religiöser Perspektive eher noch aktueller
geworden sind. Wer über die Zukunft Europas und den Stellenwert von Christentum
und Islam auf „Gottes Kontinent“ klärende Ausblicke sucht, wird dieses Buch
(erneut) mit Gewinn lesen.
English
Summary: Christianity, Islam, and the Future of Europe
It is nearly impossible to overlook the literature on the subjects on Europe and religion in the fields of conflict between state, church, Islam, islamization, islamism, and terrorism. Jenkins succeeds, however, with his view "from outside" to name the dangers and opportunities in multi-religious contexts. For it is crucial that humanity continues to be the social and political key to act in the social upheavals. A still reasonably peaceful Europe will only be able to remain a reality if the different religious traditions regard as "their" thing the common values, including human rights, democracy and freedom of opinion. Both religious leaders and Western politicians must beware of double standards by preaching to others and becoming self-condemnable. ">God's continent< has more life in it, as anyone would have thought possible a few years ago "(p. 355).
It is nearly impossible to overlook the literature on the subjects on Europe and religion in the fields of conflict between state, church, Islam, islamization, islamism, and terrorism. Jenkins succeeds, however, with his view "from outside" to name the dangers and opportunities in multi-religious contexts. For it is crucial that humanity continues to be the social and political key to act in the social upheavals. A still reasonably peaceful Europe will only be able to remain a reality if the different religious traditions regard as "their" thing the common values, including human rights, democracy and freedom of opinion. Both religious leaders and Western politicians must beware of double standards by preaching to others and becoming self-condemnable. ">God's continent< has more life in it, as anyone would have thought possible a few years ago "(p. 355).
When
this book (2007 in English and 2008 in German) comes again into the focus after
a long time, it is astonishing how the landmarks set by Jenkins for a better
understanding of European developments in a religious perspective have become rather
more actual. If you are looking for a clearer view of the future of Europe and
the status of Christianity and Islam on "God's Continent", you will
(again) read this book with benefit.
Résumé
français: Christianisme, islam et l’avenir de l’Europe
il est presqu’impossible pour avoir une vue d’emsemble de la littérature sur l'Europe et la religion dans la tension entre l'Etat, l'église, l'islam, l'islamisation, l'islamisme et terrorisme. Jenkins, cependant, parvient à son point de vue «de l'extérieur» pour nommer les menaces et les chances dans un contexte multireligieux. Parce qu'il est essentiel que l’humanité reste la clé sociale et politique pour agir dans les bouleversements sociaux.
il est presqu’impossible pour avoir une vue d’emsemble de la littérature sur l'Europe et la religion dans la tension entre l'Etat, l'église, l'islam, l'islamisation, l'islamisme et terrorisme. Jenkins, cependant, parvient à son point de vue «de l'extérieur» pour nommer les menaces et les chances dans un contexte multireligieux. Parce qu'il est essentiel que l’humanité reste la clé sociale et politique pour agir dans les bouleversements sociaux.
Une Europe tant bien que mal paisible ne restera
qu’une réalité à condition que les différentes traditions religieuses
considèrent les valeurs partagées, y compris les droits de l'homme, la
démocratie et la liberté d'opinion comme «leur» enjeu. Il faut aussi bien les
dirigeants religieux que les politiciens de «l'Occident» se gardent des doubles
standards, en prêchant aux autres et devenir condamnables eux-mêmes.
«>Le continent de Dieu< comporte encore plus de vie en lui-même qu’on aurait pensé pour possible, il y a quelques ans avant« (p 355).
«>Le continent de Dieu< comporte encore plus de vie en lui-même qu’on aurait pensé pour possible, il y a quelques ans avant« (p 355).
Si on
remet ce livre au champ visuel après longtemps (publié en 2007 en anglais et en
allemand en 2008), on est étonné de voir comment l'ensemble des points de
référence par Jenkins pour une meilleure compréhension des développements
européens ont devenu encore plus actuels dans une perspective religieuse. Ceux
qui cherchent des perspectives clarifiantes pour l'avenir de l'Europe et la
position du christianisme et de l'islam dans «le Continent de Dieu», liront ce livre
(encore une fois) avec réussite.
Reinhard Kirste
Rz-Jenkins,
16.08.08, aktualisiert 15.03.2019
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