Elisabeth Pernkopf / Walter Schaupp (Hg.): Sehnsucht Mystik.
Theologie im kulturellen Dialog 22.
Innsbruck-Wien: Tyrolia 2011, 276 S., Abb.
Theologie im kulturellen Dialog 22.
Innsbruck-Wien: Tyrolia 2011, 276 S., Abb.
Die Katholisch-Theologische Fakultät der Karl-Franzens Universität Graz nimmt in ihren Vorlesungsreihen aktuelle Themen auf, um aus verschiedenen systematischen Blickwinkeln (inter-)kulturelle Bewegungen zu beleuchten. Die Philosophin Elisabeth Pernkopf und der Moraltheologe Walter Schaupp zeichnen als Herausgeber für diesen Band 22 verantwortlich. In ihm sind Vorträge aus der Reihe „Religion am Donnerstag“ gesammelt, die im Wintersemester 2010/11 am Universitätszentrum Theologie gehalten wurden. Dabei ging es – wie die beiden Herausgeber in der Einleitung betonen – darum „Spuren von Mystik freizulegen, um so zur Deutung religiöser Erfahrung heute beizutragen“ (S. 12).
Der vielzitierte Satz von Karl Rahner über die Mystik ist auch hier geheimes Leitmotiv: „Der Fromme von morgen wird ein ‚Mystiker‘ seiner, einer, der etwas ‚erfahren‘ hat, oder er wird nicht mehr sein …“ (zitiert auf S. 8). Und dieses Sein hat damit zu tun, dass in der „Mystik“ Annäherungen an ein „absolutes Geheimnis“ erfolgen (S. 11).
Die Herausgeber verweisen auf die Vielfältigkeit und Universalität des Mystik-Verständnisses. Der Titel nimmt dazu spirituelle Bewegungen genauer in den Blick, die in dem Wunsch nach Versöhntsein und Eins-Werden ganz unterschiedlich zum Ausdruck kommen. Es sind Suchbewegungen hin zu einer umfassenderen Realität, zum Göttlichen. Auch die christliche Spiritualität ist voll von dieser Sehnsucht. Dabei spielt es keine Rolle, ob der Blick in die Bibel, ins Mittelalter oder in ganz praktische Lebensbereiche von heute geht. Mystik hat also keineswegs etwas von ihrer Aktualität verloren.
Die Spezialistin für ostkirchliche Orthodoxie, Anneliese Felber, zeigt, wie Impulse der abseits zivilisatorischer Zentren lebenden Wüstenväter und -mütter im spätantiken Ägypten die wesentlichen Lebensthemen beeinflusst haben: Demut, Herzensruhe, Askese, stabilitas loci, Schweigen und Umgang mit den Leidenschaften. Sie sind in nachdenkenswerten Spruchsammlungen überliefert worden: „Die Sprüche der Wüstenmütter und –väter faszinieren durch eine echte geerdete Spiritualität, die mit einem liebenden Blick bei der Realität des Menschen ansetzt, bei seinen Schwächen und Leidenschaften, ohne zu überfordern“ (S. 36).
Ganz anders nähert sich der Neutestamentler Josef Pichler dem Thema. Er geht von der radikalen Jesusnachfolge aus, die durch das Ostereignis geprägt ist. Von daher befragt er das Johannesevangelium nach seinen Erlösungsintentionen: „Volle Aktualisierung der Erlösung ist für das Johannesevangelium … kein Ereignis, das auf die menschliche Innerlichkeit begrenzt wäre, sondern Erlösung wird in diesem Wort umfassend als Verwirklichung von Gerechtigkeit gedeutet“ (S. 61). Die eingestreuten Cartoons wirken dabei allerdings etwas deplaziert.
Eine alttestamentliche Sicht bringt die Bibelwissenschaftlerin Sigrid Eder durch Beispiele aus den Psalmen ein. Bildersprache und Themen spannen den Bogen von der Klage bis zum Lob. Die Sehnsucht nach dem Gott des Lebens stellt sich dabei als Zentrum dieser Aussagen dar – in poetischer Sprachgewalt. Trotz einer anderen, vielfach fremden Welt, von der die Psalmen erzählen, haben diese bis heute eine große existentielle Aktualität beibehalten.
1. Zuerst schreibt der Franziskanermönch und Studierendenseelsorger, Paul Zahner über Franziskus von Assisu. Er hebt die Schöpfungsmystik des hl. Franz im Gotteslob für die Vögel und mit ihnen zusammen hervor. Im Wesenszusammenhang von Sonnengesang und Gottesbegegnung bei allem Leiden benennt er dies zugleich als ein Erspüren der verborgenen Gegenwart Jesu Christi.
2. In einem zweiten Anlauf vergleicht die Religionswissenschaftlerin Theresia Heimerl die Annäherung an die Einheit mit dem Göttlichen bei Mechthild von Magdeburg und Meister Eckhart. Sie beschreibt, wie in der Liebesmystik von Mechthild die erotische Sprache über die Erotik hinaus in eine umfassendere Wirklichkeit führt. Meister Eckhart sieht dagegen in der Liebesmystik nur eine Verkleidung des Göttlichen. Er nimmt dabei erstaunliche biblische (Um-)Deutungen vor, wenn er sich dem Symbol der unio mystica annähert. Bei aller Unterschiedenheit entziehen sich jedoch beide Mystiker einer „simplen Wohlfühl-Spiritualität“ (S. 124).
3. In der weiteren Vorstellung mittelalterlicher Mystiker kommt die extrem asketische, kontemplative und politische Katharina von Siena zur Sprache. Die Kirchenhistorikern Michaela Sohn-Kronthaler geht zuerst auf ihre Visionen ein, die Katharina von Kindheit an hatte. Aus dem Dienst an den Armen entwickelte sie dann eine geradezu prophetisch gesellschafts- und kirchenpolitische Kraft im Sinne von Kirchenreformen und der Versöhnung verfeindeter Gruppen.
Einen besonderen Vergleich lohnt westliches und östliches Christentum im Blick auf die liturgische Spiritualität. Basilius J. Groen, Liturgiewissenschaftler, Hymnologe und Professor für christliche Kunst breitet die reichhaltige ostkirchlliche orthodoxe Tradition des byzantinischen Ritus aus und betont die Körperlichkeit und Bildlichkeit bis hin zur „Göttlichen Liturgie“, die für viele den Höhepunkt des Christ-Seins bedeutet. Anders dagegen die römisch-katholische Tradition, die durch das 2. Vatikanische Konzil bedeutende Änderungen erfahren hat. Auch wenn die Messe von immer weniger Menschen besucht wird, so konvergiert dies doch erstaunlicherweise mit einer wachsenden Zahl von Ehrenamtlichen. Sie haben die Kirche z.T. radikal verändert. Es gibt bei aller Verschiedenheit von Zeit und geografischem Raum dennoch einen Grundkonsens zwischen Ost und West, nämlich die Erfahrung, dass Gottes Liebe da ist und lebendig in der gottesdienstlichen Feier erlebt werden kann.
Man ist gespannt, wie demgegenüber die liturgische Spiritualität im oft als nüchtern angesehenen Protestantismus einzuschätzen ist. Der Superintendent der evangelischen Diözese Steiermark, Hermann Miklas, bezieht sich zuerst auf Luthers „Deutsche Messe“, die besonders auf die Verständlichkeit der liturgischen Handlung setzt. Hier bahnt sich ein neues Symbol- und Ritualverständnis an, das die persönliche Spiritualität stärker hervorhebt und konfessionelle Unterschiede eher an „Kleinigkeiten“ festmacht (z.B. im in der Hervorhebung von Krippe oder Christbaum). Neben der Kirche Augsburgischen Bekenntnisses (A.B.) hat die Reformierte Kirche Österreichs (H.B.) gewissermaßen eine Schweizer Prägung. Aufklärung und Pietismus verändern dann die protestantische Spiritualität noch einmal erheblich. Sie muss immer auch unter den staatlichen Bedingungen Österreichs zwischen verbotenem Protestantismus und dem josefinischen Toleranzpatent von 1781 gesehen werden - bis hin zu großer ökumenischer Offenheit seit dem 20. Jahrhundert. Die Kirche insgesamt ist angesichts von Säkularisierung und Re-Spiritualisierung besonders herausgefordert.
Der Liturgiewissenschaftler Peter Ebenbauer geht anders als sein Fachkollege Basilius J. Groen auf die sinnlich und körperlich erfahrbaren Aspekte liturgischer Spiritualität zwischen Sinnenfreude und Purismus ein und plädiert für eine „integral gelebte Religiosität und einen leibhaftig gefeierten Glauben“ (S. 210). „Eine Mystik des Alltags“ (S. 211) wird sich zugleich gegen eine „realitätsferne Romantisierung des Glaubens“ liturgischer Ausdrucksformen wehren, aber den Körper als „zentrales liturgisches Erfahrungsmedium stärker in den Gottesdienst …integrieren“ (S. 213).
Am Schluss geht die Herausgeberin Elisabeth Pernkopf auf die Mystik des Geistes („mystique de l’esprit“) philosophiegeschichtlich ein. Sie bezieht sich dabei auf den Cartesianer Nicolas Malebranche (1638-1715) und dessen Zusammendenken von Wahrheitssuche und „Vision de Dieu“. Die Achtsamkeit des Geistes führt zum Gebet. Das ist für die Autorin der Anknüpfungspunkt, um vom „Gebet der Aufmerksamkeit“ im 20. Jahrhundert zu sprechen, für das es immer wieder ganz vorsichtig mystische, philosophische und literarische Ortungsversuche gibt. Sie macht dies an dem Kontemplations-Verständnis von Walter Benjamin im Kontext von Franz Kafka, Simone Weil und Paul Celan deutlich.
Die Aktualität von Mystik in der Gegenwart hat die Autor/innen dazu bewogen, das Spannungsfeld von Sagbarem und Geheimnisvollem aus verschiedenen Blickwinkeln, aber doch mit einem gewissen liturgischen „Achtergewicht“ zu umschreiben. Auch wenn die Beiträger/innen bewusst im christlichen Horizont bleiben, wird in ihren Ausführungen doch eine Horizonterweiterung deutlich, die offensichtlich Meister Eckhart geschuldet ist: „Mystik verdankt sich der Sehnsucht der Menschen, über sich selbst und die Welt hinaus mit dem Unbedingten, dem Grund, Gott bzw. dem Göttlichen in einer Unio mystica zu sein“ (S. 7).
Die Leser/innen werden mit diesem Band sowohl historisch, gegenwartsbezogen als auch kirchlich-liturgisch anfragend auf die Vielfältigkeit spiritueller Ausdrucksformen im Christentum des Ostens wie des Westens verwiesen. Es lohnt durchaus, sich den eigenen christlichen Quellen anzunähern.
Reinhard Kirste, 31.01.2012
Buch des Monats Februar 2012 der InterReligiösen Bibliothek (IRB)
Buch des Monats Februar 2012 der InterReligiösen Bibliothek (IRB)
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