Hans Schelkshorn / Jameleddine Ben Abdeljelil (Hg.): Die
Moderne im interkulturellen Diskurs. Perspektiven aus dem arabischen,
lateinamerikanischen und europäischen Denken.
Göttingen: Velbrück Wissenschaft 2012, 250 S. --- ISBN 978-3-942393-33-1
Kurzrezension: hier
Göttingen: Velbrück Wissenschaft 2012, 250 S. --- ISBN 978-3-942393-33-1
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Ausführliche Besprechung
Schon unter den Bedingungen des Kolonialismus entwickelten sich im 19. Jahrhundert in Lateinamerika und Asien eigenständige Debatten, „in denen die Herausforderungen der westlichen Zivilisation mit den eigenen kulturellen Traditionen vermittelt“ wurden bzw. in Verbindung gebracht werden sollten. Es ging und geht dabei immer noch darum, ob und wie sich das Denken an veränderte Bedingungen anpassen kann und muss. Diese dortigen Diskurse wurden allerdings in Europa und in Nordamerika lange Zeit kaum wahrgenommen, und Afrika trat überhaupt erst in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts ins westliche Blickfeld. Erst die verstärkte Globalisierung änderte hier sowohl Blick- wie Denkrichtung. Der sog. Arabische Frühling ist das aktuellste Zeichen über das Problemfeld „Moderne“ im Kontext von Interkulturalität und zeigt zugleich, wie notwendig ein solches Buch wie das vorliegende ist.
Schon unter den Bedingungen des Kolonialismus entwickelten sich im 19. Jahrhundert in Lateinamerika und Asien eigenständige Debatten, „in denen die Herausforderungen der westlichen Zivilisation mit den eigenen kulturellen Traditionen vermittelt“ wurden bzw. in Verbindung gebracht werden sollten. Es ging und geht dabei immer noch darum, ob und wie sich das Denken an veränderte Bedingungen anpassen kann und muss. Diese dortigen Diskurse wurden allerdings in Europa und in Nordamerika lange Zeit kaum wahrgenommen, und Afrika trat überhaupt erst in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts ins westliche Blickfeld. Erst die verstärkte Globalisierung änderte hier sowohl Blick- wie Denkrichtung. Der sog. Arabische Frühling ist das aktuellste Zeichen über das Problemfeld „Moderne“ im Kontext von Interkulturalität und zeigt zugleich, wie notwendig ein solches Buch wie das vorliegende ist.
Hans Schelkshorn, Professor für
Christliche Philosophie an der Universität Wien, und Jameleddine Ben Abdeljelil mit tunesisch-biografischen Hintergrund
als Lehrbeauftragter für Islamischer Theologie an der Universität Frankfurt/M.,
lassen hier Fachleute aus Ägypten, dem Maghreb und aus Lateinamerika sowie dem
deutschsprachigen Raum zu Worte kommen. Sie setzten sich dezidiert und
grundlegend philosophisch mit der veränderten kulturellen Gemengelage
auseinander. Dies geschieht in drei Schritten: durch Problematisierung und
durch Perspektiven aus dem arabischen sowie aus dem lateinamerikanischen
Denken.
Beim 1. Kapitel der Problematisierungen setzt sich der Altmeister dialogoffenen-islamischen
Denkens, der Philosoph Hasan Hanafi
(Kairo), soziologisch mit Modernität unter interkulturellen Perspektiven
auseinander, indem er eine neue Weltanschauung für das europäische Bewusstsein
fordert. Diese sollte von Bescheidenheit geprägt sein Und so wehrt er sich vehement
gegen die Dominanz einer einzigen Kultur. Der Dialog der Zivilisationen kann
nur zwischen gleichen Partnern gelingen. Statt „Monolithik“ ist Pluralismus
angesagt. Man sollte nicht vergessen, dass europäisches Bewusstsein seine
Wurzeln auch in Asien zwischen Kanaan und China hat (S. 19). Der Soziologe Wolfgang Knöbl (Universität Göttingen)
weist auf die „Imagination der (modernen) Gesellschaft“ hin (S. 24ff), wie sie
besonders französische Soziologen im 19. Jahrhundert einbrachten. In der
Soziologie Deutschlands und der USA fehlte lange Zeit die „Moderne“ überhaupt,
so dass es schwierig war, eine Theorie der „modernen Gesellschaft“ zu
entwickeln. Nach 1914 und 1945 dominierte das Gesellschaftsverständnis, das die
französischen Soziologen August Comte
und Emile Durkheim ausgebaut hatten. Die Schwierigkeit bringt Knöbl auf den
Punkt: „Der Begriff der >Moderne< leidet im Prinzip an denselben
Problemen wie derjenige der >modernen Gesellschaft<. Wenn man alle
Einwände zum Beginn der Moderne und ihren Strukturen beiseitelässt, „dann steht
man sofort vor der weiteren Aufgabe, verschiedenen Epochen in der Moderne unterschiedliche Attribute zuzuweisen“ (S. 53). Der
interkulturelle Dialog zieht aber gerade aus der Unschärfe der Wörter im Umfeld
der „Moderne“ seinen Gewinn, um unterschiedliche Perspektiven z.B. im
Zusammenhang mit sozialem Wandel aufzuzeigen.
Im 2. Kapitel treten nun arabische Sichtweisen zutage. Moncef Ben Abdeljelil, Professor für
islamische Zivilisationen an der Universität Sousse (Tunesien), geht ebenfalls
auf die unterschiedlichen Ausdrucksformen der Moderne (multiple modernities)
ein. Er konfrontiert diese mit der islamischen Tradition, besonders dem „Hadith
der Innovation“ (S. 65). Wir haben hier einen der modernen islamischen Denker
vor uns, der sich in seiner Koran-Hermeneutik an Fazlur Rahman kritisch orientiert und mit Abdelmajid Charfi in der „Botschaft des Islam“ eine späte
Konstruktion sieht (S 69). So geschieht auch die Annäherung an das „Vorbild des
Propheten“ (S. 75ff) unter Berücksichtigung des jeweiligen Kontextes.
Allerdings scheinen solche säkular-islamischen Auslegungslinien in der
Gegenwart innerhalb der islamischen Welt wenig Chancen zu haben, so dass der
muslimische Beitrag zum Aufbau einer (kulturellen) Moderne eher gering
ausfallen wird. Demgegenüber fordert der Philosoph Mohamed Mesbahi (Universität Rabat, Marokko) ein mehrfältiges
Verständnis von „Moderne“, denn „das arabische Denken nähert sich der Moderne
aus vielfältigen Gesichtspunkten, wie etwa der Vernunft, der Freiheit und vom
Menschen her“ (S. 87). Hier bricht sich eine neue Rationalität, eine neue
Aufklärung Bahn (aaO S. 87), denn gerade die arabischen Kulturen stehen an den
Kreuzungspunkten von Vergangenheit und Gegenwart. Dennoch ist die Moderne in
der arabischen Welt inhaltsleer geworden, denn in ihrer westlich-kolonialistischen
Form sind ihre Horizonte nach rückwärts verschoben. Wenn auch der Westen die
Moderne entdeckt hat, so sind die importierten nationalistischen, liberalen und
sozialistischen Ideologien allesamt zerbrochen, und ein neuer Fundamentalismus
macht sich breit. Darum braucht unter Anerkennung der Tradition die „kulturelle
Modernität“ notwendigerweise „politische Modernität“ im Sinne von demokratischer
Toleranz.
Der Mitherausgeber, Ben Abdeljelil erinnert an islamische Aufklärungsbewegungen im frühen Mittelalter und dann wieder im 19. Jahrhundert. Es hat jedoch im arabischen Raum nie einen Bruch mit traditionellen islamischen Wert- und Weltvorstellungen gegeben. Zugleich sind patriarchale Strukturen in die meisten politischen Herrschaftssysteme mit deren Interessen integriert. Von daher wirken sich Modernisierungen „von oben“ nur beschränkt aus. Es bleibt zu hoffen, dass der arabische Frühling eine strukturelle Veränderung im Sinne einer Aufklärung zugunsten des Bürgers als Souverän gewinnt.
Der Mitherausgeber, Ben Abdeljelil erinnert an islamische Aufklärungsbewegungen im frühen Mittelalter und dann wieder im 19. Jahrhundert. Es hat jedoch im arabischen Raum nie einen Bruch mit traditionellen islamischen Wert- und Weltvorstellungen gegeben. Zugleich sind patriarchale Strukturen in die meisten politischen Herrschaftssysteme mit deren Interessen integriert. Von daher wirken sich Modernisierungen „von oben“ nur beschränkt aus. Es bleibt zu hoffen, dass der arabische Frühling eine strukturelle Veränderung im Sinne einer Aufklärung zugunsten des Bürgers als Souverän gewinnt.
Das 3. Kapitel fokussiert sich auf das lateinamerikanische Denken. Der
mexikanische Philosoph Bolívar Echeverría
(1941–2010) geht von der kulturellen Realität Lateinamerikas aus: Pluralität in
der Verschiedenheit. Damit ist die Identitätsfrage auf der Agenda neuer
Entwicklungen, d.h. der unterschiedlichen „Modernen“. Sie bedeuten verschärfte Herausforderungen,
die zugleich eine neoliberale kapitalistisch-ökonomisch geprägte Globalisierung
entstehen ließen (S. 120). Diese bewirkte geradezu einen Modernisierungsschock.
Er bedroht unter nordamerikanisch-europäisch-westlicher Vorherrschaft die auf
Einheit ausgerichteten ursprünglich pluralen Gesellschaftsstrukturen. Dagegen
geht der ebenfalls mexikanische Philosoph Enrique
Dussel in seinem umfangreichen Beitrag ausgesprochen grundsätzlich vor, jedoch
unter kontinuierlicher historischer Bezugnahme. In René Descartes (1596–1650)
kann er nicht den Anfang der Moderne sehen, sondern er ist der Denker „des
zweiten Moments der Frühmoderne“ (S. 182). Dussel erinnert nämlich daran, dass
bereits durch die „Entdeckung“ Amerikas das Paradigma von der europäischen
Weltherrschaft ins Wanken geraten war. Dafür stehen Namen wie Ginés de
Sepúlveda (1490–1573), Francisco Suárez (1548–1617), Bartolomé de Las Casas
(1514–1566) und Felipe Guamán Poma de Ayala (ca. 1535 – nach 1616).
Das
kürzere 4. Kapitel macht geradezu
neugierig, wie europäisches Denken
mit dem Verständnis von Moderne umgeht.
Die Philosophieprofessorin Cornelia
Klinger (Wien und Tübingen) betont die „ästhetische Ideologie der Moderne“
(S. 189) innerhalb der Dreiheit: Autonomie
– Authentizität – Alterität. Sie umgreift dabei einen Zeitraum zwischen 1750
und 1970. Aber es geht um mehr als nur um Kunst und Ästhetik an sich, sondern
um die gesellschaftlichen Wirkungen, durch die „die traditionelle Einheit des
Schönen, Wahren und Guten ihre Geltung“ verliert (S. 191). Kunst emanzipiert
sich von Theologie und Metaphysik, es entsteht eine Autonomie, die sich keinem
Zweck unterordnet („Zweckfreiheit der Kunst“) und in der freigesetzten
Subjektivität eine neue Souveränität
gewinnt. Sie macht die Authentizität von Kunst aus. Die damit verbundene
Sakralisierung des Künstlers, des Genies, lässt allerdings einen Riss
hervortreten, nämlich dem zwischen absoluter Freiheitsforderung von Romantikern
und Neoromantikern und absoluter Formbindung (S. 205) durch die Erben der
Aufklärung. So entwerfen kreative und visionäre Künstler alternative Welten und
Realitäten, die sich als Gesellschaftskritik auch politisch verdichten. Die
Formalisten dagegen ziehen sich in die Kunst selbst oder in die Esoterik
zurück. Wichtig wird nun, die Kunst als „das Andere“, als Alterität, in einem
festen Ordnungsgehäuse wahrzunehmen, nämlich „im Ungebärdigen, Beunruhigenden,
Abweichenden, Disruptiven, Fragmentarischen“ (S. 213). Dies bleibt trotz aller Enttäuschungen die Hoffnung der Gesellschaft,
die sie auf die die Kunst projiziert.
Zum
Schluss versucht der Mitherausgeber Hans
Schelkshorn, eine Signatur der Moderne aus europäischer Sicht zu zeichnen
und dabei zugleich die westlichen Seh-Verengungen zu entgrenzen: „Betrachtet
man den „Diskurs der Moderne und über die Moderne“ (S. 218), so kommt es vom
„16. Jahrhundert an … zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit zu einer
erdumspannenden Kontaktaufnahme zwischen den philosophischen Traditionen“ (mit
einem Zitat von Elmar Holenstein auf S. 219). Die philosophischen Diskurse in
Asien, der arabischen Welt und in Lateinamerika des 19. Jahrhunderts wurden
jedoch von der europäischen Philosophie weitgehend ignoriert. Nordamerika und
Europa blieben auch im 20. Jahrhundert unter sich. Wie aber sieht es heute im
21. Jahrhundert aus? Drei Paradigmen des Moderne-Diskurse wurden bis in die
Gegenwart leitend:
- (einseitige) Fortschrittskonzeptionen des 18. Jahrhunderts,
- Machttheorien, die die „Dichotomie zwischen Vernunft und Macht“ einebnen (S. 222)
- kulturalistische
Theorien, die „>die< Moderne einseitig von den Objektivierungen
instrumenteller Vernunft (kapitalistische Marktwirtschaft, technokratischer Verwaltungsstaat,
utilitaristische Moral) her in den Blick“ nehmen. (S. 224).
Darum versucht
Schelkshorn einen neuen Zugang: „Der Versuch, die Ambivalenzen der Moderne als
komplexes Spiel von Entgrenzungen zu beschreiben, versteht sich bewusst als europäischer Beitrag für einen interkulturellen Diskurs über
die Moderne …“ (S. 227). Die Renaissance mit ihrem neuen Welt- und
Menschenbild, ihrer „unersättlichen Weltneugier“ (S. 227) und dem damit
verbundenen neuen Kosmopolitismus bietet ihm entsprechenden Anhalt. Als Zeugen
dieser Entgrenzung stehen u.a. Pico della Mirandola, Nikolaus von Kues, Michel
de Montaigne, Francis Bacon und John Locke. Angesichts jedoch einer Kultur von
Entgrenzungen ist „ein neues Verständnis von Maß und Grenze“ nötig (S: 244).
Das bedeutet sicher eine ökologische Umorientierung im Westen, die Reduktion
konsumistischer Verschwendung, jedoch keinen Verzicht auf die moderne
Wissenschaft.
Bilanz
Dieses
Buch ist deshalb so wichtig, weil der eurozentristische Blick kulturell weiter die
Runde macht und weil damit europäische Denkformen verabsolutiert werden. Dieser
verzerrten Sicht halten die Autoren aus dem arabischen und lateinamerikanischen
Raum eine andere Schwerpunktsetzung entgegen – Gegendiskurse, die aus der
Begegnung eigenständigen indigener Weisheit und entsprechender Denktraditionen entstehen.
Die aufgezwungenen (post-)kolonialen Strukturen in diesen Ländern haben die durch
den „Westen“ bedrohten Kulturen in einen Überlebenskampf gezwungen. Diese
Auseinandersetzung eröffnet jedoch zugleich Sehweisen, auf die die europäische
Moderne reagieren muss. Dies kann nur sinnvoll auf der Ebene der
Gleichwertigkeit geschehen. Im Grunde müsste in der Fortsetzung dieser
Diskussion nun Asien insgesamt und das Afrika südlich der Sahara mit einbezogen werden.
Im
Kontext der hier angesprochenen interkulturellen und transkulturellen Diskurse der
Moderne sind zwei weitere Bücher aus dem Verlag
Velbrück Wissenschaft von Bedeutung:
--- TRIKI, Fathi:
Demokratische Ethik und Politik im Islam. Arabische Studien zur
transkulturellen Philosophie des Zusammenlebens. Aus dem Französischen
übersetzt von Hans Jörg Sandkühler. 2011, 224 S., Personenregister Hauptintention: Islamität ist kein Hindernis für Demokratie und Laizismus.
--- DHOUIB, Sarhan (Hg.): Kultur, Identität und Menschenrechte.
Transkulturelle Perspektiven. 2012, 355 S.
Hauptintention: Universalisierung der Freiheitrechte gerade angesichts des arabischen Frühlings.
Reinhard Kirste
Rz-Schelkshorn-Moderne,
31.10.12
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