Montag, 1. April 2013

Buch des Monats April 2013: Faszination des Meisters



Almut-Barbara Renger (Hg.):
Meister und Schüler in Geschichte und Gegenwart.
Von Religionen der Antike bis zur modernen Esoterik.
Göttingen: V & R unipress 2012, 486 S., Namen- und Sachregister  
--- ISBN 978-3-89971-648-1 --- 

Summarium: 
Hintergrund dieses Buches ist ein Forschungsprojekt an der Freien Universität Berlin zwischen 2009 und 2011 unter dem Thema "Meister und Schüler: Tradition – Transfer – Transformation" unter der Leitung der Professorin für antike Religion und Kultur, Almut-Barbara Renger. Die mit den genannten Stichworten angesprochenen Beziehungen führen in ganz unterschiedliche kulturelle, religiöse, historische und soziale Kontexte. Dadurch dass faktisch ein großer geschichtlicher Bogen von der antiken griechischen Tradition bis in die esoterischen Strömungen des 21. Jahrhunderts geschlagen wird, ergibt sich ein weitreichendes, faszinierendes Bild von Kontinuitäten und diversen Brüchen im Meister–Jünger/Lehrer–Schüler-Verhältnis. Diesen Traditionsveränderungen nachzugehen, stellen die international kompetenten Fachautoren an jeweils einem Zeitabschnitt dar. So treten vor die Lesenden im Umfeld verschiedener Religionen eine Fülle von religiösen Bewegungen, und zwar mit entsprechenden Gemeinschaftsformen, mit der Herausbildung von Führungspersönlichkeiten und Schülerkreisen zwischen Charisma, Intellektualität, (Lehr-)Autorität und Spiritualität.
Auf mögliche abweichende Verständnisse generell bei Meisterinnen und Jüngerinnen geht der Band nicht ein. 
Insgesamt ist es erstaunlich, wie vielfältig sich die Meister–Schüler–Beziehungen in Europa entwickelt haben. Dieses Buch gibt dafür wesentliche Einblicke. 


Ausführliche Beschreibung
Die systematische und entwicklungsgeschichtliche Klammer des Meisterbegriffs bietet die Herausgeberin in ihrer Einleitung durch eine sorgfältige Beschreibung der Beziehungsformen im Meisterverständnis. Es ist ein „Narrativ“ im Grenzbereich zwischen Religion, Kunst und Wissenschaft: „Die Botschaft, die es [sc. das „Meister-Narrativ“] durch Wiederholung konsolidiert, variantenreich transportiert, lautet, dass erfolgreiches Über-sich-Hinauswachsen einer Person auf einem bestimmten Gebiet zu Überlegenheit, Superiorität und damit zu einer Autorität gegenüber den (als Differenz mitgedachten) Unterlegenen führt – zu einer Autorität, deren Urbild, selbst, wenn sie nicht religiös ist, die Beziehung zwischen Gott bzw. einer übermenschlichen Entität einerseits und dem Menschen andererseits ist“ (S. 21). So sind die Lesenden von Anfang an mit einem erweiterten Meister-Verständnis konfrontiert, dem die Autorinnen in fünf Etappen / Epochen nachgehen:
1. und 2. Antike – philosophisch, poetisch, religiös – jüdisch, christlich, manichäisch
3. Mittelalter
4. Neuzeit
5. Moderne und Postmoderne.
I.  Göttliche Meister – menschliche Schüler in spätantiken Traditionen
Ivana Petrovic (Durham [UK], Schwerpunkt: griechische Literaturgeschichte) sieht in poetischen und philosophischen Darstellungen der griechischen Antike, dass Götter als Weisheitslehrer verstanden werden. Sie betreffen die Wirkung dieser göttlichen Meister auf menschliche Schüler und zeigen eine Annäherung des Göttlichen an das Menschliche. John T. Hamilton (Harvard, Vergleichende Literaturwissenschaft) beschreibt, wie man im antiken Rom den Magister mehr als Vaterfigur sieht. Zugleich bestand das Interesse vieler dieser Meister, besonders das von Cicero, darin, die griechische Bildung in das römische Gesellschaftssystem zu integrieren. In die neronische Zeit mit Seneca, Persius und Musonius führt Hildegard Cancik-Lindemaier (Tübingen, antike Kulturwissenschaft und Christentumsgeschichte). Sie betont das Contubernium im Sinne einer auf Freundschaft ruhenden Lebensgemeinschaft. Der klassische Philologe Hubert Cancik (Tübingen) hebt die religiösen Elemente der Gemeinschaftsbildung im 2. Jahrhundert hervor. Er bezieht sich auf Lehrer wie Quintilian, den Charismatiker „Lukas“, Verfasser des Lukasevangeliums und der Apostelgeschichte. Dessen Gemeinschaftsverständnis von Herausgerufenen („ekklesia“) führt schließlich zur Kirchenbildung.
Schließlich sieht man an Lukian von Samosata (2. Jh.) mit seiner Schule (= Diatribe) die Intentionen der Philosophenschule, nämlich zu Tugend, Moral und Weisheit zu erziehen. Auch Jan Stenger (Glasgow, Schwerpunkt: griechische Literatur der Spätantike) bleibt in der nachchristlichen Antike, indem er den Sophisten und Rhetor Libanios (4. Jh.) mit seiner „meisterhaften“ Selbststilisierung vorstellt. Aber es bilden sich auch neuplatonische Unterweisungsmodelle auf dem geistigen Weg zur Vollkommenheit, um das Irdische hinter sich zu lassen (S. 119).
II.  Lehr- und Lernkonzepte in Judentum, Christentum und Manichäismus
In diesem Abschnitt zeigt zuerst der Judaist und Religionswissenschaftler Giuseppe Veltri (Halle/Wittenberg und Leipzig), wie in der talmudischen Zeit der Rabbi Schüler um sich schart und sie im intensiven Auswendig- und Inwendig-Lernen wie ein Vater den Sohn unterrichtet. Dazu gehört die unbändige Lust am Denken und am Fragen des Schülers, denn „Frechheit ist der Anfang der Weisheit“ (S. 141). Im Blick auf Mani (3. Jh.), Begründer des nach ihm benannten Manichäismus, zeigt Christoph Markschies (Berlin, Professor für Alte Kirchengeschichte), wie sich diese Universalreligion und sein „Apostel und Prophet“ Mani“ an Paulus und seinen Missionsreisen orientierte. So sind auch die Meister-Jünger/Lehrer-Schüler-Relationen entsprechend vielschichtig. Albert Henrichs (Harvard, Schwerpunkt: antike griechische Literatur) geht derselben Frage unter der Perspektive von Manis Schülern nach. Diese werden erstaunlicherweise in den Originaltexten als Lehrer bezeichnet. Historisch spielt insgesamt die Trennung von den mesopotamischen Täufern eine wichtige Rolle.
Im Blick auf die christliche Lehre folgert der Ethiker Michael Bongardt (Berlin) dass es wie in anderen Religionen „in den Kirchen Lehrer – und Lehrerinnen – geben muss: Menschen, die die christliche Lehre entwickeln und sie in den immer neuen Sprachen der jeweiligen Zeiten und Kulturen entfalten“ (S. 183). Das Erstaunlichste dabei ist der Versuch, der Anschauung Gottes nahe zu kommen, obwohl sich diese als das Wichtigste gar nicht lehren lässt. Die Chancen, aber auch die Grenze der Lehrer des Glaubens werden so deutlich. Eva Elm (Berlin, Schwerpunkt: Christliche Spätantike) behandelt am Beispiel der Äußerungen von Hieronymus Keuschheitsideale und Kleidung im Kontext von Askese und verweist auf die prinzipielle Gleichheit von Mann und Frau in der Askese und auf die faktische Gleichstellung von Lehrer und Schüler.
III. Der Transfer religiösen Wissens im Mittelalter bis in die frühe Neuzeit
Zwei islamische Beispiele aus dem Mittelalter diskutiert die Arabistin Regula Forster (Berlin) im Kontext von Gott und Gold sowie Alchemie und Hermetik. Unter Berücksichtigung des antiken Erbes und der mittelalterlichen Suche nach dem Stein der Weisen bezieht sich die hier vorgestellte Risalat al-Hadar auf die alchemistischen Meister mit ihrem Wunsch, Gold herzustellen. Der persische Mystiker al-Suhrawardi (12. Jh.) dagegen sieht sich auf dem Weg zu Gott. Diesen Weg soll auch der Schüler, der murid, beschreiten, indem er nicht aus Büchern lernt, sondern in gehorsamer Liebe zu seinem Scheich von und mit diesem Meister lernt.
Das christliche Gegenstück führt Jan M. Ziolkowski (Harvard, Spezialist für mittelalterliches Latein) mit Meistern aus dem 12. Jahrhundert vor. Motiviert von der Apostolizität des Lebens als Rückbesinnung auf die Apostel Jesu sehen sich Mönche und Laien gleichermaßen in der Nachfolge Christi. Oft genug tief charismatisch geprägt, sind sie als Wanderprediger unterwegs. Aber ihr Charisma ist zugleich ein Problem, weil die Abgrenzung gegen Häretiker und ihre Schüler schwierig wird. Besonders auffällig ist hier die Spannung zwischen Bernhard von Clairvaux und Norbert von Xanten einerseits und Petrus Abaelardus andererseits. Einen spannenden Beitrag liefert Bernd Roling (Berlin, Schwerpunkt: mittelalterliche Latinistik) mit der wirkungsgeschichtlichen Veränderung des Dämonenkindes und Zauberers, Magiers und Propheten Merlin zum Illusionisten, Barden und Weisen in der frühen Neuzeit. In der Verbindung mit Druidenvorstellungen steigt er zum Übervater von König Artus auf.
IV.  Gemeinschaftsformen zwischen Autorität und Charisma in der Neuzeit
In den hier folgenden Beiträgen schiebt sich der Aspekt des Elitedenkens in den Vordergrund, das die Schüler eines Meisters besonders heraushebt. Der Religionswissenschaftler Karl E. Grözinger (Potsdam, Schwerpunkt: Jüdische Studien) zeigt dies anschaulich an zwei Richtungen des Chassidismus, der lurianischen Kabbala im 16./17. Jh. mit der Seelenverwandtschaft von Meister und Schüler und an den Schülern des Baal Schem Tov. Bei den Letzteren geht es um die Vermittlung eines mystischen Gesellschaftssystems.
Mit Freimaurern, Illuminaten und anderen Esoterikern im 18. Jh. beschäftigt sich Linda Simonis (Bochum, Schwerpunkte: Vergleichende Literaturwissenschaft und Mythenrezeption). Sie verweist auf die verstärkten pädagogischen Impulse solcher Vergemeinschaftungen, die zu Anleitung, Betreuung, aber auch zur Überwachung der Adepten durch den spirituellen Lehrmeister führen. Hans Richard Brittnacher (Berlin, Schwerpunkte: deutsche und niederländische Philologie) untersucht die Homoerotik und die Stigmatisierung besonders der aufbrechenden Frauenbewegung bei Stefan George und seinen Jüngern. Diese äußert sich ästhetisch lyrisch, aber auch in seltsamen Ritualen, die im George-Kreis zum Ausdruck kommen und den Führer zum quasi Übermenschen machen. Dieses Verständnis vertiefend, ermöglicht der Beitrag von Judith Ryan (Harvard, Schwerpunkt: Neuere deutsche Literatur) die symbolisch überhöhten, kultartigen Treffen bei Stéphane Mallarmé (1842-1898), der sich selbst als Dichter „in der Genealogie des Orpheus“ stilisierte (S. 322). Mit seinen Anhängern, den Mardisten, wird die oft von Gotteszweifeln geprägte Dichtung eine Art Religionsersatz. Auch Stefan George und andere Dichtergruppen dürften durch sie beeinflusst worden sein.
V.  Die Aktualisierung – der Ruf nach dem Meister – bis heute
Dieser Abschnitt geht einzelnen religiösen Entwicklungen und neureligiösen Bewegungen in der Gegenwart nach. Micha Brumlik (Frankfurt/M., jüdische Erziehungswissenschaft und Religionsphilosophie) stellt die derzeit größte konservativ-orthodoxe jüdische Gruppierung, die Chabad Lubawitsch vor (benannt nach dem westrussischen Dorf Ljubawitsch). Sie steht in der Tradition des Rabbi Shneur Salman von Lijadi (1745-18112) und irritiert durch das Wiederaufleben z.T. christlicher Messiasvorstellungen im chassidischen Gewand gottähnlicher Erlöser-persönlichkeiten. Im Horizont des vielgestaltigen Hinduismus untersucht der Religionswissenschaftler Frank Neubert (Bern, Schwerpunkt: Neo-Hinduismus) die als Hare-Krishna-Bewegung im Westen bekanntgewordene International Society for Krishna Consciousness (ISKCON) des Guru Srila Prabhupada. Das Guru-Schüler-Verhältnis soll auch in den Ritualen (z.B. des Chantens) so gestaltet sein, dass in der Verehrung des Guru Krishna selbst verehrt wird (S. 362). Eine weitere Besonderheit in der Korrelation von Ost und West ist das Lehrer-Schüler-Verhältnis in den fernöstlichen Kampfsportarten unter Berücksichtigung des „Sensei“, der wie ein Übervater immer über dem Schüler steht. Gunter Gebauer (Berlin, Schwerpunkt: Sportphilosophie) und Jörg Potrafki (Berlin, Kendo-Europameister) loten diese Beziehung vor dem Hintergrund von Trainer und Athlet aus. Im Blick auf die Zunahme (neo)-schamanistischer Praktiken im Westen bezieht sich der Religionswissenschaftler Kocku von Stuckrad (Groningen, Schwerpunkt: Europäische Esoterik) auf die Forschungen von Mircea Eliade, C.G. Jung und Joseph Campbell. Von Carlos Castaneda, Joan Halifax und Michael Harner ausgehend, kommen keltische und indianische Strömungen, z.T. in Verbindung mit der New Age-Bewegung zur Sprache. Zusammen mit kritischen Anfragen an Meistergestalten gerät der Neo-Schamanismus in die Veralltäglichung (S. 404). Kim E. Knibbe (Groningen, Schwerpunkte: Katholizismus und Spiritismus) untersucht das spiritistische Medium Jomanda in den Niederlanden. Sie leuchtet ihre direkt mit dem Himmel verbundene Heilungsautorität in der Spannung zu den Individualisierungstendenzen ihrer Nachfolger kritisch aus.
   
Diese Beispiele nötigen zu einem mehr systematisierenden Beitrag, den Stefan Rademacher (Bern, Schwerpunkt: alternative Religiosität) für die Esoterik-Kultur einbringt. Er umgreift damit ein diffuses und sich ständig veränderndes Feld zwischen neureligiösen Gemeinschaften und marktkonformem Esoterik-Ereignissen. Es entsteht der Eindruck, dass Exklusivbindungen an einen selbst ernannten Meister im Abnehmen begriffen sind. Zum Schluss in diesem Band beschreiben der Psychologe Jörg Felfe (Hamburg) und der Wirtschafts- und Sozialpsychologe Detlev Liepmann (Berlin), wie sich Führungskraft in verschiedenen Bereichen wie Religion, Philosophie, Bildende Kunst, Musik, Sport und in der Aus- und Weiterbildung insgesamt auswirkt. Zwei Führungstypen haben sich dabei entwickelt, der Eine mehr dem Funktionär nahestehende „Manager“ und der Andere des wohlgemerkt nicht-autoritären, dennoch auch charismatischen „Leaders“ (S. 445). Dieser entwickelt im Zusammenspiel mit den Mitarbeitern oder der Arbeitsgruppe einen „transformationalen Stil“ ohne jeglichen Führerkult. Es gilt nämlich, das Richtige z.B. für ein Unternehmen zu tun. Die Führungsforschung erkennt hier durchaus vorbildhafte Elemente für unterschiedliche Organisationsstrukturen in Religion und Gesellschaft.
Reinhard Kirste,  
Rz-Renger-Meister, 31.03.13

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