Katajun
Amirpur:
Den Islam neu denken.
Der Dschihad für Demokratie, Freiheit und
Frauenrechte
Beck`sche Reihe: bsr 6075.
München:
C.H. Beck 2013. 256 S. Abb.
--- ISBN
978-3-406-64445-0 ---
Ausführliche Beschreibung
Die Autorin, inzwischen Professorin für Islamische Studien in der Akademie der Weltreligionen der Universität Hamburg, hat sich schon längst einen Namen gemacht, nicht nur als Journalistin zum Thema Islam, sondern auch als kompetente Islamwissenschaftlerin. So nimmt man mit Spannung ihre neue Publikation zur Hand, weil schon der Titel ahnen lässt, dass es hier um ein dem Islam gemäßes und zugleich modernes Verständnis dieser oft diskreditierten Religion geht. Sie macht das bereits in ihrem Vorwort deutlich, nämlich „neue Ansätze einer muslimischen Theologie aufzuzeigen“, die mit einer Neuauslegung, also einem „Neulesen des Islams in guter Absicht“ verbunden ist, was allein im Islam zählt und traditionell als niya verstanden wird (S. 16). Das Vorurteil eines nicht der Moderne fähigen und unaufgeklärten Islams möchte Katajun Amirpur nicht nur allgemein begegnen, sondern dies auch konkret an ReformerInnen des Islams nachweisen.
Es muss nämlich
vermieden werden, dass Fundamentalisten und theologisch Konservative die
Deutungshoheit des Korans für sich beanspruchen. Das von der Autorin benutzte
Wort „dschihad“ im Untertitel signalisiert zugleich einen moralischen Impuls im
klassischen Verständnis dieses Wortes. Dieser Terminus beinhaltet nämlich wie
oft gesagt „heiliger Krieg“, sondern spirituelle und geistige Anstrengung gegen
die eigenen negativen Seiten des Menschen. Zu diesem „dschihad“ gehört auch,
für Meinungs- und Auslegungsfreiheit und Gleichberechtigung der Geschlechter
auf einer islamischen Glaubensbasis einzutreten.
Schon das
historisch angelegte Einleitungskapitel mit besonderem Bezug auf Muhammad Abduh (1849–1905) und Jamal ad-Din al-Afghani (1838–1897) gibt
einen Vorgeschmack, wie vielfältig sich „der Islam“ in der Geschichte
dargestellt hat. Die heutigen islamischen ReformerInnen berufen sich zum Teil
auf diese Vorgänger und nehmen besonders gesellschaftliche Probleme unter
theologischen Gesichtspunkten so auf, dass eine Orientierung zu mehr Freiheit,
und Menschenrechten möglich wird. Übrigens sind in diesem Zusammenhang die
Begriffe „liberaler“ oder „progressiver“ Islam dazu nicht besonders hilfreich,
weil sie ein gewisses Schubladendenken fördern (S. 13).
Für ihre
beeindruckende Vorstellung solcher islamischer NeudenkerInnen hat die
Autorin aus der großen und allgemein wenig beachteten Vielzahl von Reformern die
folgenden ausgewählt:
Nasr Hamid Abu Zaid, Fazlur Rahman, Amina Wadud, Asma
Barlas, Abdolkarim Soroush und Mohammed Mojtahed Shabestari.
Amirpur
beginnt mit dem von islamischen Konservativen in Ägypten als Ketzer
gebrandmarkten Nasr Hamid Abu Zaid
(1943-2010), der konsequent für eine humanistische Lesart des Koran eintrat und
dies auch als kritischer Literaturwissenschaftler exegetisch verdeutlichte.
Mehr zu Abu Zaid siehe auch unter:
http://textmaterial.blogspot.de/2013/06/hamid-nasr-abu-zaid-wegbereiter-einer.html
Dann
geht die Autorin auf dem vom indischen Subkontinent stammenden Fazlur Rahman (1919-1988) ein. Er
lehnte das traditionelle sunnitische Offenbarungsverständnis als „Diktattheorie“
ab (S. 100) und forderte ein ganzheitliches (stark ethisch geprägtes)
Verständnis des Korans ein, das von bewusster Akzeptanz Andersgläubiger geprägt
ist.
Bei der
aus den USA stammenden Amina Wadud
(* 1952) wird es deshalb besonders spannend, weil sie auf der Basis ihres
Koran-Verständnisses die religiös und rassistisch begründete Vormachtstellung
von Männern in der Religion konsequent aushebelt. Sie wurde und wird darum von
Konservativen entsprechend beschimpft und ausgegrenzt. Dies spitzte sich besonders
bei der Leitung von gemischten Gebeten durch Frauen zu. Aber mehr noch als
öffentlichkeitswirksame Auftritte dürften auf Dauer ihre exegetischen Schriften
wirken.
Die
Islamwissenschaftlerin Asma Barlas (*
1950) stammt aus Pakistan. Sie lebt inzwischen in den USA. Mit ihr lernen wir
eine weitere umstrittene Koranauslegerin kennen, die sich gegen die
traditionell patriarchalen Interpretationen des Korans wehrt und anders als Abu
Zaid und Farid Esack eine eigenständige Aneignung der heiligen Texte und daraus
abgeleiteten Praktiken vorantreibt. Von daher hinterfragt sie aus
feministischer Sicht nicht nur die Autorität der Hadithe, sondern verweist auf
das Gottesverständnis des Korans, in dem Gott jenseits aller Abbilder weder
männlich noch weiblich reklamiert werden kann (S. 165). Es gilt also den Koran
„Geschlechter gerecht“ zu lesen, durchaus ähnlich wie das auf christlicher
Seite durch die Übersetzung der Bibel in gerechter Sprache“ (Gütersloh 2006) geschehen
ist.
Zwei
schiitischen Reformern sind die beiden letzten Persönlichkeiten des Buches
gewidmet. Der Iraner Abdolkarim Soroush
(* 1945), zuerst quasi der Chefideologe der Revolution mit Khomeini,
entwickelte sich mehr und mehr zum Abweichler und Kritiker des iranischen
politisch-religiösen Systems. Religiöse Erkenntnis ist – so seine These – vom
Stand der Wissenschaft abhängig und dem geschichtlichen Wandel unterworfen.
Damit ist auch der Koran letztlich ein offener Text, göttlich und menschlich
zugleich. Er lässt unterschiedliche Auslegungen zu. Auch wenn die Religion
vollkommen ist, gibt es doch nur zeitbedingte Verstehensweisen und keinerlei
Deutungshoheit. Damit lässt sich auch Religion nicht mehr politisch
instrumentalisieren, vielmehr muss sie entideologisiert werden. Dem kann
offensichtlich eine religiöse Diktatur nur mit dem Vorwurf des „Abfalls vom
Glauben“ antworten.
Ähnlich
spannend sieht die theologische Entwicklung von Mohammad Mojtahed Shabestari (* 1936) aus. In der religiösen
Hierarchie eine Stufe unter einem Ayatollah stehend, gehörte er zuerst zu den
Verehrern Khomeinis. In seinen Koran-Exegesen macht er die These geltend, dass
die Heilige Schrift ihr eigener Ausleger sei (man denke an Martin Luther!). Mit
starkem missionarischem Impuls leitete er von 1968-1977 das Islamische Zentrum
an der Hamburger Außenalster. In seiner Person setzte sich jedoch nach und nach
ein subjektiv orientiertes Hermeneutik-Verständnis des Korans durch, das den
Einfluss westlicher Religionswissenschaft und besonders den von Hans-Georg
Gadamer spüren lässt. Denn eine objektive Lektüre ist generell nicht möglich.
So gerät Shabestari in die Nähe protestantischer Theologe. Dort wird das
korrelative Offenbarungsverständnis von Paul Tillich für ihn besonders wichtig,
der auch im Gottesbild die Erfahrung betont. In der Verbindung mit seinem
Vorbild Muhammad Iqbal (1877-1938) gewinnt Shabestaris Gottesannäherung
mystische Tiefe als Kontrapunkt zu den Rechtsvorstellungen im Islam. Der Koran
bietet dafür eine Lesart der Welt mit prophetischer Kraft, die auf Gerechtigkeit
und Menschenrechte ausgerichtet ist.
Bilanz
Man spürt der Autorin ab, dass sie mit
diesem Buch Anstöße zum Umdenken geben möchte, gerade was islamische Theologie
und Koran-Auslegung betrifft. Sie setzt damit den Diskurs um „Islam in der
Moderne“ konsequent fort und ermutigt, gerade auf Stimmen wie die im Buch
vorgestellten, intensiver zu hören. Ihre zusammen gestellte Auswahl
progressiver islamischer Denkerinnen und Denker bestätigt, dass es „den Islam“
nicht gibt, sondern auch innerislamisch intensiv um ein angemessenes heutiges
Verständnis des Korans und islamischer Lebensgestaltung gerungen wird, und zwar
unabhängig davon, ob dies im Rahmen der Sunna oder der Schia geschieht. Gerade
angesichts der vielen Vorurteile gegenüber der geistigen Unbeweglichkeit des
Islam ist dieses Buch eine notwendige Klarstellung. Auch weil es gut
recherchiert und übersichtlich zu lesen ist, wäre zu wünschen, dass diese hier
vorgestellten Muslime einer breiten Öffentlichkeit bewusst werden.
Dieses
Buch gibt wertvolle Impulse, die Reformgedanken muslimischer Theologen
gesellschaftlich und praktisch umzusetzen.
Reinhard Kirste
Beispiele
für die Haltung weiterer muslimische ReformerInnen:
-
- Manifest islamischer Intellektueller: Für Islam und Demokratie
Qantara.de, 23.02.2015 - Malek
Chebel: Changer l’islam.
Dictionnaire des réformateurs musulmans des origines à nos jours.
Paris: A. Michel 2013
- Rachid Benzine:
--- (et Delphine Horveilleur): Des milles et une façons d'être juif ou musulman
--- Sciences humaines. Religions / Spiritualités. Paris: Seuil 2017, 256 pp.
--- Les nouveaux penseurs de l’islam. Paris: A. Michel 2004
--- Les dangers du salafisme radical actuel
(die Gefahren des aktuellen radikalen Salafismus) --- L'Express online, 15.05.2015 - Omid Safi (ed.):
Progressive Muslims on Justice, Gender, and Pluralism.
Oxford (UK): OneWorld 2003 - Charles Kurzman
(ed.): Liberal Islam. A Sourcebook.
New York / Oxford: Oxford Univ. Press 1998
Vgl.
auch die folgenden Titel von Katajun Amirpur:
- Die Entpolitisierung des Islam. Abdolkarim Sorushs Denken und Wirkung in der Islamischen Republik Iran.Würzburg: Ergon 2003
- Gott ist mit den Furchtlosen, Schirin Ebadi –
Die Friedensnobelpreisträgerin und der Kampf um die Zukunft Irans.
Freiburg u.a.: Herder spektrum 2004 - zusammen mit Reinhard Witzke: Schauplatz Iran. Ein Report.
Freiburg u.a.: Herder spektrum 2005 - zusammen mit Ludwig Amman (Hg.): Der Islam am Wendepunkt.
Liberale und konservative Reformer einer Weltreligion.
Freiburg u.a.: Herder spektrum 2006
Rz-Amirpur-Islam-neu,
30.06.13, bearb. Juni 2019
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