Mittwoch, 18. September 2013

Inklusion - nicht ausgrenzen - einbeziehen

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Annebelle Pithan / Agnes Wuckelt / Christoph Beuers (Hg.):
„… dass alle eins seien“ im Spannungsfeld von Exklusion und Inklusion.
Forum für Heil-und Religionspädagogik, Bd. 7.
Comenius-Institut, Münster 2013, 260 S.
--- ISBN 978-3-943470-037---

 
Thema
Auf dem Klappentext ist rückseitig zu lesen, dass der zu besprechende Band die Dynamik von Inklusion und Exklusion im Kontext kirchlicher Bildungsverantwortung thematisiert.

Die HerausgeberInnen
  • Dr. Annebelle PITHAN, Jahrgang 1958, ist wissenschaftliche Referentin am Comenius-Institut, Evangelischen Arbeitsstätte für Erziehungswissenschaft e. V., in Münster.
  • Dr. Agnes WUCKELT, Jahrgang 1949, ist Professorin für Religionspädagogik im Fachbereich Theologie an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen, Abteilung Paderborn.
  • Diakon Dr. Christoph BEUERS ist Leiter der Fachschule für Sozialwirtschaft, Fachrichtung Heilerziehungspflege, im St. Vincenzstift Aulhausen. Zusätzlich doziert er an den Universitäten in Frankfurt am Main und Köln.
Entstehungshintergrund
Die zu besprechende Publikation enthält größtenteils die Beiträge, welche im Rahmen des 7. Forums für Heil- und Religionspädagogik in der Zeit vom 18. bis 20. April 2012 in Bad Honnef vorgetrgen wurden.

Aufbau
  1. Irmtraud FISCHER: Inklusion und Exklusion – Biblische Perspektiven
  2. Gerhard WEGENER: Inklusion braucht tragende Beziehungen
       – Kirchen als Inklusionsagenten in der Gesellschaft
  3. Christiane GRABE: Kirche und Diakonie
      als Impulsgeber und Träger inklusiver Quartiersentwiccklung
  4. Elzbieta GRÖLZ: Menschen mit schwerer Behinderung und Inklusion – Ein Werkstattbericht
  5. Sabine AHRENS/Katrin WÜST: Inklusion in Kirche entwickeln – Ein offener Bildungsprozess
  6. Christhard EBERT: Inklusion durch Kooperation?
  7. Rita KLEMMAYER: Ich mache mir Stress – Hypnosystemisches Wissen zur Stressbewältigung
  8. Sabine LUCKE: Inklusion als Kunst der weichen Blicke und Formen
  9. Andreas NICHT: Schule aufräumen? – Vom Reiz der Vielfalt
10. Christine LABUSCH: Inklusion im Lehrerzimmer – Ansätze für die Fortbildung
11. Anita MÜLLER-FRIESE/Wolfhard SCHWEIKER: Inklusives Lernen im Religionsunterricht.
12. Erna ZONNE: Inklusion und Exklusion im Religionsunterricht
      bei emotionalem und sozialem Förderbedarf
13. Daniela HAAS: „Roter Kopf … gesenkter Blick.“
      Impulse für eine schamsensible Schul- und Unterrichtskultur
14. Almut DIETRICH/Raphael BAK/Frank G. POHL:
      Schule ohne Homophobie – Schule der Vielfalt. Ansätze, Aktivitäten und Ziele.
15. Wilfried W. STEINERT: Sozialraumorientierung als wichtiger Faktor
      in der Entwicklung inklusiver Bildungsstrukturen
16. ders.: Vom Einzelfallhelfer zum Klassenassistenten
      – Pädagogische, rechtliche und strukturelle Herausforderungen in der inklusiven Bildung
17. Dagmar BICKMANN / Barbara KEIPER / Veronika SCHMIDT / Jochen STRAUB:
     Partnerschaftliche Exerzitien – Tage zum Aufatmen für Jugendliche.
     Werkstattbericht eines inklusiven Projekts
18.  Martin MERKENS /Bernhard OSSEGE: Inklusive Vorbereitung auf die Sakramente
      am Beispiel Erstkommunion und Firmung. Grundlagen und Bausteine
19. Roland WEIß: „Du gefällst mir“ – Inklusive Firmvorbereitung

Inhalt
Irmtraud FISCHER nimmt die Bibel hinsichtlich ihrer Inklusions- und Exklusionsbestandteile in den Blick. Und hier beginnt sie in ihren einleitenden Worten auch mit dem ersten Buch der Bibel, als da wären Gen 1, 26f. und Gen 2. Die Autorin benennt die Kriterien für Inklusion und Exklusion. Hier legt FISCHER den Fokus auf die Kriterien zur Definition von gesellschaftlichen Differenzen und der gesellschaftlichen Differenzierung im Alten Orient.
Die im vorhergehenden Abschnitt vorgetragenen theoretischen Grundlagen werden sodann auf die biblischen Texte angewendet. Es wird untersucht welche Kriterien in der Bibel zur Anwendung kommen, um die Verschiedenheit der Menschen festzustellen, als da beispielsweise wären:
  • die Genealogie;
  • das Geschlecht und die sexuelle Orientierung;
  • psychische Erkrankungen und Behinderungen;
  • das Alter;
  • der ökonomische Status;
    oder
  • Mehrfachdiskriminierungen.
Inklusion, so Gerhard WEGNER „wird gesellschaftlich erst in einer gerechten Verteilung der Ressourcen und Möglichkeiten Wirklichkeit. Die Rechtsgrundlage allein reicht nicht aus. Es braucht tragende Beziehungen“ (S. 25).
So widmet sich der Autor dem Grundproblem liberaler Rechte. „Die Differenz zwischen Anspruch und Wirklichkeit liegt […] im Charakter liberaler Rechte begründet; sie macht ihre Stärke (Universalität), aber zugleich auch ihre Schwäche (Irrealität) aus. Und eben dies gilt auch für das Recht auf Inklusion“ (S. 27).
In einem weiteren Abschnitt betrachtet der Verfasser die Inklusion als Dispositiv, um anschließend inklusive Widersprüche und Martha Nussbaus Liberalismus herauszustellen.
Um dann den Kreis zu schließen wird der Bogen zu der der Kirche innewohnenden Inklusionsagentur geschlossen. Zu fragen ist, wer für die Inklusion verantwortlich zeichnet. Von herausragender Bedeutung ist hier die Kirche samt ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, denn:
  • „Real: Konfessionell gebundene Menschen stellen das größte Engagementpotential (für andere) in Deutschland dar […]. Es sind diese Menschen, die in besonderer Weise motiviert sein könnten, sich für andere einzusetzen. Inklusion ist in unserem Land auf die Bereitschaft dieser Menschen angewiesen. Christlicher Glaube motiviert zu einer proaktiven Haltung der/ dem Anderen gegenüber, die wir herkömmlich mit Nächstenliebe bezeichnen.
  • Symbolisch: Religion und Spiritualität sind prinzipiell äußerst inklusionsfreundlich […]. Der Glaube an Gott ist ‘umsonst’ und überall zu haben und die mit ihm verbundenen religiösen Ressourcen, die zur Stabilisierung der eigenen Identität führen können, ebenso“ (S. 42).

Christiane GRABE stellt fest, dass inklusive Lebensweltbedingungen und die Wertschätzung von Vielfalt und Anderssein, eine inklusive Gesellschaft begründen. Hier widmet sich die Verfasserin den Faktoren:
  • Wohnen, Wohnumfeld und Arbeit;
  • Gesundheit, Service, Pflege;
  • Partizipation und Kommunikation;
  • Bildung, Kunst und Kultur.
Elzbieta GRÖLZ widmet sich in ihrem Beitrag den Menschen mit speziellen Bedürfnissen, welche in einer stationären Einrichtung oder, mit Erving GOFFMAN (1973) gesprochen, Totalen Institution leben. Die Autorin zeigt die Dezentralisierung am Beispiel des St. Vinzenzstifts auf.

Fazit
Anhand der vier besprochenen Beiträgen soll der Geist dieses Herausgeberbandes dargestellt werden. Es geht um Inklusion. Es geht um Inklusion in Schule und Kirchengemeinde. Leserinnen und Leser, die sich diesen Institutionen verbunden fühlen und sich notwendigerweise auf dem Weg hin zur Inklusion befinden, sei die Lektüre der bis hierhin besprochenen Publikation dringend empfohlen.

Literatur:
GOFFMAN, Erving: Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. Frankfurt/Main 1973.
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Dr. Carsten Rensinghoff – Institut für Praxisforschung, Beratung und Training bei Hirnschädigung


Sonntag, 1. September 2013

Buch des Monats September 2013: Interkulturelle Philosophie - grenzüberschreitende Sichtweisen



Hamid Reza Yousefi: Die Bühnen des Denkens.
Neue Horizonte des Philosophierens
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Münster u.a.:  Waxmann 2013, 259 S. ---  ISBN 978-3-8309-2821-8 ---


Ausführliche Beschreibung
Der Autor gehört zu den jüngeren Philosophen, denen die Interkulturalität der Philosophie besonders am Herzen liegt. Er wurde 1967 in Teheran geboren und nimmt sowohl iranische als auch deutsche Kulturtraditionen in seinen Arbeiten auf. So lehrt er interkulturelle Philosophie und Philosophiegeschichte an der Universität Koblenz-Landau, Campus Koblenz. In Trier hat er das Institut zur Förderung der Interkulturalität (IFI) gegründet, dessen Leiter er auch ist. Eine beachtliche Zahl von Büchern mit seinen Forschungsschwerpunkten hat er bereits veröffentlicht bzw. herausgegeben. Sie beziehen sich besonders auf moderne Theorien der Toleranz, Kommunikation sowie ethische und hermeneutischen Entwicklungen  in der Philosophie und Religionswissenschaft.

Mit dem vorliegenden Buch baut er eine didaktische Brücke zum Verstehen verschiedener Kulturtheorien und der vielfältigen Tendenzen interkultureller Philosophie in Vergangenheit und Gegenwart. Darum kommen hier berühmte islamische Philosophen des Mittelalters, der beginnenden Neuzeit und der Gegenwartsphilosophie zur Sprache, aber ebenso heutige Ansätze interkultureller Philosophie im deutschsprachigen Raum.

Aber was versteht Yousefi genau unter interkultureller Philosophie? „Das Kompositum >Interkulturelle Philosophie< ist eigentlich eine Tautologie. Dies hängt damit zusammen, dass Philosophie per se global und universal ist, weil ihr Gegenstand der Mensch in allen seinen Dimensionen ist.“ Yousefi möchte mit diesem Begriff „auf diese universale Ursprünglichkeit der Philosophie hin[zu]weisen, die aufgrund der kolonialen Expansion eine eurozentrische Ausrichtung bekommen hat, somit verabsolutiert worden ist und irrigerweise für universal gehalten wird“ (S. 45). Dem steuert er entgegen, indem er gewissermaßen eine „Entkolonialisierung“ geisteswissenschaftlicher Begriffe betreibt. Denn Ausdrücke wie Dritte Welt oder Entwicklungsländer zeigen genau diese europäisch-nordamerikanische Fokussierung (S. 46). So wird es notwendig, angesichts verschiedener Modelle von „Kulturtransformationen“ (multikulturell, transkulturell, interkulturell) deren Vorzüge und Nachteile zu bedenken. Entscheidende Impulse für eine Interkulturelle Philosophie haben bereits der iranisch-stämmige Religionsphilosoph Abdoldjavad Falaturi (1926–1996), der indische Philosoph Ram Adhar Mall (* 1937), der österreichische Philosoph Franz Martin Wimmer (*1942), der kubanische Philosoph Raúl Betancourt (*1946) und der deutsche Germanist Alois Wierlacher (*1936) gegeben. Ihnen ging und geht es um weit mehr, als um die von vielen Denkern praktizierte Kontextualität. Vielmehr werden alle methodischen Komponenten der Interkulturalität einbezogen. Diese sind konsequent. pluralistisch ausgerichtet (S. 53) und umschließen das weite Feld zwischen analytischen, phänomenologischen und empirischen Zugängen.

Mit solch umfassend methodischem und hermeneutischem Handwerkszeug ausgerüstet, stellt Yousefi in biografisch zugespitzten Abschnitten orientalische Philosophen und deren Grenzen überschreitende Offenheit vor. Dazu gehören im frühen Mittelalter die rationalistisch ausgerichteten Mutaziliten, aber auch allgemein bekannte Persönlichkeiten wie Ibn Sina (= Avicenna, 980-1037), Al-Ghazali (1058-1111) und Ibn Rushd (Averroes, 1126-1198). Aus der Zeit zwischen dem 14. und dem 17. Jahrhundert wären neben vielen anderen Ibn Khaldun (1332-1406) oder Molla Sadra (1571-1640) zu nennen. Für das 19. und 20. Jahrhundert  spielen z.B. Mohammed Ali Foroughi (1877-1942), Mohammed Arkoun (1928-2010) und Mohammed Abed Al-Jabri (1935-2010) eine wichtige entwicklungsgeschichtliche Rolle.     
Dieser beeindruckenden Persönlichkeitsreihe stellt Yousefi durch den „Westen“ (mit)geprägte Philosophen gegenüber, von denen Karl Jaspers sicher eine Schlüsselstellung mit seinem Verständnis der „Achsenzeit“ einnimmt. Neben den schon anfangs erwähnten F.M. Wimmer, Ram Adhar Mall und Raúl Betancourt kommen hier noch der hermeneutisch ausgerichtete Heinz Kimmerle (*1930), Gregor Paul (*1947) und der wesentlich jüngere Harald Seubert (*1967) ins Blickfeld.
Bilanz
Dieses Buch ist deshalb so hilfreich, weil hier in leicht verständlicher Sprache Kulturtheorien der Gegenwart diskutiert werden und von daher die Frage nach dem Sinn des interkulturellen Philosophierens gestellt wird. Damit legt der Verfasser den Weg zu einem Geschichtsbewusstsein frei, das sich für kritische Diskurse offenhält, aber noch mehr: Er baut korrelativ ein systematisch-dialogisches Strukturmuster auf, in dem Texte, Quellen und Themenfelder ausführlich berücksichtigt werden. Dies dürfte darum das erste didaktisch ausgerichtete Buch der Interkulturellen Philosophie im deutschsprachigen Raum sein und weist damit in neue und ungewohnte Denkhorizonte ein – gerade in den Bezügen zwischen Orient und Okzident.
Die LeserInnen müssen keine speziellen philosophischen Vorkenntnisse mitbringen, weil methodische Klarheit das Buch durchzieht. Es ist strukturiert durch optische Verdeutlichung in Beispielen, Erklärungsversuchen, Merkkästen und Abbildungen. So findet man/frau leicht die zugehörigen Schaubilder, die zusammenfassenden Merksätze und orientierende Fragestellungen sowie praktische Übungsaufgaben für jeden Abschnitt. Diese methodischen Verdeutlichungen erhöhen die Möglichkeit des erinnernden Nachlesens und die Sachorientierung insgesamt. So ist ein Lehrbuch entstanden, das nicht nur für Studierende der Philosophie, Theologie und Kulturwissenschaften weiterführend sein dürfte, sondern dass jedem/jeder Interessierten ermöglicht, das eigene Kulturenverständnis zu erweitern und eurozentrische Sichtweisen abzulegen. Dadurch wird ein vertieftes Verständnis anderer Kulturtraditionen – auch in ihren religiösen Zusammenhängen – ermöglicht. Zugleich aber wird deutlich, dass es notwendig ist, die eigenen gegenwärtigen Standortbestimmungen interkulturell und interreligiös vorzunehmen. Yousefis Buch bietet dafür eine konstruktive Anleitung.
Reinhard Kirste
Rz-Yousefi-Phil-Bühne, 31.08.13
Von Reaza Hamid Yousefi wurde bereits in den „Ein-Sichten“ besprochen: