Freitag, 3. Januar 2014

Integrales Bewusstsein als grundlegende Verbindung zwischen Ost und West



Michael Colsman: Bewusstsein, konzentrative Meditation und ganzheitsorientiertes Menschenbild. Beiträge zu einem Verstehen des Bewusstseins im Buddhismus und im integrativen Denken der Neuzeit (v.a. bei Jean Gebser und Sri Aurobindo).  Bochum : FGL-Verlag 2013, 563 S., Schaubilder, ausführliches Personen- und Sachverzeichnis (zugl. Diss. Universität Oldenburg 2011) --- ISBN 978-3-9815759-0-3 ---

Unter dem Leitmotiv „Bewusstsein“ versucht der Psychotherapeut und Indologe Michael Colsman, eine Brücke zwischen den verschiedenen Bewusstseinskonzepten in der (westlichen) Psychologie und in den asiatischen Traditionen herzustellen. Dabei bezieht der Autor auch Ergebnisse aus den Neurowissenschaften mit ein. Der Kulturanthropologe Jean Gebser (1905–1973) und der indische Yogameister Sri Aurobindo (1872–1950) spielen eine herausragende Rolle, weil beide den zentralen Gedanken der Ganzheitlichkeit als menschlich realisierbare Möglichkeit betonen.


Offensichtlich können „integrales Bewusstsein“ und „integraler Yoga“ als Verbindungsstücke zwischen Ost und West dienen. Damit wird zugleich die Intention anvisiert, wissenschaftliche Erkenntnisse und spirituelle Erfahrungen aufeinander abzustimmen. Diese Tendenz im Spannungsfeld von Theorie und (Übungs-)Praxis zieht sich durch die gesamte Dissertation von Michael Colsman.

In einem umfassenden Grundlagenteil versucht er dafür erste Ergebnisse auf der psychologischen Ebene zu gewinnen, um dann die jeweiligen Bewusstseinsverständnisse in der abendländischen, der indischen und tibetischen Geistesgeschichte systematisierend zu beschreiben. Dann untersucht er hinduistische und buddhistische Konzepte unter Eingrenzung auf einzelne buddhistische Schulen. Unterschiedliche Bewusstseinsfelder umschreibt er dafür auf dem Hintergrund der älteren Texte aus dem Pali-Buddhismus und bezieht dann einzelne Mahayana-Schulen und speziell den  tibetischen Buddhismus heran. All dies kann natürlich angesichts der Materialfülle nur Auswahlcharakter haben. Diesem Grundlagenteil folgt nach terminologischen Klärungen eine Art Übungsteil im Sinne einer „konzentrativen Meditation“ auf buddhistischer Grundlage.

Methodisch geht Colsman phänomenologisch vor, indem er sich auf das „Normalbewusstsein“ konzentriert. Von da aus bedenkt er empirisch sich veränderte Bewusstseinsstufen und ergänzt diese Erkenntnisse unter Berücksichtigung von Ergebnissen aus physiologischen und psychologischen Messverfahren.
Bei seinerintegrativen Arbeitsdefinition von Bewusstsein“ (S. 280–283) geht Colsman von dem nach außen orientierten „Normalbewusstsein“ aus, das durch entsprechende Übungen sensibilisiert und erweitert wird. Im weiteren Verlauf gelingt – wie die verschiedenen Konzepte gerade im speziellen Teil seiner Arbeit zeigen – ein Zugang hin auf „eine direkte tragfähige Verbindung zur höchsten Ebene der über das Weltliche hinausgehenden Wahrheit bzw. Wirklichkeit. So kommt der konzentrativ Meditierende schließlich zum „weisheitlichen Bewusstsein“ (S. 282) und kann sich angesichts der vollen Verwirklichung spirituellen Erwachens auch auf innerweltlicher Ebene voll integrativ entfalten“ (S. 282f).

Was hier als Definition vorweggenommen wurde, beginnt im Grundlagenteil mit einer Eingrenzung und Präzisierung des Bewusstseinsbegriffs. Hier werden menschliche Bewusstseinsebenen im Zusammenhang von pathologischen, meditativen und kontemplativen Veränderungen angesprochen. Colsman interessieren dann besonders die Übergänge vom „Normalen“ zu höheren Bewusstseinsebenen. Dieser Gedankengang wird durch die Darstellung geschichtlicher Entwicklungen zum Bewusstseinsbegriff insgesamt unterbrochen. So folgt ein Überblick aus Sicht der Philosophiegeschichte, der Soziologie und der Neurowissenschaften, um von da die meditativ-kontemplativ veränderten Bewusstseinszustände zu bedenken, wie sie im Abendland eine Rolle spiel(t)en. Dem werden die Positionen von Sri Aurobindo, dem Pali-Buddhismus und mehrerer anderer Schulen des Buddhismus bis hin zum Yogachara (= Ausüben des Yoga) und dem tibetisch-tantrischen Buddhismus gegenüber gestellt.

Im speziellen Teil folgt eine Orientierung im Blick auf die buddhistische konzentrative Meditation mit den entsprechenden Bewusstseinsübungen, um eine „höhere“ Sammlung zu erreichen. Dazu gehören neben der übenden Vorbereitung, der Beachtung der Körperhaltung, die „Inhalte“ der Meditation und spirituelle Wegmarkierungen hin zu „feinkörperlich-formhaften Versenkungsstufen“ (S. 320ff). Sie gipfeln in der Auflösung der Dualität. Was hier mehr allgemein gesagt wird, präzisiert Colsman an Elementen der Mahayana-Tradition, aber ebenso an „eigentlichen konzentrativen Erreichungszuständen“ (S. 373) bis hin zu den „vier unkörperlich-formfreien Versenkungsstufen“ der Unendlichkeit von Raum und Bewusstsein, der Nichtsheit und dem „Schwebezustand zwischen (dual unterscheidenden Erkennen und Nicht-Erkennen“ (S. 397).

Im Anhang, beschäftigt sich der Autor zur Verdeutlichung von Bewusstseinsstrukturen im Buddhismus mit der Mahāyāna-Lehre von den "Drei Körpern"– Trikaya als Modi des vollkommenen Buddha. Hier geht es um das wahre Wesen der Buddhanatur als Dharmakaya = Einsein im kosmischen Bewusstsein, um die Verkörperung der Wahrheit im „Reinen Land“, also um die Erleuchtung = Sambhogakaya und um den Körper der Verwandlung – Nirmanankaya als strahlende Transformation höchster Wirklichkeit und fundamentaler Wahrheit der Leere.

Bilanz

Überblickt man das Ganze, so tritt der dialogische Ansatz Colmans in der Deutung östlicher und westlicher Seinsweisen klar hervor. Dies wird im Spannungsbogen von spiritueller Realisierung und westlich-wissenschaftlicher Analyse an Sri Aurobindo und dem allerdings umstrittenen Jean Gebser „durchgespielt“ – im Sinne von „integralem“ Bewusstsein“ bei Gebser und „integralem“ Yoga bei Sri Aurobindo. So scheinen die Interpretationen buddhistischer Bewusstseinszustände durch die Linse dieser beiden Persönlichkeiten  gebrochen zu sein. Gebsers kulturanthropologisches Modell zum Verständnis in der abendländischen Geschichte (vgl. S. 48ff) gewinnt faktisch eine hermeneutische Leitfunktion für die Gegenwart (Vgl. „Integrality and Embodiment in Jean Gebser and Sri Aurobindo“ von Debashish Banerji: http://www.sciy.org/?p=9062). Das hat auch Auslegungskonsequenzen für die angesprochenen asiatischen Traditionen.
Nun macht es die hier vorgelegte Dissertationsfülle allerdings nicht leicht, die Menschenbilder von Jean Gebser und Sri Aurobindo auf eine umfassende Anthropologie hin zu diskutieren. Bei einer verkürzenden Straffung des Textes (besonders der Anmerkungen) ließe sich mit dem Autor leichter bedenken, wie weit das Verständnis ganzheitlicher Ansätze nicht dogmatisch fixiert, sondern im Sinne unberechenbarer Erfahrung
offen bleibt.

Reinhard Kirste
Rz-Colsman, 03.01.14

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