Sonntag, 12. März 2017

TÄUSCHUNGEN - LIST und LEBENSKUNST: Strategien des Überlebens in den Kulturen (aktualisiert)

Strategien  der Täuschung gibt es in allen Kulturen, obwohl sich die religiösen Traditionen offensichtlich gegen persönliches und politisches Lügen und Betrügen mit aller Deutlichkeit wehren. Bei genauerer Hinsicht auf diese durchaus interkulturellen Phänomene der sog. List fällt jedoch auf, dass Differenzierung not tut, denn augenscheinlich werden hier nicht nur Durchsetzungsstrategien, sondern Überlebensmöglichkeiten angesichts von Bedrohung thematisiert. So wird hier eine etwas ungewöhnliche Variante und teilweise ein Gegenpol zum friedlichen Miteinander im "WELTETHOS " sichtbar.

1.  Chinesisches Denken zwischen List und Weisheit 

Darauf hat besonders der Schweizer Jurist und Sinologe HARRO VON SENGER (geb. 1944) aufmerksam gemacht, der mit seinen Büchern über den Sinn der CHINESISCHEN STRATEGEME die darin entghaltende systematisierte Lebenskunst herausarbeitet. Auf dem angegebenen Link finden sich auch die 7 Ziele des Autors, die hier verkürzt zitiert sind:

  1. "Aufklärung über eine bisher im Abendland nur ungenügend bekannte Seite chinesischer Zivilisation und Mentalität ...
  2. Anregung zu interdisziplinärer Listforschung ...
  3. Hilfestellung bei der Überwindung europäischer Listenblindheit in Bezug auf die Listerkennung: Westliche Menschen sollten ihre Wahrnehmung dahingehend schulen, dass sie fähig werden, unterschiedliche Techniken der List zu   durchschauen, sei es als unmittelbares potentielles Listopfer, sei es als Beobachter(innen) ... und wenn möglich, den durch Überlistung angerichteten Schadenseintritt zu verhindern, und zwar durch  das Erlernen und Umsetzen der chinesischen Strategemkunde.
  4. Hilfestellung bei der Überwindung europäischer Listenblindheit in Bezug auf die Listanwendung: Westliche Menschen sollten lernen, ... ethisch und rechtlich verantwortungsvoll ... – und nicht, ... ohne jeden Sinn und Verstand aus dem Bauch heraus – unterschiedliche Techniken der List anzuwenden.
  5. Die Einbettung der chinesischen Listweisheit in einen größeren Gesamtzusammenhang, jenen der „Supraplanung (谋略moulüe)“...
  6. Die „Moulüe“ genannte chinesische Kunst der Planung wird gestützt auf ihre älteste Quelle, nämlich Meister Suns Kriegskanon, erhellt, indem dieses Werk erstmals aus der Sicht von „Moulüe“ und nicht bloss unter dem Blickwinkel der vergleichsweise kurzatmigen westlichen Strategiekunde in eine westliche Sprache übersetzt wird.
  7. Menschen in unseren Breiten soll die „Moulüe“ genannte chinesische Kunst der Planung für deren moralisch und juristisch einwandfreien Gebrauch, sei es im Verkehr mit Chinesen, sei es im eigenen Kulturbereich, nahe gebracht werden."


2.   Arabische Welt: Die Mittel und Methoden,
um die (eigenen) Ziele zu erreichen

 
Zu dem so ausgefeilten chinesischen Denken in Strategemen gibt es auch arabische Varianten. Im 14. Jahrhundert entstand das Werk eines anonymen Autors: Das Buch der Täuschungen. Die politische Strategie der Araber". Dies ist etwa 100 Jahre (!) vor dem berühmten "Il Principe" (1513) des NICCOLÒ MACCHIAVELLI.
Der aus einer christlichen Familie stammende syrisch/französische Übersetzer und Religions-wissenschaftler RENÉ Rizqallah KHAWAM (1917-2004) hat mit der Herausgabe dieses Werks im Jahre 1976 nicht nur historische Einblicke gegeben, sondern einen ausgesprochen aktuellen Beitrag geleistet: Westliche Diplomaten, Industrielle und Militärberater ahnen teilweise bis heute nicht, dass ihre Strategien dem Orient schon lange bekannt sind. Zugleich ist es wichtig zu wissen, wie differenziert, kompliziert und natürlich auch polemisch oft auf allen Seiten mit den dahinter stehenden arabischen Begriffen (besonders: Taqiyya = Lüge, Täuschung, Verheimlichung) umgegangen wird.

Le Livre des Ruses. La stratégie politiques des Arabes. Traduction intégrale sur les manuscrits originaux.
Paris: Phébus / Libretto 1976, 2002, 447 S.  --- ISBN  2-85940-000-1 ---


Man muss sich Folgendes klarmachen: Die arabischen Wörter, die in den europäischen Sprachen schnell mit List und Täuschung wiedergegeben werden, meinen mehr notwendige und für den Menschen sinnvolle und erträgliche Möglichkeiten sowie Ziele zur Organisation von Arbeit und Erhaltung von Lebensenergie. Das wird in diesem Buch an Geschichten deutlich gemacht, die "Weisheit" oft in ungewöhnlicher Art zeigen. Gott gebraucht ja keine Listen, sondern fragt sich, was für seine Schöpfung, seine Menschen gut ist. Und Gott benutzt viele Methoden, um dem Menschen solche Einsicht zu ermöglichen. Dies tun auch die Engel, allerdings auch die Dschinnen, dies zeigen die Propheten, die Kalifen, die Könige und Sultane, die Wesire, Gouvernuere, Adminsitartoren, Richter, Berater (!) und schließlich auch fromme und asketische Menschen mit oft ungewöhnlichen und sicher manchmal grenzwertigen Methoden.

3.  Europa:  Geheimhaltung, List und Lebenskunst

Aber selbst in Europa haben List und Täuschung nicht nur eine negative Seite, sondern spiegeln auch pfiffige Lebenskunst, Witz und geschickte Arbeitsorganisation sowie kreative Überwindung von Lebenssschwierigkeiten wieder.


Marc Schweska (Hg.): Das Kompendium der Geheimhaltung und Täuschung, der Lüge und des Betrugs, des Verrats und der Verstellungskunst. 
Berlin:  Die Andere Bibliothek, Bd. 354, 2014, 450 S.
--- ISBN 9783847703549 ---


Verlagsankündigung
Es gibt fünf Arten von Spionen: der ortsansässige Spion, der innere Spion, der Gegenspion, der tote Spion und der lebendige Spion. Wenn alle diese fünf Arten von Spionen in Aktion treten, weiß niemand um ihre Wege – dies nennt man organisatorisches Genie.« (Sunzi, ca. 500 v. Chr.)
Nur dunkel scheint das Thema der Täuschung. Wer täuscht, der handelt im Geheimen und unmoralisch, der verstört mit Lüge, Verrat und Betrug seine Opfer. Die Erkenntnis, getäuscht worden zu sein, kann das Vertrauen in die Welt aufs Schwerste erschüttern. Heiter wird die Täuschung aber in der Verstellungskunst, in den Erzählungen von der Listigkeit, die kraftvoll und klug die verwickelten Lebensschwierigkeiten mit Täuschungen elegant und mit Witz überwindet.
Dieses Kompendium versammelt klassische und weniger berühmte und bekannte Texte, die Täuschung zumeist in ihrer drastischen Dimension behandeln. Die Texte stammen aus der griechischen und römischen Antike: Homer, Hesiod, Heraklit, Sophokles, Platon und Aristoteles gehören dazu wie Seneca, Plutarch, Tacitus und Lucian und viele andere. Augustinus oder Dante, Boccaccio und Machiavelli fehlen natürlich genauso wenig wie Erasmus von Rotterdam, Montaigne, Baltasar Gracian oder Pascal; dazu die Reflexionen der Moralistik. Kant und Schopenhauer oder Nietzsche sind vertreten, ebenso natürlich die legendären »Trickster«-Figuren wie Odysseus, Sisyphos und Till Eulenspiegel. Nicht vergessen sind wichtige außereuropäische Texte wie Sunzis Schrift über Kriegskunst und das altindische Politik-Lehrbuch Arthasastra. Natürlich findet sich das Thema in der großen Literatur, bei Voltaire, Diderot , Goethe oder Schiller und in der gesamten klassischen und romantischen Literatur; Herman Melville oder Jorge Luis Borges gehören in unsere Sammlung, die Sentenzen und Aphorismen vieler Autoren – bis in die Gegenwart. Das dürfen Sie von einem Kompendium (wenn auch ohne Anspruch auf Vollzähligkeit, das wäre eine Täuschung) erwarten. Und: Nicht zuletzt gibt es Texte, die auch die gebildeten Freunde der Anderen Bibliothek noch überraschen können.

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