Samstag, 11. März 2017

Niklaus und Dorothea von Flüe - ungewöhnliche Heilige

Niklaus Kuster / Nadia Rudolf von Rohr: Fernnahe Liebe.
Niklaus und Dorothea von Flüe.
Ostfildern: Patmos (Schwabenverlag) 2017, 192 S., Abb., Chronologie

--- ISBN 978-3-8436-0876-3 (Print)
--- ISBN 978-3-8436-0908-1 (e-Book)

Viele Publikationen sind bereits zum 600. Geburtstag des Schweizer Nationalheiligen Niklaus von Flüe erschienen.
Vgl. die Medienliste: http://www.bruderklaus.com/download/verschiedenes/000087.pdf

Am 21. März jährt sich der Todestag dieser ungewöhnlichen und faszinierenden Persönlichkeit zum 530. Mal. Das hier anzuzeigende Buch ist jedoch nicht allein Bruder Klaus gewidmet, sondern besonders seiner Ehefrau Dorothea, aus dem Bauerngeschlecht der Wyss. In 8 Themenkreisen von ihrer Jugendzeit bis zu „Impulsen ins heute“ erfahren die Lesenden ihre wirkungsgeschichtliche Bedeutung. 

Die Autoren sind ausgewiesene Kenner der Bruder-Klaus-Geschichte: der Schweizer Kapuziner und Dozent an der Universität Luzern, Niklaus Kuster, und die Leiterin der Franziskanischen Laienbewegung in der deutschsprachigen Schweiz, Nadia Rudolf von Rohr. Ihnen gelingt aus weiblicher und männlicher Perspektive eine „Innensicht“ der Dorothea von Flüe. Sie wird zur spirituellen Wegbegleiterin der durchaus schwierigen Persönlichkeit des Bruder Klaus. Die Autoren nutzen dazu die bildhafte Kraft des Narrativen – als wären wir auf einer Zeitreise ins 16. Jahrhundert.

Als erste Orientierung dient die Chronologie im Buch (S. 157–166). Hier einige Hinweise:
In einer kriegerischen Zeit heiratet Niklaus 1446 Dorothea Wyss (erst mit 29 ! Jahren); zwischen 1447 und 1467 werden 5 Söhne und 3 Töchter geboren. 1466 zieht sich der Regionalpolitiker Niklaus von seinen politischen Ämtern zurück. Nach  20 Ehejahren entscheidet er sich für ein völlig spirituelles Leben – eine Wende ungeheuren Ausmaßes. 1467 will er als Pilger nach Basel gehen, kehrt jedoch wenige Tage später ins Melchtal und dann in die Ranft zurück; 1468 Bau der Ranft-Klause, 1469 Weihe der Ranftkapelle. Seit 1471 kommen Besucher in die Ranft, um Niklaus als Ratgeber zu befragen, denn er ist ein aufmerksam Hörender. 1482 nimmt er eine Vermittlungstätigkeit in einem eidgenössischen Streit wahr. Die Familie Flüe gehört inzwischen zu den einflussreichsten der Region und bestimmt die Landespolitik erheblich mit. Nach dem Tod von Bruder Klaus 1487 entwickelt sich die Verehrung für ihn bis zum Heiligenkult.
Angesichts des dramatischen Lebensweges, den Bruder Klaus geht, kann man die Erschütterungen nur ahnen, die eine auch recht selbstbewusste Frau wie Dorothea Wyss durchmachte. Es lohnt sich von daher, Dorotheas „eigene“ Worte genau zu hören, die vom Fragen, Zweifeln, Protestieren bis zu einem empathischen Verstehen gehen. Die Autoren machen das immer wieder an Briefen deutlich, um die kleinen und großen Bruchstellen des Ehemanns herauszustellen. Besonders berührend sind die Worte im Zusammenhang der Lebenswende des Niklaus im 50. Lebensjahr:
Mein JA-Wort vor dem Altar galt damals dem ehrbaren und auch wohlhabenden Bauern Niklaus von Flüe, angesehen und allseits geschätzt. Später habe ich auch JA gesagt zu Niklaus dem Richter und Schlichter und auch zu Niklaus dem tiefgläubigen Mann. Ich habe mein JA-Wort in unserer Ehe vielfach gelebt, habe mich immer wieder neu zu dir bekannt. Das JA, das du jetzt von mir wolltest, verlangte mir alles ab, und nun war ich es, die rang mit mir, mit dir, mit Gott, der dich so ganz für sich haben wollte. Ich, die schon so viele Kinder zur Welt gebracht hatte und eben wieder schwanger ging, erlebte nun Geburtswehen ganz anderer Art. Diese durchlitten wir wohl beide, und unvergessen ist mir der Tag, als ich dich im Stall fand, auf einer Bank sitzend, den Melkschemel in der Hand, tränenüberströmt. Die Worte fehlten dir, und deine ganze Zerrissenheit, dein ganzer Schmerz schoss dir in die Augen, als du mich erblicktest. Die Erschütterung zu sehen, die über dich kam, und gleichzeitig dein Müssen, dieser Moment unserer beider Erkenntnis, dass wir uns lassen mussten, um neu zueinander zu finden – das weckte meine Liebe zu dir in solch unbändiger Weise, dass ich in dem Moment wusste, es würde nichts geben, was uns trennen könnte, nichts, was von dieser Welt war. Und was von Gott kam, das führte uns näher zueinander, selbst wenn das Trennung hieß. In jenem Moment fand ich zu einem unerwartet neuen JA – das JA zu Bruder Niklaus, der du nun werden konntest“ (S. 57).
Man muss ernsthaft fragen: Was wäre wohl aus Niklaus geworden, wenn nicht seine Ehefrau immer an seiner Seite geblieben wäre? Sie hat ihn mitgetragen, so dass er ein in Gott Verinnerlichter und zugleich ein beeindruckendes Vorbild nach außen werden konnte.
ResümeeDie Autoren betonen die Vergegenwärtigung des damals Geschehenen im Schlusskapitel, indem sie Impulse ins Heute setzen. Sie verweisen darauf, wie sehr religiöse und nicht-religiöse Besucher von diesem Ort Inspiration erhoffen: „Wer über 600 Jahre hinaus derart breite Krise anspricht, hat ein gelungenes Menschsein gelebt, das mit allen Buchstellen in seiner Ganzheit fasziniert. Niklaus erweist sich als Lichtgestalt in der Verbindung von Selbstliebe, Nächstenliebe und Gottesliebe prophetisch: als Mensch, Mittler, Mystiker (= Titel des offiziellen Jubiläumsbuches (S. 152, Kursivsetzung vom Rezensenten).
Das Buch ist eine Nacherzählung der besonderen Art: In [nachempfunden] Worten von Dorothea von Flüe erleben die Lesenden mehr als eine Liebesgeschichte. Es wird berichtet von Zusammengehörigkeit, von Bindung und Freiheit. Besonders die kursiv gesetzten Texte machen deutlich, wie sehr ein Mensch durch „Loslassen“ zu innerer Größe hereinreift. Dorothea Wyss, eine Heilige neben Niklaus und eine Mystikerin der besonderen Art, die (um es mit Meister Eckhart zu sagen) es wagte, in das unendliche Meer der Liebe Gottes einzutauchen.
                                                                                                                                                Reinhard Kirste

 Rz-Kuster-Niklaus-Flüe, 11.03.17

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