Wolfgang Gantke, Vladislav Serikov (Hg.):
Das Heilige als Problem der gegenwärtigen Religionswissenschaft
Frankfurt am Main u.a.: Peter Lang 2015. 143 S.
Reihe: Theion.
Studien zur Religionskultur - Studies in Religious Culture. Bd. XXX
Print: ISBN 978-3-631-65400-2 – E-Book: ISBN 978-3-653-04429-4
Das Heilige als Problem der gegenwärtigen Religionswissenschaft
Frankfurt am Main u.a.: Peter Lang 2015. 143 S.
Reihe: Theion.
Studien zur Religionskultur - Studies in Religious Culture. Bd. XXX
Print: ISBN 978-3-631-65400-2 – E-Book: ISBN 978-3-653-04429-4
Kurzrezension: hier
Ausführliche Beschreibung
Beide Herausgeber arbeiten an der Universität Frankfurt/M.: Wolfgang Gantke als
Religionswissenschaftler und Vladislav
Serikov als (katholischer) Theologe und Koordinator des interdisziplinären
und internationalen Promotionsprogramms (IPP-Religion im Dialog). Sie dokumentieren
in diesem Buch zwei Tagungen zur Debatte um das Heilige, die im Jahr 2013 in
Göttingen und Frankfurt stattfanden. Im Horizont dieses strittigen Begriffs versuchen
die Beitragenden aus Religionswissenschaft, Philosophie, Pädagogik, Kulturwissenschaft
und Theologie Schneisen des Verständnisses nicht nur für unterschiedlich denkende
Religionswissenschaftler, sondern für alle Interessierten zu legen.
Orientierung ist nötig, weil „im Zeitalter nicht nur freundlicher
Begegnungen der Religionen“ Beiträge zu größerer religiöser und
weltanschaulicher Toleranz notwendig sind (S. 8). Um das umfassende Thema
einigermaßen zu strukturieren, wird als Hauptintention formuliert: „Trotz des
Wissens um die bleibenden Differenzen sollte es ein vorrangiges Ziel der
Religionswissenschaft sein, einen aufklärerischen Beitrag zur Überwindung von
religiösen Vorurteilen über das Fremde durch die Betonung des nach Otto
ehrfurchtgebietenden und faszinierenden Heiligen als eines allen Religionen
gemeinsamen, toleranzmöglichen Bezugspunktes zu leisten“ (S. 8). Dies geschieht
in drei Schwerpunkten:
I.
Die Auseinandersetzung mit Rudolf Otto
und seiner Erlebnistheorie des Heiligen
und seiner Erlebnistheorie des Heiligen
II.
Die Möglichkeiten angewandter Religionswissenschaft
im Kontext kulturhistorischer, empirischer
im Kontext kulturhistorischer, empirischer
und religions-phänomenologischer Untersuchungen
III.
Begründungen, Entwürfe und Absicherungen
von Theorien des Heiligen auf phänomenologischer Basis.
von Theorien des Heiligen auf phänomenologischer Basis.
I. Es leuchtet ein, dass Rudolf Otto im Blick auf seine Wirkungsgeschichte und aktuelle Relevanz genauer untersucht werden muss. Dem widmet sich Roderich Barth, Theologe an der Universität Gießen (S. 13–22). Er beginnt mit dem provokanten und irritierenden Zitat Ottos: „Wer das nicht kann, ist gebeten nicht weiter zu lesen“. Im Umfeld der damit zusammenhängenden (oft erregten) Debatte spitzt der Autor seine Ausführungen auf Ottos Lutherdeutung sowie auf „das Heilige“ zu. Dabei erscheint eine religionspsychologisch, religionsgeschichtlich und religionsphilosophisch geprägte Methodologie bei Otto, die sowohl eine Außenperspektive wie eine Binnenreflexion erlaubt. Marianne Schröter von der Universität Halle-Wittenberg befasst sich ausführlich mit dem Numinosen als einem religionstheologischen Zentralbegriff (S. 101–109). Dieses und nicht das Heilige ist das „basale Element des religiösen Erlebens und der religiösen Sphäre insgesamt“ (S. 109). Schließlich untersucht der Mitherausgeber Vladislav Serikov Ottos Bhagavad Gita-Deutung (S. 111–124). Im Gespräch zwischen Arjuna und Krishna zeigt er die Kommunikationsmöglichkeiten mit dem Heiligen. Rudolf Ottos Interpretation in Annäherung an das „Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit“ bei Schleiermacher erlaubt, den numinosen Gefühlen eine eigenen Bedeutung zuzumessen und sie explizit werden zu lassen.
II. Wie Religionswissenschaft von
einer sich objektiv gebenden
Methodologie zu einer „angewandten“ wird, lässt sich an unterschiedlichen
Vorverständnissen explizieren und exemplifizieren. Der Frankfurter Museumspädagoge
Sven Lichtenecker (S. 41–65) macht dies
am Tempel als Palast des Heiligen deutlich: Tempelarchitektur in kosmischer Geometrie – umgesetzt am Ebenmaß
des idealen menschlichen Körpers.
Der Autor führt dies beispielhaft an dem römischen Architekturtheoretiker Vitruv (1. Jh. v. Chr.) und an Leonardo da Vinci vor.
Kann man „heilige Transzendenz“ überhaupt empirisch sichtbar machen? Mit dieser Frage beschäftigt sich der Religionswissenschaftler Martin Mittwede von der Universität Frankfurt/M. (S. 67–74). Immerhin gibt es auch eine Transzendenz, die gleichzeitig in der empirischen Wirklichkeit gegenwärtig (immanent) ist (S. 72). Offensichtlich muss über die Realität des Bewusstseins neu nachgedacht werden. Dabei spielt offenbar der menschliche Körper eine Schlüsselrolle. Das führt die Religionswissenschaftlerin und Fotokünstlerin Natalia Diefenbach, ebenfalls von der Universität Frankfurt/M. weiter aus (S. 23–32): Körperlichkeit im Zusammenhang mit dem Heiligen hat u.a. narrativ-religiöse, religionspsychologische, religionshistorische und visuelle Kontexte. Das bedeutet die Ausrichtung auf eine vieldimensionale Wahrnehmbarkeit. Diese konkretisiert sich in den Geschichten der Götter und der Heiligen. Im Hinduismus, Buddhismus und Christentum hat sich dazu oft ein intensiver Reliquienkult entwickelt, weil man bestimmten Körperteilen der Verehrten besondere Kraft zuschrieb/zuschreibt. Der Gräberkult dürfte dann eine sekundäre Variante der Reliquienverehrung sein. (S. 32).
Der Autor führt dies beispielhaft an dem römischen Architekturtheoretiker Vitruv (1. Jh. v. Chr.) und an Leonardo da Vinci vor.
Kann man „heilige Transzendenz“ überhaupt empirisch sichtbar machen? Mit dieser Frage beschäftigt sich der Religionswissenschaftler Martin Mittwede von der Universität Frankfurt/M. (S. 67–74). Immerhin gibt es auch eine Transzendenz, die gleichzeitig in der empirischen Wirklichkeit gegenwärtig (immanent) ist (S. 72). Offensichtlich muss über die Realität des Bewusstseins neu nachgedacht werden. Dabei spielt offenbar der menschliche Körper eine Schlüsselrolle. Das führt die Religionswissenschaftlerin und Fotokünstlerin Natalia Diefenbach, ebenfalls von der Universität Frankfurt/M. weiter aus (S. 23–32): Körperlichkeit im Zusammenhang mit dem Heiligen hat u.a. narrativ-religiöse, religionspsychologische, religionshistorische und visuelle Kontexte. Das bedeutet die Ausrichtung auf eine vieldimensionale Wahrnehmbarkeit. Diese konkretisiert sich in den Geschichten der Götter und der Heiligen. Im Hinduismus, Buddhismus und Christentum hat sich dazu oft ein intensiver Reliquienkult entwickelt, weil man bestimmten Körperteilen der Verehrten besondere Kraft zuschrieb/zuschreibt. Der Gräberkult dürfte dann eine sekundäre Variante der Reliquienverehrung sein. (S. 32).
III. Um Theorien
des Heiligen auch phänomenologisch abzusichern, geht der Mitherausgeber Wolfgang Gantke auf die Krise des Naturalismus ein (S. 33–40).
Das hat zu erheblichen Schwierigkeiten des Verstehens geführt: „Die nicht immer
offen ausgesprochene naturalistische Unterstellung einer durchgängigen
Berechenbarkeit und damit Beherrschbarkeit der Wirklichkeit hat … nur zu
größerer Unberechenbarkeit und Unübersichtlichkeit geführt“ (S. 37). Darum gilt
es im Sinne einer „pluralistisch orientierten Lebenshermeneutik“ die
„Verabsolutierung endlicher Teilwahrheiten über das Unendliche“ zurückzuweisen
(S. 40).
Der Münsteraner interkulturelle Theologe und Religionswissenschaftler Perry Schmidt-Leukel sieht ähnlich wie
Gantke naturalistische Erklärungsversuche von Religion für defizitär an. Weder
eine Perspektive von außen noch eine Reduktion auf die immanent zugänglichen
Bereiche von religiösen Phänomenen können das „Heilige“ zureichend erfassen.
Darum ist eine religionsphänomenologisch
übergreifende Erklärung von Religion nötig, die Schmidt-Leukel am Weiterführendsten
bei John Hick erkennt. Dieser bezieht sich weniger auf das Heilige als vielmehr
auf die transzendentale Wirklichkeit überhaupt. Es ist der Annäherungsversuch
an die „fünfte Dimension, die Hick mit „The Real“ umschreibt. Wie von daher ein
religiöses Denkmuster im Einzelnen aussieht, lässt sich letztlich nur durch
Nachfrage bei den jeweiligen Menschen genauer eruieren.
Einen anderen Zugangsweg beschreitet der Moskauer Religionswissenschaftler William Schmidt. Er arbeitet an der
„Russian Presdiential Academy of National Economy and Public Administration
(RANEPA). Der Autor favorisiert ein ontologisches
Modell eines Weltbildes, das die Transzendenz
mit einschließt.
Der Mensch „als ein komplex organisiertes System“ ist hier
ebenfalls eingebunden (S. 96). Das Sakrale – in der traditionellen Kultur
tabuisiert – funktioniert in diesem Weltmodell dann als das Numinose (S. 97).Im Sinne einer genaueren Klärung ist es wichtig, hier noch einmal
auf den Beitrag von Marianne Schröter
über
„Das Numinose als Kategorie“ heranzuziehen (s.o.).
„Das Numinose als Kategorie“ heranzuziehen (s.o.).
Weiterführend ist der Beitrag des Religionswissenschaftlers Edmund Weber von der Universität
Frankfurt/M. Auf der Basis einer „pseudo-renaturierten Welt sakralisierter
Kulturelemente“ (S. 127) erinnert er an das
Heilige als „Urkraft des freigestellten Bewusstseins“ (S. 128). Mit Blick
auf die Brennpunkte in der Geschichte der westlichen Kultur zeigt er, wie
Reformation, Renaissance, Aufklärung und die Revolte des Liberalismus im 19.
Jahrhundert „die religiöse Innenwelt des westlichen Menschen grundsätzlich
umgestaltet“ haben (S. 130): Idee und Praxis der Religionsfreiheit sind aber
keineswegs Hinderungsgründe, Existenzgestaltungen zu ermöglichen, die auf eine
Identität bauen und eine Authentizität ermöglichen, in der das „Heilige“ –
trotz gegenteiliger Behauptungen – menschlichen Zugriffen entzogen bleibt.
Schließlich bezieht sich der interkulturelle Philosoph Hamid Reza Yousefi (Universität Koblenz-Landau) auf die vielen Namen des Heiligen (S. 133–141). In seiner Pluralität bildet dieses „stets eine spirituelle Brücke zwischen Religion und mystischer Erkenntnis“ (S. 139). Die Anhänger der Religionen werden aufgrund ihres besonderen „am Heiligen orientierten Weg“ (aaO), dem anderen in seinem religiösen Anderssein dies ebenfalls zubilligen (müssen). Weil die „echte“ Begegnung mit dem Heiligen die „menschliche Seele „veredelt“ und zu verantwortungsvoller Erziehung aufruft (S. 140), wird sich eine dialogische Lernkultur immer auf die Nächstenliebe als Grundlage von religiöser Toleranz berufen. So erinnert die Hoffnung auf die Frieden stiftende Kraft des Heiligen nicht nur an Rudolf Ottos tiefstes Anliegen (S. 141), sondern macht – wie die durchaus empathische Problematisierung dieses Begriffs im gesamten Buch – die Bedeutung des Heiligen für das gegenwärtige Existenz- und Kulturverständnis unmissverständlich deutlich.
Schließlich bezieht sich der interkulturelle Philosoph Hamid Reza Yousefi (Universität Koblenz-Landau) auf die vielen Namen des Heiligen (S. 133–141). In seiner Pluralität bildet dieses „stets eine spirituelle Brücke zwischen Religion und mystischer Erkenntnis“ (S. 139). Die Anhänger der Religionen werden aufgrund ihres besonderen „am Heiligen orientierten Weg“ (aaO), dem anderen in seinem religiösen Anderssein dies ebenfalls zubilligen (müssen). Weil die „echte“ Begegnung mit dem Heiligen die „menschliche Seele „veredelt“ und zu verantwortungsvoller Erziehung aufruft (S. 140), wird sich eine dialogische Lernkultur immer auf die Nächstenliebe als Grundlage von religiöser Toleranz berufen. So erinnert die Hoffnung auf die Frieden stiftende Kraft des Heiligen nicht nur an Rudolf Ottos tiefstes Anliegen (S. 141), sondern macht – wie die durchaus empathische Problematisierung dieses Begriffs im gesamten Buch – die Bedeutung des Heiligen für das gegenwärtige Existenz- und Kulturverständnis unmissverständlich deutlich.
Bilanz: Das Buch
vermittelt wichtige Anstöße, um „das Heilige“ in verschiedenen Kontexten
wahr-zunehmen und sich zu verdeutlichen: Objektivierbare Zugriffe auf Numinoses
insgesamt führen offensichtlich in eine Sackgasse. Rudolf Ottos Position "des Heiligen" spielt
für gegenwärtige Verstehens-Annäherungen darum eine nicht zu unterschätzende
Rolle.
Vgl. auch:
Vgl. auch:
- Hans Joas: Die Macht des Heiligen.- Eine Alternative zur Geschichte der Entzauberung.
Berlin: Suhrkamp 2017, 527 S. - Inhaltsverzeichnis und Leseprobe: hier - Thorsten Dietz / Harald Matern (Hg.): Rudolf Otto. Religion und Subjekt.
Christentum und Kultur, Bd. 12. Zürich: TVZ 2012, 264 S., Register
Rezension: hier
Reinhard Kirste
Rz-Gantke-Das
Heilige, 31.07.15
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