Dorothea Klein (Hg.): „Überall ist
Mittelalter“.
Zur Aktualität einer vergangenen Epoche.
In Verbindung mit Markus Frankl und Franz Fuchs.
Würzburger Ringvorlesungen, Bd. 11.
Würzburg: Königshausen & Neumann 2015, XI, 366 S., Abb., Register
--- ISBN 978-3-8260-5832-5 ---
InterReligiöse Bibliothek: Buch des Monats März 2016
Zur Aktualität einer vergangenen Epoche.
In Verbindung mit Markus Frankl und Franz Fuchs.
Würzburger Ringvorlesungen, Bd. 11.
Würzburg: Königshausen & Neumann 2015, XI, 366 S., Abb., Register
--- ISBN 978-3-8260-5832-5 ---
InterReligiöse Bibliothek: Buch des Monats März 2016
Die Herausgeberin spielt damit zugleich auf die Geschichtsvergessenheit und bleibende Faszination des Mittelalters an: Kunst und Architektur jener Zeit sind heute oft intensiver präsent, als sich manche/r vorzustellen mag. Das gilt nicht nur für mittelalterliche Stadtbilder, Museen und Literatur, sondern auch für Sprachtypen sowie gesellschaftlichen Strukturen und Ordnungen. Der Band bietet insgesamt ein Kaleidoskop mittelalterlicher Welt, dem man noch weitere Aspekte hätte hinzufügen können. Allerdings sind auch nicht alle Vorlesungen in die Druckfassung aufgenommen worden. Details zur Ringvorlesung: hier
Steffen Patzold (Universität Tübingen) betont in
seinem Beitrag „Das eigene Fremde“ die Aktualität
des Mittelalters im 21. Jahrhundert. Anhand einer Reihe von Beispielen aus
dem (Früh-)Mittelalter und der Gegenwart kommt er zum Ergebnis: „Unsere
Gegenwart wendet sich von der Moderne der Zeit um 1900 oder um 1950/60 ab und
gerät dabei auf interessante Weise in Analogien zum Mittelalter“ (S. 17). Diese
Zeit „berührt uns auf erfrischend andere und kräftigere Weise als etwa noch um
die Mitte des 20. Jahrhunderts“ (S. 18).
Auf mittelalterliche Stadtstrukturen
konzentriert sich Eberhard Isenmann
(Universität Köln). Es zeigt sich, dass das Fremde und Vergangene des
Mittelalters dennoch unseren Bewusstseinshorizont beeinflusst: „Das dichte
Zusammensiedeln der Menschen auf begrenztem Raum …rief … ein differenziertes,
ständig revidiertes und erweitertes Ordnungsrecht hervor“ (S. 27f). Dieses galt
zur Wahrung des gesellschaftlichen Friedens und der Freiheit der Bürger
gegenüber Willkür und Gewalt innerhalb der Stadtmauern. Natürlich hatten
mittelalterliche Stadtverfassungen keine demokratische Basis wie heute. Im
Sinne eines kommunalen Selbstverwaltungsrechts (besonders der großen Städte)
ist die damalige Rechts- und Politikberatung für die eigene Urteilsfindung
durchaus modern, vielleicht sogar moderner als die preußischen Reformen zur
Städteordnung im 19. Jh.
Der
Kunstgeschichtlicher Stefan Kummer (Universität
Würzburg) untersucht die Präsenz des
Mittelalters im Altstadtbild von Würzburg, das sich trotz der großen
Kriegsschäden bis heute weitgehend erhalten hat und die „Aura“ vergangener
Zeiten spüren lässt. Konkretisierend stellt er sakrale und profane Bauten im
Blick auf ihre Funktion vor. Im Laufe der Jahrhunderte fallen auch erhebliche
Stadtbildveränderungen ins Auge im Zusammenhang von Mittelalter, Barock und
Gegenwart. Er belegt dies durch eine Reihe aufschlussreicher Fotos, Stiche und
Karten.
„Unter den
Talaren der Muff von 1000 Jahren!“, so skandierten Studenten Ende der 60er
Jahre des vorigen Jahrhunderts. Die Studentenproteste bewirkten eine erhebliche
Veränderung hierarchischer (Ordinarien)-Strukturen der Institution Universität.
Dies ist erstaunlicherweise nicht der Hintergrund, von dem her Stefan Petersen (Universität Würzburg,
Archivschule Marburg) die Universität
als eine moderne Institution beschreibt. Er kann nachweisen, dass die
heutigen universitären Selbstverwaltungsstrukturen der Lehrenden und
Studierenden bereits im Mittelalter etabliert wurden. So sind die Universitäten
weiterhin in Fakultäten gegliedert, denen jeweils ein Dekan vorsteht. In
gemeinsamer Mitbestimmung werden Fragen der Lehre, der Forschung und der Ausbildungsordnungen
sowie Prüfungen geregelt. Bei der Diskussion um strukturelle Veränderungen tritt
eine neue Einrichtung in den Blickpunkt: „die
Pfarrei als erfolgreichste Institution des Mittelalters“. Darauf verweist Enno Bünz (Universität Leipzig). Er
zeigt – anekdotisch verstärkt – wie aus den frühmittelalterlichen Gründungen
einzelner Kirchen („Eigenkirche“) die Gemeindekirche, die Pfarrei, erwächst. Sie
ist die Schnittstelle von Kirche und Welt. Hier begegnen sich Laien,
Bruderschaften und Zünfte. Trotz mancher Veränderungen in der Reformation
bleibt sie weiterhin kontinuierliches und Konfessionen übergreifendes
Strukturelement.
Natürlich
ist auch in der deutschen Sprache
Mittelalterliches präsent. Hans
Ulrich Schmid (Universität Leipzig) sieht geradezu „gemauerte Strukturen“
(S. 140). Das gilt für die bis heute gebliebenen Unterschiede zwischen
Niederdeutsch und Hochdeutsch, die Vokalveränderungen (z.B. hûs in Haus), die Benutzung
von variierender Tempusformen, Lehnwörter aus dem Lateinischen, „Erbwörter“ aus
dem Germanischen (z.B. Gott) und aus der französisch geprägten höfischen
Literatursprache (z.B. Turnier). Kreative Wortneubildungen entwickelte die mittelalterliche Mystik (z.B.
einfließen, einprägen, eingeben) und natürlich Sprichwörter (z.B. „etwas auf dem Kerbholz haben).
Dass die islamische Zivilisation das europäische
Mittelalter mit geprägt hat, ist als Tatsache manchem Konservativen und allen Rechtsextremen ein
Ärgernis. Dieser Einfluss betrifft neben wissenschaftlichen Erkenntnissen in
Philosophie und Naturwissenschaften (Mathematik, Biologie, Astronomie, Medizin)
auch die praktische Umsetzung durch den Aufbau von Hospitälern. Solche Wirkungen
zeigen sich auch in der großen Zahl der ins Lateinische übersetzten arabischen
Autoren (vgl. Liste S. 159), wie Dag
Nikolaus Hasse (Universität Würzburg) vorführt. Er spielt in seinem Beitrag
weiterhin den Einfluss des Arabischen
auf die deutsche Sprache durch, und zwar von Alkohol bis Ziffer. Das
Stichwort „Ziffer“ erlaubt ihm, auf die wichtige Verwendung der „Null“ zu
sprechen zu kommen. Insgesamt sind schriftliche und mündliche Überlieferung
hier gleich wichtig, wie sich überwiegend in der Kaufmannssprache zeigt (z.B.
Tasse, Karaffe, Matratze, im Schach: matt = mat = tot). Und natürlich muss für
die frühe Neuzeit auch noch dem Türkischen
Referenz erweisen werden, z.B. mit den Worten Kaffee, Mokka oder Sofa.
Die epochale
Erfindung des Automobils in der Neuzeit vergleicht Udo Kühne (Universität Kiel) zur Schöpfungskraft der mittelalterlichen
Kathedral-Architektur! Dies wirkt zuerst ungewöhnlich, doch die außerordentliche Kreativität verbindet beide Epochen. Ähnliches gilt für die
Entwicklung von Textmodellen im Sinne einer festgeschriebenen Form – informatio. Der Autor spielt dies am
Alphabet (man denke an die Lexika) und an der Liturgie (als
Gottesdienststruktur) durch. Andere Tendenzen literarischer Formfindung ließen
sich heranziehen. Das tut faktisch die Herausgeberin Dorothea Klein, denn sie sieht den Roman als eine Erfindung des
Mittelalters. Sie bezieht sich dazu auf den höfischen (französischen)
Roman. Man denke z.B. an den bedeutendsten Autor jener Zeit: Chrétien de Troyes
(Perceval u.a.). Zwar haben sich die mittelalterlichen Autoren auch der antiken
griechischen und römischen Epen bedient; dennoch erprobten sie Neues. Dies
geschah „im Sinne eines Transfers des antiken Epos in die romanische
Volkssprache ebenso wie im Sinn einer Adaption des Epos bzw. seiner
Transformation zum Roman“ (S. 200f). Von daher beleuchtet die Autorin kurz die weiter
differenzierten Formen des Erzählens. Diese nehmen seit dem 15./16. Jh. zu –
bis hin zu avantgardistischen Erzählweisen des 20. Jh.s. In diesen Kontext
bringt Dorothea Klein nun Besonderheiten der mittelalterlichen Autoren ein, die
sie ausführlich beschreibt. Der Erzähler und das Erzählen selbst werden
Gegenstand des Erzählens (z.B. Hartmann von Aue, Wolfram von Eschenbach). Gegen
historiografische Verengungen setzten die großen Dichter wie Chrétien, Hartmann
und Wolfram ihre eigenen Romanwelten, ein Selbstbewusstsein, das sich erst seit
dem 17. Jahrhundert aufs Neue entwickelte (S. 220).
Eine
Besonderheit bietet die mittelalterliche
Heraldik. Markus Frankl
(Universität Würzburg) stellt sie unter die provokative Frage: "Alles nur Reklame?" Aktuelle Anlässe
besonders bei den „Royals“ oder in Adelskreisen zeigen die bedeutende Tradition
der Heraldik. Der Autor beleuchtet dies an den politischen und militärischen
Grundregeln der Wappenästhetik seit dem Mittelalter mit entsprechenden
Bildbeispielen. Dazu gehören Wappenschild; Helm mit Wulst, Helmzier und
Helmdecken (S. 227) sowie entsprechende Farben und eine eigene Kunstsprache
(Blason). Wappenrecht und Heroldswesen kommen dann zur Sprache. Und schließlich
geht es um die (seriöse) Werbung mit typischen Firmen- bzw. Markenzeichen: Der
Freistaat Bayern, die Autoindustrie, Getränkehersteller und viele andere bedienen
sich der (mittelalterlichen) Heraldik-Strukturen. Im letzten Teil wirft der
Autor noch einen regionalen Blick auf ausgewählte fränkische Wappen.
Eine andere
ebenso intensive Bezugsgeschichte bis in die Moderne bilden die Reisewege mittelalterlicher Herrscher. Caspar Ehlers (Universität Würzburg, Max-Planck-Institut
für europäische Rechtsgeschichte Frankfurt/M.): resümiert mit entsprechenden
Kartenbelegen, dass diese königlichen Reisewege seit Karl d. Gr. das „Vehikel“
für Pilgerwege, Handelsrouten und (ausbaufähige) Wirtschaftsverbindungen bildeten
(z.B. die Hanse). Geologische Besonderheiten und Hindernisse sowie wichtige
Naturräume (z.B. im Blick auf die Landwirtschaft) verweisen auf Kernzonen und
Randbereiche dieser Straßennetze. All dies prägt bis heute die europäischen
Fernwege.
Im Schlussbeitrag
mit einigen Bildbeispielen von Helmut
Flachenecker (Universität Würzburg) geht es um die technische Fortschrittentwicklung im Mittelalter: Die Brille ermöglicht in des Wortes
originaler Bedeutung eine neue Sicht auf die Welt. Von den Zeitläufen der Natur
geht der Weg zu einer exakten Messung der Zeit mit Hilfe der Glocke und der mechanischen Räderuhr. Der Autor verweist darauf,
dass man in diesem Zusammenhang die Innovationskraft der Klöster nicht
unterschätzen sollte. Dass das Schießpulver
aus China (vielleicht!) über die arabisch-iberische Halbinsel in das übrige
Europa kam, ist zwar ein technischer Fortschritt, besonders seit dem 15.
Jahrhundert. Aber die kriegerischen Beispiele des Autors aus dem weiteren und
näheren Umfeld Würzburgs zeigen natürlich auch die Problematik solchen
Fortschritts. Schon im 13. Jahrhundert wird in technischen Enzyklopädien
dargestellt, wie man mit Wasser, Luft und Feuer Energie gewinnt, um sie sowohl
friedlich wie kriegerisch einzusetzen. Gerade im Blick auf die im späteren
Mittelalter mehr und mehr zum Einsatz kommenden Kanonen, resümiert der Autor:
„Erfindungen haben meist zwei Seiten, eine kulturfördernde und eine vernichtende,
ja tötende“ (S. 327). Insofern begegnen sich hier in bleibender Problematik wieder
Mittelalter und Gegenwart.
Bilanz: Dieses Buch zeigt in seiner
Vielfältigkeit, wie lohnend es ist, ins Mittelalter zurückzublicken. Dabei wird
in allen Beiträgen unübersehbar, wie sehr die Moderne und die Postmoderne mit
jener Epoche verwoben sind, die wahrhaftig kein „dunkles Mittelalter“ war.
Insofern wäre es gut, wenn nicht nur Mediävisten und Kirchenhistoriker die
angesprochenen Themen weiterdenken würden, sondern auch jeder aufmerksame
Betrachter der Gegenwart. Dann wird nämlich unübersehbar deutlich, wie sehr wir
nicht nur aus und mit der Vergangenheit leben, sondern wie die kreative
Aufnahme vergangenen Denkens und schöpferischen Schaffens für gegenwärtiges
Handeln entscheidende Zukunftsimpulse zum Frieden oder Unfrieden freisetzt.
Reinhard Kirste
Anregungen zum Weiterdenken:
- Horst Fuhrmann: Überall ist Mittelalter. Von der Gegenwart einer vergangenen Zeit.
München: C.H. Beck 2010, 328 S. - Michel Clévenot: Geschichte des Christentums. 12 Bände.
Aus dem Französischen von Kuno Füssel. Fribourg (CH) / Luzern: Ed. Exodus 1987-1999--- Rezension des Bandes: Im Herzen des Mittelalters.
= Geschichte des Christentums im XII. und XIII. Jahrhundert. (1992) - Wolfdieter Haas: Welt im Wandel. Das Hochmittelalter. Stuttgart: Thorbecke 2002, 453 S.
- Alain de Libera: Penser au Moyen Âge. Paris: Seuil
1991, 413 pp., index
--- Inhaltsverzeichnis und umfassende Textauszüge (google books) >>>--- Deutsche Ausgabe: Denken im Mittelalter. München: Wilhelm Fink 2003, 310 S. - Francis Oakley: The Medieval Experience.
Toronto et al.: University of Toronto Press 1997, 3rd edition, IX, 228 pp., index - Peter Segl (Hg.): Mittelalter & Moderne. Entdeckung und Rekonstruktion der mittelalterlichen Welt. Kongressakten des 6. Symposium des Mediävistenverbandes in Bayreuth 1995. Sigmaringen: Thorbecke 1997, 396 S., Register
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen