Cover: Salvador Dalí - Simulacrum of the feigned Image Abbild - eines scheinbaren Bildes |
Franziska Metzger / Elke Pahud de Mortanges (Hg.):
Orte und Räume des Religiösen im 19.–21. Jahrhundert.
Paderborn: Schöningh 2016, 252 S., Abb.
--- ISBN 978-3-506-77930-4 ---
Orte und Räume des Religiösen im 19.–21. Jahrhundert.
Paderborn: Schöningh 2016, 252 S., Abb.
--- ISBN 978-3-506-77930-4 ---
Religion zeigt sich auf vielfache Weise, sofern man sich nicht auf einen zu
engen Religionsbegriff einlässt. Das vorliegende Buch beschäftigt sich darum
mit unterschiedlichen Annäherungen an das Religiöse. Dabei spielen die
klassischen Orte wie Kirchen, Moscheen und Tempel allerdings nur eine
Nebenrolle. Vielmehr geht es darum, die „Kathedralen der Moderne“ genauer zu
untersuchen, die von ihrem Selbstverständnis nicht religiös sind
– man denke etwa
an die Kunst und den Fußball. Diese „sind aber faktisch eine Art >Religion
im Erbe< im Sinne eines Transfers. In ihnen und durch sie werden Prozesse
der Aneignung, Konversion und Transformation in Gang gesetzt“ (S. 7). So werden reale, gestaltete Räume vorgestellt: Museen, Gärten,
Fußballstadien, aber auch (veränderte) Kirchenräume. Hinzu kommen „imaginierte
Räume“, die durch “literarische Texte und visuelle Artefakte entstehen“ (S. 7).
Schließlich kommt noch die Darstellung des Körpers in möglichen
religiös-sakralen Zusammenhängen zur Sprache. Einige Schwarz-Weiß-Bilder im
Buch versuchen das Diskutierte auch optisch zu verdeutlichen.
Im 1. Teil geht es um gestaltete
Orte und Räume des Religiösen.
Der Kulturwissenschaftler Stefan
Laube (Humboldt-Universität
Berlin) bezieht sich auf (quasi-)religiöse Objekte und ihre Präsentationsgeschichte
im Museum, in der Kirche und in der freien Natur. Er erläutert dies an drei
Beispielen, dargestellt an der Skulptur „Betender Knabe“ (3. Jh. v. Chr.), Emil
Nolde: „Tanz um das Goldene Kalb“ (1910), Robert Smithson: „Non-Sites“,
besonders „Spiral Jetty“ in einem Salzsee von Utah (1968/1971). Insgesamt
spielt der Zusammenklang von „Kultwert und „Ausstellungswert“ (S. 17) eine
entscheidende Rolle: Umgebung bringt Veränderung, Konversion. Das
zeigen diese „raumgreifende Kunstwerke
und ihre sakralen Potenzen“. Laube endet mit der Wirkung von Lichtinstallationen,
die Energie und Materie zugleich erfahren, Raumgrenzen schwinden und
Transzendenz erahnen lassen.
Ilonka Czerny,
Kunsthistorikerin und Mitarbeiterin am Museum für Moderne Kunst in
Frankfurt/M., zeigt, wie Sakralräume als Orte der Kunst in einen neuen Horizont
einbezogen werden. Dies geschieht aber auch umgekehrt: Orte für Kunst entwickeln die Sphäre von Sakralräumen: Museum als
Funktion von Kirche
(S. 45). Die herangezogenen Beispiele verdeutlichen, welche erstaunlichen
Synergieeffekte auf diese Weise zwischen Kunst und (Sakral-)Raum entstehen
können.
Auf einen anderen Raum, den Garten,
kommt der Religionswissenschaftler Jürgen Mohn (Universität Basel) zu
sprechen. Der Garten als religiöser Wahrnehmungsraum erhält in Europa seine
Bedeutung erst durch die „Inszenierung“, etwa als Paradiesgarten in der
biblischen Heilsgeschichte. Der Garten ist ja nicht per se heilig (S.
61). In ihm befindet sich in nuce die „Totalität der Welt“ (Michel
Foucauld, S. 62).
So versteht der Autor (mit Foucauld) Gärten als Heterotopien, m.a.W.: Gärten reflektieren auf besondere Weise gesellschaftliche Verhältnisse, verneinen diese oder wollen ein Gegenbild inszenieren. Der Gartenbesucher betritt faktisch
eine andere Welt. Die Gartenanlagen von Renaissance und Barock signalisieren
zugleich Denk- und Handlungsmuster der Herrscher, die sie anlegen ließen. Sie
wirken gewissermaßen „zivilreligiös“ auch auf die heutigen Besucher, ebenso wie
die Landschaftsgärten des 18. und 19. Jahrhunderts. Hier entsteht der
„Idealgarten“, der auch ein nationales Sinnsystem inszeniert, eine Art
Nationalmythologie mit den Insignien zwischen der Ehrenpforte des Paradieses Karl
dem Großen und Martin Luther.
David Neuhold (Universität Freiburg, CH) und Leopold Neuhold (Universität
Graz) verweisen auf die religiösen Elemente, die den Fußball „vergöttlichen“ und damit zu einer Ersatzreligion machen. Das
Stadion mit seinem „heiligen Rasen“ wird zum sakralen Ort, den die
Fußball-Pilger zu den entsprechenden „heiligen“ Schauspielen aufsuchen. Kapellen in Fußballstadien sind
für die Kirche ein Hinweis darauf, dass Sport nicht alles ist, aber doch hohe
gesellschaftliche Relevanz besitzt (S. 93f).
Mariano Delgado (Universität
Freiburg, CH) setzt sich als Kirchenhistoriker und Missionswissenschaftler mit
dem ausgeprägten christlichen Missionierungsverständnis
und dessen problematischen Auswirkungen im Zusammenhang der Kolonialisierung auseinander.
Er versteht wohl „Mission“ als eine Art Gestaltungsraum des Religiösen, ohne
dies ausdrücklich zu benennen. Dabei versucht er die Brüche zwischen Religion
und (moderner) Kultur durch die Entwicklung einer Hermeneutik des Dialogs zu überwinden.
Die inklusive Vereinnahmung der anderen Religionen ist jedoch noch immer
beherrschend. Darum fordert Delgado, dass Mission
und interreligiöser Dialog nur unter den Bedingungen der Religionsfreiheit
möglich sein sollten, auch wenn gerade islamische geprägte Staaten diese
faktisch einschränken. Der Raum des Religiösen wird dabei allerdings nicht angesprochen.
Der 2. Teil – Imaginierte Räume des
Religiösen – beleuchtet „Vorstellungen“ im Theater und im Film.
Der Literaturwissenschaftler Dimiter Daphinoff (Universität
Freiburg, CH) zeigt an T.S. Eliots Drama
„Mord im Dom“ und an G.B. Shaws
„Heiliger Johanna“, wie ein Konflikt entsteht, nämlich weil die
Protagonisten Thomas Becket und Jeanne d’Arc ihr Handeln durch göttliche
Weisung begründen. Sie stellen damit die Deutungshoheit der Kirche in Frage. Der sakrale Raum wird nun auf der Theaterbühne nachgestellt – mit der
Intention bei Eliot, den Weg des christlichen Glaubens zu empfehlen. G.B. Shaw dagegen
will zeigen, wie aus einer Häretikerin eine Heilige wird.
Ähnliches führt Joachim Valentin (Direktor des Hauses am Dom, Frankfurt/M.) an Jim Jarmuschs Filmen vor. Diese sind
zum großen Teil von Pop-Musik geprägte sog. Road Movies. Der Autor bezieht sich
einerseits in seiner Analyse auf Emmanuel Levinas im Blick auf die Andersheit
des Anderen. Andererseits folgert er vom Heterotopie-Verständnis Foucaulds her,
„dass hier der Raum des Immanenten bis zur Überdehnung erweitert, ja bisweilen
in das reich des Wunderbaren ausgedehnt wird“ (S. 145), um so
zwischenmenschliche Grenzen zu überschreiten.
Franziska Metzger ist Schweizer
Geschichtsdozentin und Kulturredakteurin (Luzern) sowie Mitherausgeberin
des vorliegenden Bandes. Sie bezieht sich auf Bilder von William Blake und John Martin, also auf das 19. Jahrhundert. Die apokalyptische Thematik dieser Maler nimmt Erzählweisen
(Narrative) auf, die neue Deutungszusammenhänge eröffnen. Vergelichbares gilt
für das Werk von Edmund Burke, der
sein Werk „Sublimes“ nach dem Erdbeben in Lissabon von 1755 verfasste.
Naturkatastrophe und gesellschaftlich-moralischer Zusammenbruch werden ebenfalls
apokalyptisch gesehen. Das bestätigt die sog. Last-Man-Narrative, für die die Autorin schriftstellerische
Beispiele aus dem 19./20. Jahrhundert bringt und einen Ausblick in die
Gegenwart vornimmt, und zwar zu Aldous
Huxley („Island“, 1962) und David
Mitchell („Cloud Atlas“, 2004) vornimmt.
Der Religionswissenschaftler Christopher
Partridge, (Universität Lancaster, UK), befasst sich mit
der quasi religiösen Verehrung und
Mythologisierung verstorbener Berühmtheiten der Popkultur wie Elvis
Presley. Es findet sozusagen eine Transzendierung in die Heiligkeit und Unsterblichkeit
statt. Dazu kommt eine Transfiguration, die es ermöglicht, über die
Fan-Begeisterung hinaus, sich metaphorisch mit dem Verstorbenen zu
identifizieren (S. 173). Im Grunde leben in den hier entstandenen Ritualen die
Pilgerfahrten des Mittelalters wieder auf, auch wenn sich der Unterschied
zwischen Pilger und Tourist keineswegs eindeutig feststellen lässt.
Im 3. Teil geht es um Inszenierte
Körper als Orte des Religiösen, etwas unschärfer formuliert: um den Körperkult
in seinen unterschiedlichen Ausprägungen.
Yvonne Maria Werner (Universität
Lund) untersucht als Religionswissenschaftlerin Typiken von katholischer
Mission des 19./20. Jahrhunderts in Skandinavien. Hier entwickelt sich
sozusagen eine geistige Dimension der (Priester-)Männlichkeit, die ihren
Ausdruck in der Liturgie findet. Sie baut sich als eine Art Gegenkultur zur
protestantisch-nationalen Dominanz auf. Die Rituale der katholischen
Liturgie und des Andachtslebens faszinieren offensichtlich so sehr, dass es zu
einer Reihe von Konversionen kam. Die liturgische Bewegung der 20er Jahre des
vorigen Jahrhunderts ermöglichte zugleich eine Aufwertung der Laien in der
Kirche, die besonders in Männeraktivtäten zum Ausdruck kamen, während die
Frauenspiritualität auf Haus und Familie fokussiert blieb. Das änderte sich
erst behutsam nach dem 2. Vatikanischen Konzil, auch wenn weiterhin nur Männer
Priester und Diakone sein können.
Ganz anders behandelt Irene Ulrich
(Universität Freiburg, CH) religiöse „Nicht-Orte“. Am Beispiel des heiligen Sebastian zeigt sie Veränderung in den
deutenden Sichtweisen: Der nackt dargestellte christliche Märtyrer wird seit
dem 19. Jahrhundert in der Literatur sowie der bildenden und filmischen Kunst
auch homosexuell codiert: Lustvolles Leiden bis hin zur sexuell-erotischen
Fantasievorstellung: Der Homosexuelle
identifiziert sich mit dem schönen Märtyrer als Leidender. Im Blick auf
AIDS seit den 70er Jahren wird jedoch dieses (utopische) Bild des heiligen
Sebastian mit dem Ruin des schönen Körpers konfrontiert, den die Epidemie verursacht.
Zum Schluss geht die Dogmatikerin und
Mitherausgeberin Elke Pahud de Mortanges (Universität Freiburg, CH), den veränderten Christusbildern nach.
Sie bezieht sich auf die Christus-Heterotopien,
wie sie Andy Warhol, und Joseph Beuys sowie Conchita Wurst ins Bild und in Szene gesetzt haben.
Die Werke von Andy Warhol und Joseph Beuys erhielten in der öffentlichen Sicht
oft quasi-religiösen Status. Vom „Bodybuilder“ Jesus bei Warhol geht der Weg über
Beuys‘ Kirchenkritik zu einer „Christus-Substantiation“ als Kunst – besonders
deutlich in der Brechung der Tradition der sog. Herz-Jesu-Heiligenbildchen.
Die zum ersten Mal 2011 auftretende Kunstfigur Conchita Wurst (alias Tom
Neuwirth, geb. 1988) rückt ihre Lieder und Performances – man könnte geradezu transperformances
sagen – in die Nähe Jesu Christi. Sie inszeniert ihren Körper „transgender“: Es
ist der andere Körper: Heterobody als (materialisierte) Heterotopie von
Toleranz und Respekt.
Bilanz
Die Veränderungen und Umdeutungen des Religiösen, die
Sakralisierung von bisher a-religiösen Orten zeigen die faktisch ungebrochene Präsenz
und Wirksamkeit von Religiosität in den unterschiedlichsten Gestaltungsformen.
So scheint der russische Philosoph Nikolai Berdjajew (1874-1948) recht zu
behalten, nämlich dass der „Mensch unheilbar religiös“ sei. Angesichts
unerreichbarer Utopie schafft er sich Heterotopien und inszeniert das Religiöse
immer wieder und oft unerwartet neu.
Auf diese Bewegungen mit aufschlussreichen Beispielen aus Kunst und Literatur, aus
Vergangenheit und Gegenwart aufmerksam gemacht zu haben, ist ein wichtiges Verdienst
dieses Buches. Es regt z.T. provokativ zu weiteren „Ein-Sichten“ in die
Veränderungen der religiösen Gegenwartslage an.
Reinhard Kirste
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