Serge Gruzinski: Quelle heure est-il là-bas ?
Amérique et islam à l'orée des Temps modernes.
Amérique et islam à l'orée des Temps modernes.
--- Wie spät ist es dort? Amerika und der Islam am Beginn der modernen
Zeiten ---
Collection: L'Univers Historique. Paris: Seuil 2008, 227 pp. --- ISBN 978-2-02-098577-2 ---
Interessanterweise
beruht die inhaltliche Motivation dieses Buches auf dem 2001 in Taiwan
entstandenen Film Wie spät ist es denn dort? Der bekannte Regisseur Tsai Ming-liang lässt hier eine
besondere Schicksalsgeschichte dreier Menschen Revue passieren. Der Film ist
zugleich eine Hommage an François Truffaut. Seinen Filmen wohnt ja die Tendenz
inne, Menschen zu thematisieren, die quasi zur Einsamkeit und Sprachunfähigkeit verdammt
sind. In „Wie spät ist es denn dort?“
von Tsai Ming-liang trauert eine Frau in einer verdunkelten Wohnung um ihren
Mann; ihr Sohn Hsiao verkauft in den Straßen von Taipeh Uhren; seine Kundin
Shiang-chyi kommt als Touristin nach Paris und findet dort keinerlei Kontakt. Alle
drei Akteure scheinen in ihrer je eigenen Zeitzone fest eingeschlossen zu sein.
Doch seltsamerweise gibt es dazwischen trotz dieser „Mauern“ und Distanzen
Übereinstimmungen und „Fügungen“. Das geschieht z.B. als Hsiao in Taipeh
Truffauts Film "Sie küssten und sie schlugen ihn" (Les Quatre Cents Coups, 1959) sieht.
Und etwas später begegnet Shiang-chyi auf einem Pariser Friedhof dem
Hauptdarsteller dieses berühmten Films der „Nouvelle Vague“ … (vgl.: https://de.wikipedia.org/wiki/Nouvelle_Vague)
Wenn Serge
Gruzinski nun zwei fast zeitgleiche Dokumente vom Ende des 16. und dem Anfang
des 17. Jahrhunderts nebeneinander stellt, dann signalisiert er damit die
Aktualität von Fremdheit, Abgrenzung einerseits und die Zeitzonen übergreifende
Wissensbegierde andererseits.
Das erste Dokument, eine bebilderte (türkische) Chronik des Neuen Indien (Geschichte Westindiens), wurde 1580 in Istanbul von einem Anonymus redigiert. Es ist
erstaunlich, wie viele Details der Eroberungsgeschichte Amerikas hier
wiedergegeben werden. Der uns weiter nicht bekannte Autor stand wahrscheinlich
in den Diensten des Großwesirs. Der Text ist zuerst als Manuskript überliefert.
Der Druck erfolgte nicht vor 1730, weil im Osmanischen Reich die Druckkunst relativ
spät (18. Jh.) Eingang fand. Der Schreibstil des Anonymus trägt durchaus
imperiale Züge im Sinne seiner Auftraggeber. Das ist auch verständlich, denn den
„Türken“ gelingt es im 16. Jh., Teile des Mittelmeeres und die gesamte Südküste
unter ihre Kontrolle zu bringen und bis an den Rand von Wien vorzudringen
(1529). Aber auch der Eroberungsblick in den Fernen Osten bleibt typisch für
die Sultane, obwohl an der Grenze zu Persien, das Safawidenreich den Türken
erhebliche Probleme machte.
Das zweite Dokument stammt von Heinrich
Martin, einem Drucker aus Hamburg.
Er war ursprünglich lutherischer Konfession, wandte sich dann aber dem
Katholizismus zu. Seine „Horizonterweiterung“ geschieht durch Reisen und
Aufenthalte in Ostpreußen (damals unter polnischer Lehenshoheit), Litauen, Paris
und dann besonders in Sevilla. Schließlich tritt er als Kosmograph in die Dienste
der Katholischen Könige, die die „Reconquista“ konsequent betrieben. Großmachtgelüste
bis hin nach China sieht er quasi als legitim an; und die Bekämpfung des
„Islam“ gilt als überregionale Aufgabe. In Amerika trifft er übrigens auf ein
Islambild, das die spanischen Eroberer und Kolonisatoren prägten und das sich
in Kampfspielen von den Christen gegen die Mauren (interessanterweise nicht
gegen die Türken!) zeigte. Gewissermaßen wurde die Kreuzzugsidee von der
Eroberung Jerusalems neu inszeniert oder geradezu biblisch-apokalyptisch der
türkische Sultan als der „Große Sultan Babylons“ apostrophiert.
Was
angesichts solcher Differenzen jedoch nicht zu übersehen ist: Der Mann aus Istanbul
und der Norddeutsche sind geprägt von der Neugierde an den „anderen“. Sie
blicken recherchierend „nach dort“, um zu dokumentieren, was an den östlichen
oder westlichen politischen Knotenpunkten des Atlantiks bzw. des Mittelmeers geschieht.
Nachdem Heinrich Martin im königlichen Auftrag als Kosmograph nach Mexiko
entsandt worden war, veröffentlichte er dort 1606 ein „Sachregister der Zeiten“ (Répertoire des temps). Zwei
Kapitel beschäftigen sich ausdrücklich mit dem „Türkischen Großreich.“
So
unterschiedlich die beiden Verfasser auch sind – der eine Muslim, der andere
Christ – so nehmen sie außerdem das gemeinsame
Erbe der Mittelmeergeschichte für sich in Anspruch, nämlich die Philosophie
des Aristoteles und die Geografie des Ptolemäus aus Alexandria. Die geistige Metropole Antwerpen, inzwischen
die „Tochter“ des antiken Alexandria. Leider
verliert sie ihren Glanz im Zusammenhang des Aufstandes der protestantischen Niederlande
gegen die spanische Herrschaft (1568-1648). Der Geograf und Kartograf Abraham Ortelius hatte im Jahre 1570
noch sein „Theater der Welt“, herausgebracht, ehe der spanische Statthalter die
Stadt 1585 (wieder) eroberte (vgl. S. 87–97). Die Weltdarstellung des Ortelius
blieb allerdings europazentriert. Das sieht Heinrich Martin bereits umfassender.
Und Ähnliches gilt für den anonymen Schreiber am Hof des Sultans.
Die
geistigen Schübe der Renaissancezeit führen beim Muslim wie beim Christen zur
Herausforderung, die Welt historisch, (religions-)politisch und geografisch umfassend
darzustellen. Nach dem Alexandria der Antike und dem Antwerpen der Renaissance
stehen wiederum zwei Städte im Mittelpunkt. Sie haben durch Welt verändernde
Eroberungen eine neue Struktur gewonnen und repräsentieren damit „neue Welten“:
Istanbul, das Zentrum des zur
Weltmacht aufgestiegenen Osmanischen Reiches mit damals fast 400.000 Einwohnern.
Und Mexiko wird dominierende
Hauptstadt des amerikanischen Kontinents mit bereits über 100.000 Bewohnern.
Obwohl weder
der Anonymus noch Heinrich Martin die Länder des anderen je gesehen hat,
entwickeln sie in ihren Beschreibungen einen globalen Horizont. Sie denken
bereits die „eine Welt“, wie
unterschiedlich auch die jeweiligen geschichtlichen, religiösen und kulturellen
Ausprägungen sowie die politischen Interessen ihrer Auftraggeber gewesen sein
mögen. Man muss schließlich immer mitbedenken: Die geschichtlichen Umbrüche im
Mittelmeerraum seit dem Ende des 15. Jahrhunderts haben zwar ein Klima verschärfter
Spannungen und Feindseligkeiten erzeugt. Absolutheitsansprüche des Glaubens wie
der Macht können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Iberische
Halbinsel 800 Jahre von islamisch-arabischer Kultur geprägt wurde und die
Vertreibung von Juden und Muslimen aus Spanien keineswegs diese Kultur zum
Erlöschen brachte. Vergleichbares gilt für das noch weithin christliche
Vorderasien und den Mittleren Osten.
Bilanz
Was das Buch außer den historischen
Vergleichen so spannend macht, ist die damals in den Vordergrund tretende
Sichtweise der Globalisierung, auch wenn erst die Moderne diesen Begriff geprägt
hat. So nimmt die Frage: "Wie spät ist es dort?" herausfordernde Züge
an. Zwei Welten begegnen sich – die islamische und die christliche. Sie sind
spannungsgeladen getrennt und doch auf eigenartige Weise miteinander in
gleichzeitiger Kommunikation verbunden. Es eröffnen sich geradezu planetarische
Horizonte (besonders eindrücklich in Kap. 6: „Die Geschichte der Welt ist in
den Himmeln eingeschrieben“). Man könnte sogar an den von C.G. Jung
eingebrachten Begriff der „Synchronizität“ denken und fragen, ob „unterhalb der
Ebene des kollektiven Bewussten … etwas vorhanden ist, das über den Geist
hinausgeht, ein fundamentales dynamisches Ordnungsprinzip.“
(F. David
Peat: Synchronizität. Die verborgene Ordnung.
Aus dem Amerikanischen. Von Gerhard Geerdts.
Aus dem Amerikanischen. Von Gerhard Geerdts.
Bern u.a.: Scherz für O.W. Barth 1989,
S. 124)
Die Rezension von Grunzinskis Buch in Le Monde vom 30.10.2008 hat dessen Intention präzise benannt: Europa, Amerika und der
Islam bewegen sind in engen Korrelationen. Es ist „das >Dreieck der Renaissance<, aus dem ein einziges Bild der Welt
hervortritt. In der Sichtweise der „Welt-Ökonomie“ des [Historikers] Fernand
Braudel (https://de.wikipedia.org/wiki/Fernand_Braudel) inkarniert sich ein
„Weltbewusstsein“, ein Gefühl, demselben Planeten anzugehören und an denselben
Gesichtskreisen teilzuhaben. Die These [des Autors] ist ehrgeizig, und erinnert
an die grundlegenden Herausforderungen der globalen Historie. Im Vergleich und
in der Konfrontation geht die Suche zu den Wurzeln einer Geschichte, die sich
nicht auf das Verhältnis des Westens mit dem Rest der Welt beschränkt: Es ist
eine global history, die heute in den
angelsächsischen Universitäten eine großartige Entwicklung findet, während sie
in Frankreich nur mühsam zum Vorschein kommt.“ (eigene Übersetzung)
So gelingt
es Gruzinski – beeindruckend detailreich und doch präzise durchstrukturiert – das
christlich-islamische Umbruchsfeld des 16./17. Jahrhunderts vorzustellen. Hier
tritt die Unabweisbarkeit globalen Denkens und Handelns ins Zentrum – gewiss
(noch) mit seltsamen Verzerrungen. Dennoch lässt sich „von dort“ viel für
heutige Sichtweisen lernen, um die Chancen umfassender nicht-imperialer
Grenzüberschreitungen besser zu nutzen. Übersetzungen ins Englische (Polity Press), ins
Spanische (Fondo de Cultura Mexiko) und ins Portugiesische (Brasilien) sind
bereits erfolgt. Eine chinesische Übersetzung ist in Arbeit ! Da wäre
endlich auch eine deutsche Übersetzung angesagt !
Reinhard Kirste
Rz-Gruzinski-Neue Welt, 14.05.16
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