Donnerstag, 8. Juni 2017

Die verspätete Reformation Westfalens (aktualisiert)

Werner Freitag: Die Reformation in Westfalen. 
Regionale Vielfalt, Bekenntniskonflikt und Koexistenz. Münster: Aschendorff  2016, 383 S. 
--- ISBN 978-3-402-13167-1 ---  

       Pressemitteilung des Exzellenzclusters der Universität Münster und des                              Verlags Aschendorff (14. Oktober 2016)

Der Historiker Werner Freitag legt eine erste Gesamtschau zur Reformation in Westfalen vor.

  • Religiöse Umwälzungen begannen weit später als in anderen Regionen und hinterließen Westfalen als kleinteiligen Flickenteppich --- Vielerorts Reformen, obwohl berühmte Reformatoren wie Luther nie selbst kamen --- Luther-Schriften ins Westfälische übersetzt.
  • Zahlreiche Städte und Regionen der Reformationsgeschichte: Münster, Osnabrück und Dortmund, Paderborn, Lippstadt, Minden, Herford und Soest sowie Emsland, Bentheim, Ravensberg, Tecklenburg und Sauerland.

Obwohl berühmte Reformatoren wie Luther, Calvin und Melanchthon nie nach Westfalen gekommen sind, hat es in der Region nach einer neuen Studie intensive Reformaktivitäten gegeben. „Wie in vielen Gebieten des Alten Reiches ging es auch in Westfalen vor rund 500 Jahren den einen darum, religiöse Umwälzungen durchzusetzen, den anderen, sie zu verhindern. Das Ergebnis war eine ungewöhnlich hohe Zahl an konfessionellen Ausprägungen und Mischformen“, sagt Landeshistoriker Prof. Dr. Werner Freitag vom Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der Uni Münster, der jüngst die erste historische Gesamtschau zur Reformation in Westfalen seit 25 Jahren vorgelegt hat. „Wenn 2017 bundesweit der Reformation vor 500 Jahren gedacht wird, können wir das auch hier tun. Genau genommen, dauerte es in Westfalen aber länger, bis Luthers Schriften wirkten. Sie mussten erst in die westfälische Variante des Niederdeutschen übersetzt werden, um von den Westfalen verstanden zu werden.“ Die religiösen Umwälzungen, die folgten, hinterließen die Region als einen so kleinteiligen politischen und religiösen Flickenteppich, wie ihn wenige andere Regionen zeigten.

Der detailreiche Überblicksband „Die Reformation in Westfalen. Regionale Vielfalt, Bekenntniskonflikt und Koexistenz“ ist im Aschendorff Verlag in Münster erschienen. Darin beschreibt der Autor, warum das Denken der mitteldeutschen Reformatoren in Westfalen Verbreitung finden konnte, obwohl auch etwa Bucer oder Zwingli nie persönlich kamen: Ordensbrüder aus Osnabrück, Herford und Lippstadt studierten an der Wittenberger Universität und trafen dort auf die bekannten Reformatoren. Auch der münsterische Reformator und spätere Theologe der Täufer, Bernhard Rothmann, kam dorthin, um sich beraten zu lassen. Es folgten Briefwechsel zwischen Westfalen und Wittenberg, in denen sich die Geistlichen im Verlauf der reformatorischen Ereignisse immer wieder Rat holten. Die Übersetzung von Luthers Texten übernahmen etwa der Lippstädter Augustiner Johann Westermann und Johannes Bugenhagen.

„Verspätete Reformation“

„Westfalen hat eine verspätete Reformation erlebt. Sie begann erst 1525 und war in den Städten 1533 und in den Territorien wie den Grafschaften Lippe, Tecklenburg und Bentheim erst 1538, 1543 und 1544 abgeschlossen“, so Werner Freitag. In Sachsen, Hessen und andernorts sei sie dagegen schon vor 1530 beendet gewesen. „In Münster und im damals westfälischen Osnabrück kam es ab 1525 zu großen städtischen Unruhen, die mit dem Reformationsgeschehen in Mittel-, Nord- und Oberdeutschland in Zusammenhang standen. Von 1530 bis 1533 führten Minden, Herford, Lippstadt, Soest, Lemgo und schließlich Münster die Reformation im lutherischen Sinne ein: ein neues Bekenntnis, einen neuen Gottesdienst und eine neue Kirchenorganisation.“ 

Die Publikation von Werner Freitag rekonstruiert diese Vorgänge in vielen regionalen Einzeldarstellungen. Details zu jedem Ort sind mittels eines Registers zu finden, für Historiker ebenso wie für Interessierte aus der Region, ergänzt durch Glossar und Kartenmaterial. Historische Quellen zitiert das Buch im westfälischen Plattdeutsch, sie werden aber auch ins heutige Hochdeutsch übersetzt.

Da die Reformation in Westfalen vielfältig und unübersichtlich verlief und sich sogar in eng benachbarten Orten, Territorien und Pfarreien voneinander unterschied, hat der Autor eine Typologie entwickelt. „Es gab städtische, landesherrliche, Adels-, Pfarrer- und Gemeindereformationen. Insgesamt setzten sich die Neuerungen vor allem in Städten durch.“ In kleineren Orten und auf dem Land sei es eher zu Bekenntniskonflikten und Mischformen gekommen, etwa in der Grafschaft Mark und in Ravensberg. „Stand vor Ort nur eine Kirche zur Verfügung und wünschte nur ein Teil der Gemeinde Neues, galt es Kompromisse zu finden“, sagt Prof. Freitag. So wurden etwa in den Kleinstädten und Dörfern des Münsterlandes der reformatorische Laienkelch und neue Lieder im Gottesdienst eingeführt, dessen Ablauf aber blieb katholisch. „Im Mindener Land übernahm man ab etwa 1560/70 das neue Bekenntnis samt Gottesdienst, behielt aber die überkommene Kirchenorganisation bei.“ In manchen Territorien entstand eine evangelische Bewegung, doch die kirchlichen Verhältnisse blieben unverändert.

Bibel und Gebet in westfälischer Sprache

Dass sich die Überzeugungen Luthers in Westfalen an vielen Orten ganz oder teilweise durchsetzen konnten, führt Historiker Freitag auf verschiedene Faktoren zurück: „In der ‚Deutschen Messe‘ Luthers wurden Laien weit mehr beteiligt als zuvor, etwa durch das Singen deutschsprachiger Lieder. Auch wurde in der Volkssprache gepredigt und gebetet, nicht in Latein. Durch die Übersetzung der Bibel fanden die Gläubigen mehr Zugang zu ihr. All das dürften die Laien als Aufwertung empfunden haben.“ Wie überall, wurden auch in Westfalen die Lehren der Reformatoren mit Zitaten aus der Bibel begründet. „Dieser Bezug auf das Wort Gottes wurde in der Bevölkerung breit rezipiert“, unterstreicht Werner Freitag. „Auch passte Luthers Gemeindetheologie gut zum städtischen Selbstverständnis.“ Die Reformation in Westfalen sei daher weniger von Einzelpersönlichkeiten getragen gewesen, als von einer Vielzahl an Menschen, die Veränderungen in der religiösen Praxis und Seelsorge wünschten.
Der Historiker beleuchtet in der Studie auch das berühmte Täuferreich ab den 1530er Jahren in Münster, also die sich radikalisierende Herrschaft zunächst reformatorisch ausgerichteter Teile der Stadt um den Prediger Bernd Rothmann. Er beschreibt zudem die massiven Auseinandersetzungen zwischen Lutheranern und den Anhängern Calvins ab etwa 1560. Sie führten vor allem in den Städten der Grafschaft Mark dazu, dass die Langzeitreformation dort schließlich in ein reformiertes Kirchenwesen mündete, nicht in ein lutherisches. „Die zahlreichen Mischformen in den Gebieten von Ahlen über Cloppenburg bis Wiedenbrück zeigen: Die westfälische Reformationsgeschichte war durch Koexistenz gekennzeichnet.“ Neben diesen reformatorischen Ereignissen beschreibt die Studie auch, wie sich im Alltag der Pfarreien um 1550 das neue Bekenntnis, die „Deutsche Messe“ als neue Liturgie sowie eine von der Papst- und Bischofskirche stark unterschiedene Kirchenorganisation etablierte.
Westfalen umfasste zur damaligen Zeit mehr Gebiete als heute: das Gebiet um Essen und die auch heute zu Westfalen zählende Grafschaft Mark im Westen, die Grafschaften Lippe und Ravensberg sowie das Paderborner Land im Osten, das kurkölnische Sauerland (Herzogtum Westfalen), aber auch die Grafschaft Waldeck im Südwesten über das Fürstbistum Osnabrück bis zum Niederstift des Fürstbistums Münster im heutigen Niedersachsen. In diesen und den anderen genannten Regionen untersucht der Autor kleinere und größere Territorien, Autonomie-, Bischofs- und Landstädte, auch die einzige Reichsstadt Dortmund sowie Adelsherrschaften, die sich über wenige Dörfer erstreckten, und Klöster und Stifte mit inkorporierten Pfarrkirchen. Dabei wird deutlich, dass neben den anfänglichen Sprachbarrieren auch wirtschaftliche und kulturelle Faktoren zum verspäteten Beginn der Reformation beitrugen. „Zur Informationsbeschaffung schaute man aus westfälischen Städten wie Minden, Herford und Soest zunächst auf die nördlichen Hansestädte, um abzuwarten, was dort passierte.“

Prof. Dr. Werner Freitag ist Professor für westfälische Landesgeschichte an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und Hauptantragsteller des Exzellenzclusters. Er ist wissenschaftlicher Vorstand des Instituts für vergleichende Städtegeschichte Münster und zweiter Vorsitzender der Historischen Kommission für Westfalen. (ill/vvm)


Aspekte der Reformationsgeschichte
in der ehemaligen Grafschaft Mark

Reinhard Kirste / Rolf Dieter Kohl / Christa Schmitz (Red.)
Reformation zwischen Lenne, Volme und Ruhr. Altena 1988, 238 S., Abb., Glossar





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