Die deutsche Ausgabe von LETTRE ist gewissermaßen der deutsche Ableger der 1984 in Paris gegründeten Kulturzeitschrift "Lettre Internationale", die vierteljährlich erscheint. Seit 1988 existiert die deutsche Ausgabe von LETTRE mit überwiegend neuen Beiträgen und sorgsam ausgewählten Fotos. Einige Artiklel werden aus anderen Sprachen und Kulturzeitschriften übersetzt. Die Herausgeber bezeichnen ihre Publikation als "Europas Kulturzeitung".
In der thematischen Zusammenstellung erinnert LETTRE in manchem an die stärker laizistisch französische Kulturzeitschrift "Revue des Deux Mondes", die zweimonatlich erscheint.
In der thematischen Zusammenstellung erinnert LETTRE in manchem an die stärker laizistisch französische Kulturzeitschrift "Revue des Deux Mondes", die zweimonatlich erscheint.
In den bisher herausgegebenen 114 Nummern von LETTRE (in dem noch immer gewöhnungsbedürftigen Format) kommen neben philosophisch, politisch und künstlerisch orientierten Essays immer wieder Religionen übergreifende Themen zur Sprache.
Religiosität zeigt sich bei der Lektüre in vielen Facetten. Insgesamt geht es um intellektuellen Austausch. Damit ist keine feste Linie vorgegeben, sondern Auseinandersetzung im positiven Sinne wirkt als durchgehende Intention.
Religiosität zeigt sich bei der Lektüre in vielen Facetten. Insgesamt geht es um intellektuellen Austausch. Damit ist keine feste Linie vorgegeben, sondern Auseinandersetzung im positiven Sinne wirkt als durchgehende Intention.
Als Beispiele mögen einige wenige Beiträge aus zwei Ausgaben des Jahres 2016 dienen:
Nummer 112 (Frühjahr 2016), 146 S.
- Priya Basil (Schriftstellerin, geb. 1977 in London): Woher kommst Du?
Sie vertieft den Gedanken geistiger und kultureller Herkunft und gegenwärtiger Identität. - Georg Brunold (Schweizer Journalist,
geb. 1953):
Die islamische Spaltung.
Sunna-Schia-Fronten und der arabisch-iranische Machtkampf.
Die Erkenntnisse als Auslandskorrespondent der NZZ prägen offensichtlich seinen Beitrag, in dem er aufschlussreich auf die vielen Spannungsebenen der sunnitisch-schiitischen (Theologie-)Geschichte bis in die politisch-gesellschaftlichen Umsetzungen eingeht. Allerdings wäre wichtig gewesen zu erwähnen, dass die Ibaditen im Oman für sich die Bezeichnung "Charidschiten" ( = Die Ausgetretenen) ablehnen. Sie sehen sich weder der Sunna noch der Schia zugehörig. - Marco d'Eramo (italienischer Physiker und Soziologe, geb 1947): Erdogans Regime. das türkische Erfolgsmodell und die Versuchung des Faschismus.
Er beschreibt die politischen Veränderungen hin zu einer religiös-konservativ-rechtsextremen Gesellschaftsstruktur im Kontext mittelöstlicher Konflikte.
- Gespräch - Frank M. Raddatz (Publizist und Dramaturg, geb. 1956) und Johan Simons (Tänzer, Schauspieler, Regisseur, bis 2017 Leiter der Ruhrtriennale, geb. 1946 in den Niederlanden):
Das Sisyphosspiel. Die Durchblutung des Textes und das Offene der Inszenierung.
Hier erlebt der Schauspieler gewissermaßen Sisyphos zwischen Probe und Aufführung an sich selbst. Welche Tiefendimension erreicht wird, formuliert Simons u.a. so: "Ich kann mein Leben lang über eine einzige Zeile von Aischylos nachdenken, weil sie mich berührt ... Er spricht etwas in mir an, ohne dass ich ihn gleich verstehe." - Gespräch - Jean-Luc Nancy (bedeutender französischer Philosoph, geb. 1940) und Sergio Benvenuto (italienischer Psychoanalytiker und Philosoph, geb. 1948):
Das Heilige, die Religion. verlangen nach Unendlichkeit - Monotheismen, Riten, Weisheitslehren.
Blaise Pascal scheint diesen Diskurs mitzusteuern, vielleicht auch der nicht erwähnte Rudolf Otto ("Das Heilige"). Zugleich kommen die unterschiedlichen "Zweige" der Monotheismen mit ihren Extremen zur Sprache: Judentum zwischen Ritual und Philosophie, Christentum zwischen Kirchlichkeit und der eigenen Dekonstruktion, Islam zwischen Absolutheit des Sinns für das Göttliche und Spannung zwischen Philosophie und (rituellem und sozialem) Recht. Das bedeutet praktisch einen signifikanten Unterschied zwischen Praktiken und Glaubensüberzeugungen (S. 106). - Henning Christoph (Ethnologe, Fotograf und Journalist, geb. 1944) und Thomas Knöfel (Arzt, Verleger, Autor, geb. 1858):
Voodoo in Benin. Die Afrikanische Pistole, der Juju-Man und die untoten Toten.
Das Gespräch vermittelt lebendige Einblicke in synkretistische Kulte zwischen Magie, Umgang mit Verstorbenen, den Ahnen Geisterscheinungen, Schadensabwehr und Opferproblematik nicht nur in Benin und macht neugierig auf das Soul of Africa Museum in Essen. - Nedim Gürsel (türkischer Essayist und Reiseschriftsteller, lehrt u.a. an der Sorbonne in Paris, geb. 1951): Das Bild des Propheten.
Der Bote Allahs im Spiegel christlich-mittelalterlichen Denkens.
Mit einem Schwerpunkt auf die Islam-Einstellung des Johannes von Damaskus (um 650 - 754) beleuchtet der Autor, wie sich das Bild Mohammeds im Abendland zusehends verschlechtert bis hin zum "falschen Propheten" und "Sohn der Finsternis". Das mittelalterlich-christliche Bild von Muslimen schwankt dabei zwischen Ketzerei und Heidentum. Diese Kampfapologetik hat sich trotz mancher Mäßigungen bis in die Gegenwart erhalten. Dieses falsche Bild des Propheten wurde erst nach und nach im 18. Jahrhundert korrigiert.
Schon dieser relativ kleine Ausschnitt aus der Vielfalt der LETTRE-Beiträge zeigt, wie lohnend es ist, sich hier weiter einzulassen. Damit geht die Zeitschrift auch gegen heutige Modetrends: Eine schnelle Lektüre allerdings dürfte nämlich bei diesen Essays einigermaßen unmöglich sein. Vertiefte eigenständige Erkenntnis ist aber ein nicht zu unterschätzendes Ergebnis.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen