Donnerstag, 15. Dezember 2016

Der Wahabismus - eine religiös-politisch-fundamentalistische Sekten-Ideologie als "der" Islam

Hamadi Redissi: Une histoire du wahhabisme. Comment l'islam sectaire est devenu l'islam. Postface inédite.
Points 808. Paris: Seuil 2016, 436 S., 1 Karte
--- ISBN 978-2-7578-6208-7 ---


Dieses als Hardcover schon 2007 erschienene Buch hat seitdem nichts von seiner Aktualität verloren. Das zeigt ein kürzlich in der Süddeutschen Zeitung erschienener Artikel, der im Grunde an Dramatik nichts zu wünschen übrig lässt:
Moritz Baumstieger: Saudi-Arabien und das Gift der reinen Lehre (SZ online, 12.12.2016).

Es ist deshalb besonders verdienstvoll, dass der Seuil-Verlag in Paris 2016 eine Taschenbuchausgabe zum arabischen Wahabismus herausgebracht hat - mit einem bisher nicht veröffentlichten Nachwort.
Dort schreibt Hamadi Redissi (geb. 1952), Professor für politische Wissenschaften an der Universität Tunis: 


Hinter einer modernen Fassade ist Arabien geradezu durch den Tribalismus verdorben. Das wird noch durch starke regionale Identitäten verstärkt ... Arabien hat eine lange Geschichte, Saudi-Arabien hat sie nicht. Es ist eine Büchse der Pandora. Es reicht,  den Deckel ein wenig zu lüften (S. 415f).


In seiner sorgfältigen Recherche erklärt Hamadi Redissi zuerst, was er unter dem Wahabismus als einer orthodoxen Sekte versteht, deren Gefährlichkeit sich noch durch die Verbindung des Weißen Hauses  mit dem Königshaus Saud hochgeschaukelt hat. Unter dem Dach ausländischer Überlagerungen hat sich eine muslimische Richtung durchgesetzt, die die Fakten, besonders der frühen islamischen Geschichte, nicht genügend ernst nimmt. Sie praktiziert ihre Vorstellungen eines "reinen Islam" von damals (der Salafiyya). Es ist ein dogmatisierter Radikalismus, in dem sich Islamismus und Wahabismus verbinden - gefährliche Liäsonen. Kurzum:  Es sind die Thesen von apokalyptischer Tragweite im Sinne eines Millenarismus. Dieser gebärdet sich menschenfeindlich, ungezähmt, kriegerisch, antichristlich, antisemitisch und frauenfeindlich (S. 36).

In fünf Abschnitten zeichnet der Autor die Geschichte des Wahabismus nach. Sie beginnt mit der Mohammed-Erscheinung von Scheich Ibn Abd al-Wahab im Jahre 1745.  Ihm gelang es schließlich, die verschiedenen Beduinen-Stämme der arabischen Halbinsel zu einigen. Die Entwicklung setzt sich dann mit Prinzen, Fanatikern und Räubern rasant fort. Die Kolonialmächte - das Osmanische Reich und später die Engländer - verstärkten diese islamistisch-antikolonialen Tendenzen zusätzlich. "Die Brüder" (Ikhwan) trieben das Ganze nach 1912 auf die Spitze. So bildete sich auf der arabischen Halbinsel eine theologisch-politische Allianz von Verführern und Irregeleiteten. Im Grunde etablierte sich ein mittelalterlicher Islam, weit entfernt von der Pluralität mittelalterlich-islamischer Theologie auf der Iberischen Halbinsel.  

Allerdings gibt es auch historische Bezugspunkte, wie die Etablierung einer neuen Orthodoxie durch Ibn Taymiyya (1263-1328). Sie findet ihre Fortsetzung in einer intellektuellen, rebellischen modernen Häresie, für die u.a. die Namen Muhammad Abduh (1849-1905) und Dschamal ad-Din al-Afghani (1838-1897) stehen. Der Weg geht dann weiter über den "Fährmann" Rashid Rida (1865-1935), Propagandist eines islamischen Staats. 

Die Verfestigung auch wichtiger Reformansätze führt zu dem problematischen Gemisch von Salafismus, Wahabismus und Nationalismus, zur Brandmarkung von Ungläubigen aller Art und damit auch zur andauernden Spannung von Sunna und Schia unter wahabitischen Vorzeichen. Auch die Angriffe auf den tunesischen Staatsgründer Habib Bourguiba gehören hierher. Mit messianischem Pathos wird schon die Endzeit beschworen, wo die Muslime zum endgültigen Sieg geführt werden. Freund- und Feindbilder sind damit klar strukturiert! Die Geschichte seit dem 11.09.2001 dient dann gewissermaßen als Beleg. 

Die Verbindung  von Terrorismus und Misere des Islam lässt natürlich fragen, ob die dogmatische Matrix wirklich auf Dauer alles zusammenhalten kann. Wie die Geschichte zeigt, ist der Islam auf Pluralität angelegt. Doch politisch-systematische Einflussnahmen ermöglichen der sektiererischen Ideologie des Wahabismus verstärkt in zahlreiche Länder auch "liberaler" islamischer Prägung hinein zu wirken. Eine beunruhigende Perspektive!

Diese beeindruckende Beschreibung müsste im Grunde jeder Politiker lesen. Eine deutsche Übersetzung würde sich für alle lohnen, die die Hintergründe des politischen Islam, besonders in seiner wahabitischen Spielart besser kennen lernen wollen !

Zum Ganzen vgl.



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