Dienstag, 18. August 2020

Niklaus von Flüe - ein "anstößiger" Heiliger - Kommentare und Literaturauswahl (aktualisiert)

Coverbild: Brunnenfiguren
von Hugo Imfeld (1916-1993)
in Stalden (Obwalden)
Roland Gröbli,
Thomas Wallimann-Sasaki

Heidi Kronenberg, Markus Ries (Hg.):
Mystiker, Mittler, Mensch.
600 Jahre Niklaus von Flüe.

Vorwort von Charles Morerod,
Gottfried Wilhelm Locher.



Zürich: TVZ 2016,  388 S., Abb.
--- ISBN 978-3-290-20138-8 ---

Buch des Monats Januar 2017
der InterReligiösen Bibliothek (IRB)

Der 600. Geburtstag des berühmten Schweizer Einsiedlers Niklaus von Flüe prägt das Jahr 2017 mit vielen Veröffentlichungen und Veranstaltungen. Mehrere Titel sind schon seit einiger Zeit auf dem Markt (s.u.). Der TVZ-Verlag hat eine offizielle Gedenkpublikation herausgebracht, die der Trägerverein 600 Jahre Niklaus von Flüe und die Bruder-Klausen-Stiftung (Sachseln am Sarner See, Zentralschweiz) in die Wege leitete.
Diesen Band haben zusammengestellt: 

Dr. phil. Roland Gröbli , Präsident des wissenschaftlichen Beirats «600 Jahre Niklaus von Flüe» , Heidi Kronenberg,  Journalistin und Redakteurin im Bereich Gesellschaft/Religion, Prof. Dr. Markus Ries, Prorektor, Professor der Theologischen Fakultät der Universität Luzern, Dr. theol. Thomas Wallimann-Sasaki, Leiter des Sozialinstituts KAB Schweiz, unabhängiger Theologe.
Die 60 Autorinnen und Autoren kommen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen: Christliche und islamische Theologen verschiedener Richtungen, Historiker, Politiker, Sozialpädagogen, Lehrer, Sachbuchautoren, Journalisten, Künstler sowie Frauen und Männer mit eigenständiger spiritueller Praxis.

Diese Vielfalt ist bereits ein Zeichen dafür, dass Niklaus von Flüe (1417–1487) offensichtlich nichts von seiner spirituellen Faszination verloren hat. Es ist fast eine Art ökumenischer Heiligenkult, der sich hier entwickelt hat.

Niklaus als frommer Asket blieb auch nach seiner regional-politischen Karriere  ein Botschafter des Friedens. Vgl. Flüeli-Ranft: http://www.flueliranft.ch/#bruder-klaus

Nicht zu unterschätzen ist in diesem Zusammenhang seine Frau Dorothee Wyss: http://www.bruderklaus.com/?id=553. Sie trug den Entschluss ihres Mannes im Jahre 1467 in erstaunlicher Weise mit – auch gegenüber Anfeindungen: Sie sagte damit JA - am Anfang zu seinen Ämtern, dann zu seinem Beten und Fasten. Es war eine JA zu seinem durch Visionen geprägtes, oft seltsames Verhalten - JA zu seinem Ringen mit Gott und damit auch JA zu seinem Leben als Eremit.
Im Stile des berühmten Radbildes von Bruder Klaus teilt sich das Buch in 6 „Speichen“ (= Abschnitte), die das Wesen und die Wirkungsgeschichte dieses intensiven Gottsuchers beschreiben. Die Texte konzentrieren sich auf sein oft extremes (mystisches) Erleben zwischen Abgeschiedenheit, ekstatischer Vision und Dienst am anderen. Verehrung dieses „Heiligen“ und wissenschaftliche Erforschung einer herausragenden Persönlichkeit stehen sich dabei nicht im Wege, wie die 6. Speiche zeigt. 
Die Herausgeber haben dieses Gedenkbuch in den Dreiklang von  Mystiker, Mittler, Mensch gestellt. Darum kann Roland Gröbli resümieren: „Niklaus von Flüe gehört bis heute zu den wirkungsmächtigsten Leitfiguren der Schweiz. Er ist ein Vorbild in Mystik und Spiritualität, Gesellschaft und Politik sowie als Mensch mit seinen Stärken und Schwächen“ (S.40).
Die Vielfalt dieses umfangreichen Bandes mit einigen thematischen Überschneidungen lässt sich in wenigen Worten einer Besprechung nicht nachzeichnen. Deshalb seien aus den einzelnen „Speichen“ hier diejenigen Schwerpunkte hervorgehoben, die die Weite und Ungewöhnlichkeit des Denkens, Fühlens und Handelns ausdrücken.“


Speiche 1: Dialog (S. 43–96)


als gesellschaftliche Herausforderung und Chance. Angesichts der Unehrlichkeiten des politischen Systems, der Frage nach Gottesrecht und Menschenrecht  scheint Niklaus' Weggang aus dem Oberwaldnerland (sogar mit Zustimmung seiner Frau Dorothee) auch eine Flucht ins Religiöse zu sein (Thomas Wallmann-Sasaki, S. 44 und Klara Obermüller, S.51). Die BeiträgerInnen des Buches kommen darum immer wieder – und völlig zu Recht – auf die Bedeutung der Ehefrau Dorothee für die spirituelle Entwickung ihres Ehemanns zu sprechen. Insgesamt darf aber nicht vergessen werden, dass Bruder Klaus sowohl durch seine beachtlichen Versuche des gesellschaftlichen Konflikt-Schlichtens als auch durch sein konsequentes spirituelles Leben faktisch zu einem Friedensheiligen geworden ist (Cornelio Sommaruga, S. 61ff / Guido Baumgartner, S. 68-72). 




Speiche 2: Verehrung (S. 99–164). Hier geht es weniger um die Selig- und dann Heiligsprechung des Niklaus von Flüe (1947) als vielmehr um die Motive seiner weiterwirkenden Verehrung. Das dürfte nicht nur eine Schweizer Besonderheit sein. Die Autoren erzählen, wie sie Bruder Klaus heute begegnen: 

  • Durch die Wanderung in die Ranft zur Einsiedelei
  • durch nachdenklich machende spirituelle Begegnungen
  • im Museum Bruder Klaus  in der "zuständigen" Ortsgemeinde Sachseln
  • durch Elemente der Verehrung im Tessin
  • durch den Weg zur Wachendorfer Kapelle (Eifel)
  • durch Friedensprojekte an verschiedenen Orten: in Indonesien, Israel/Palästina, Costa Rica, Österreich und im Libanon -  in Verbindung mit Charbel Makhlouf (1828-1898)
Speiche 3 behandelt die Religion (S. 167–206) aus der Sicht verschiedener christlicher Konfessionen, Religionen und im Zusammenhang seiner Friedensaktivitäten. Es ist spannend zu sehen, wie man die sog. „Vorhersage der Glaubensspaltung katholisch und reformiert gleichermaßen für die eigenen - Zwecke benutzte (S. 169 f). Davon ist heute nichts mehr zu spüren, vielmehr hat Niklaus von Flüe auch islamische Hochachtung gewonnen, was besonders mit seinen Friedensaktivitäten innerhalb der Eidgenossenschaft zusammenhängt. Dieser Friedenswille führte Niklaus auch 1481 aus der Einsiedelei heraus nach Stans, um dort einen Konflikt zwischen verschiedenen eidgenössischen Parteien betend und redend beizulegen. Das erinnert die Islamwissenschaftlerin  Rifa’at Lenzin an den irakischen Ayatollah Ali al-Sistani (geb. 1930), der 2004 ein Blutvergießen in Najaf (Südirak) verhinderte. Insgesamt rückt Bruder Klaus in den Horizont von Mahatma Gandhi und Martin Luther King (S. 176). Persönliche asketische und heitere Spiritualität einerseits und Friedensarbeit andererseits gehören offensichtlich zusammen. Es wird aber auch an die dunklen Stunden und Erfahrungen des Scheiterns im Leben von Bruder Klaus erinnert, die seinen besonderen Weg begleiten. Beeindruckend bleibt bei all seinen Bemühungen der konsequent friedliche Weg, der auch den Rechtsverzicht möglich macht – eine bewusst christliche Option. Darauf verweist Guido Estermann von der Pädagogischen Hochschule Schwyz (S. 205f).


Speiche 4: Mystik (S. 209–244) spricht das Thema an, das viele zuerst ins Zentrum des Verständnisses von Bruder Klaus stellen (würden). Die hier versammelten Beiträge beziehen Schwerpunkte mit ein, die die vielfältige Spiritualität in ihrer persönlichen und gesellschaftlichen Wirksamkeit zum Ausdruck bringen: Stille, Zwiesprache und Offenheit für Gott, Radikalität und Freundlichkeit, Mystik und Politik. Der evangelische Pfarrer Christoph Hürlimann zeigt die visionären Orientierungspunkte für den Weg des Niklaus von Flüe, die durch die Zeit seiner persönlichen Krise geprägt sind: „ … der Aufbruch als Pilger am St. Gallustag (dem 16. Oktober), die nächtliche Erfahrung von Liestal … wenige Tage später die Rückkehr in die engste Heimat und schließlich seine Niederlassung im nahegelegenen Ranft als Eremit“ (S. 213). Der Jesuit Christian M. Rutishauser  hebt dieses Paradox von abgeschiedener Meditation und Aktion besonders heraus (S. 226ff). So kann man mit dem Priester Nicolas Butter nicht nur von der „heiligen Narrheit“ im Befolgen des Evangeliums reden, sondern auch von der Kraft des Gebets, die zu politischen Veränderungen führen kann. In manchem erinnert gerade dieser Abschnitt auch an die politische Theologin und Mystikerin  Dorothee Sölle (1929–2003), die mit ihrem Leben dieses Paradoxon von Mystik und Widerstand zum Ausdruck brachte   


(vgl. ihr Buch. „Mystik und Widerstand. Du stilles Geschrei“. München: Piper 1999).
Dass Bruder Klaus viele Wirkungen in der Malerei (z.B. vom Radbild bis zum  Hungertuch), im Film, im Theater und in der Musik hervorgebracht hat, beschreibt die Speiche V: Kunst (S. 247-282). Man denke nur an die starke mit Bruder Klaus verbundene Symbolik von Kreuz, Rad und das Jetzt als Kreuzungspunkt von Zeit und Ewigkeit. Der Medienwissenschaftler Charles Martig merkt an, dass im Bereich der Kunst diese spirituelle Persönlichkeit oft beeindruckend, aber auch missverständlich dargestellt wird.


Schließlich kommt in Speiche 6 die Wissenschaft (S. 285–372) zum Zuge. Nun gibt Markus Ries (Universität Luzern) zu bedenken, dass Gewaltfreiheit  im Mittelalter kein Wert an sich war (S. 291).  Die Mahnungen  zum Frieden von Mailand und das Engagement von Bruder Klaus bei weiteren innerschweizerischen Auseinandersetzungen (alle  zwischen 1480 und 1483 formuliert) wurden in den geschichtlichen Beschreibungen des 15./16. Jahrhunderts nicht genügend gewürdigt. 


Aber man erinnert sich wieder an diesen Friedensstifter in den konfessionellen Spaltungskonflikten des 16. Jahrhunderts. Und natürlich muss auch Wilhelm Tell ins Spiel gebracht werden. Der Historiker und herausragende Niklaus-Biograf Pirmin Meier bezieht sich in seinem Beitrag auf den Landschreiber Hensli Schriber aus Obwalden (15. Jh.). Meier zeigt ausführlich im Horizont der „kalten Räte der Frauen“ und den „heißen Ratschlägen der Männer“, welche Spannungen die innere Schweiz zu jener Zeit erschütterten. So werden Wilhelm Tell und Niklaus von Flüe quasi zu zwei Symbolgestalten, zu „ Polen“, zwischen denen die eidgenössischen Werte von Frieden und Freiheit oft unter höchst widrigen Umständen umgesetzt wurden. Aber Bruder Klaus hatte neben seinen Ratgeberqualitäten und Friedensimpulsen noch etwas Unheimliches „anscheinend Verrücktes“. „Sobald man diesen schlichten Klaus von Flüe packen und wie zu allen Zeiten für irgendwelche Zwecke beanspruchen will, verflüchtigt er sich, ehe man es bemerkt“ (S. 307). Dass "Zäune" im späteren Verständnis von  Bruder Klaus eine wichtige Interpretationsrolle spielen, beschreibt der Berner Historiker und Politiker Josef Lang auf dem Hintergrund der dem Einsiedler zugeschriebenen Äußerung, „man solle die Zäune nicht zu weit“ machen. Gemeint sind nationale, soziale und polizeiliche Zäune, die in der Reformationszeit und Nachreformationszeit bis in die Nationalismen des 20. Jahrhunderts eine große Rolle spielten. Die Wirkung dieses Wortes zeigt Schwierigkeiten, Bruder Klaus politisch einzuordnen. Dadurch werden Herrschende und Beherrschte, Konservative wie Liberale gleichermaßen in Frage gestellt.
Verschiedenartige Themen folgen: Der Musikwissenschaftlers Angelo Garovi  untersucht den Bruderklausen-Gesang von 1488 ­– vom spätmittelalterlichen Choral zum reformierten Kirchenlied. Anschließend bespricht der Abt Urban Federer die ritualisierte Erinnerung von Bruder Klaus in Einsiedeln. Er erweitert sie um einige ökumenische „Vorblicke“. Überhaupt: Bruder Klaus und die Protestanten: Schon zu Lebzeiten wurde er gewürdigt und je nach religiöser Position vereinnahmt, obwohl der „Heilige“ unerschütterlich katholisch blieb. So reagiert auch die Geschichtsschreibung bereits im 16./17. Jahrhundert entsprechend, mit weiteren historischen „Inszenierungen“ im 18./19. Jahrhundert (S. 327f). Kulturkampf, Klassenkampf und Heiligsprechung, dies alles durchläuft die geschichtliche Sicht auf Bruder Klaus. Der Historiker Hannes Steiner mahnt deshalb, die vorreformatorische Geschichtsschreibung ernster zu nehmen (S. 330f). Katholischerseits spielen natürlich die „Wunder“ des Einsiedlers, besonders in der Frömmigkeitskultur des 17./18. Jh.s mit den Klaus-Reliquien  eine große Rolle. 


Die z.T. politisch vereinnahmte „Heiligenverehrung“ prägt das katholische Milieu zwischen dem 1. und 2. Weltkrieg. Der „inoffizielle Schutzpatron“ mit seinen Kultstätten in der Zentralschweiz bleibt eine „polyvalente Erinnerungsfigur, Mythos und Faszinosum“, wie der Historiker Urs Altermatt schreibt (S. 343–355). 


Immerhin haben sich inzwischen viele Kirchen und Kapellen der Schweiz unter dem Patrozinium des Bruder Klaus zu Orten der Meditation und Andacht auch für kirchlich Fernerstehende entwickelt, besonders nach der Heiligsprechung 1947 (so der Theologe Urban Fink-Wagner).
Ein Resümee für das Gedenkjahr wird im Schlussabschnitt „Mehr Ranft“ gezogen (S. 374-380): Gedenken als Anstoß für Projekte und Initiativen auf den verschiedenen Ebenen: Bruder Klaus als Impulsgeber für tiefe menschliche Werte, echte Begegnungen und Bescheidenheit.
Bilanz: Vermutlich ist es gerade diese „Mischung“ bei Niklaus von Flüe, die seine Faszination bis heute ausmacht: Sie zeigt sich in seinem (extrem) visionären Wesen, Denken und Glauben einerseits und in seiner spirituell geprägten politischen Wirksamkeit andererseits. Von daher scheint sich die Motivation zu speisen, die Menschen unterschiedlicher Herkunft veranlasst, ihn als Vorbild zu nehmen – in der innigen Verbindung von einem meditativen, einfachen, geheimnisvollen Leben und gesellschaftlicher Verantwortung. Ein anschauliches und zugleich spannendes Buch, das viele historische Zusammenhänge ausleuchtet und zugleich in den Berichten viele persönliche Erfahrungen der Autoren durchscheinen lässt.
Alle Beiträge des Gedenkbuchs «Mystiker. Mittler. Mensch», die aus dem Französischen oder dem Italienischen übersetzt worden sind, können im Original heruntergeladen werden. Darüber hinaus enthalten beide Büchlein weitere grundlegende Beiträge aus der offiziellen Gedenkausgabe.



Meditieren mit Nik(o)laus von Flüe: Die Kapelle in Wachendorf (Eifel) 

Reinhard Kirste
Rz-Niklaus-Flüe-600 Jahre, 2017 und weitere Bearbeitungen 

Lizenz: CC 





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