Géraldine Roux: Maïmonide ou la nostalgie de
la sagesse.
Maimonides oder das Heimweh / die Sehnsucht nach der Weisheit
Maimonides oder das Heimweh / die Sehnsucht nach der Weisheit
Coll. Points Sagesses 310.
Paris: Éditions Points (Seuil) 2017, 208 pp
Paris: Éditions Points (Seuil) 2017, 208 pp
--- ISBN 978-2-7578-1630-1 ---
Géraldine
Roux hat sich als Kennerin mittelalterlicher Philosophie und besonders der
Werke des Moses Maimonides (1135/1138–1204) schon länger einen Namen gemacht. Ihre
Veröffentlichungen zu diesem Thema kreisen immer wieder um die Fragen von
Glaube und Vernunft, Wissen und Weisheit. Das hat sie besonders in ihrem Buch über den Horizont des Wissens bei
Maimonides verdeutlicht: Vom Propheten zum Weisen - Du prophète au savant. L’horizon du savoir chez Maïmonide. Paris, Cerf, 2010, 359 pp. --- Vgl. dazu die Rezension von
Anna Caiozzo, in : Médiévales 64 / printemps 2013: Temporalités de l'Égypte: https://medievales.revues.org/7032
--- Mehr zur Person von Géraldine Roux: hier
Das vorliegende Taschenbuch komprimiert nun in präziser Weise Leben und Werk des großen jüdischen Philosophen. Die Lesenden brauchen keine speziellen Sachkenntnisse. Sie können sich gut in die biografische und geistige Entwicklung dieses Brückenbauers zwischen Bibel, Talmud und griechischer Philosophie hineindenken. Wichtige Texte werden kommentierend zitiert. In einem persönlich eingefärbten Vorwort schreibt die Autorin von der eigenen Faszination, die Maimonides bei ihr auslöste: Wege des Verstehens zu eröffnen, ohne fertige Lösungen bei der Hand zu haben. Denn diesem Weisen gelang es, eine gemeinsame Sprache zu finden, die es Philosophie und Religion erlaubte, miteinander zu kommunizieren (S. 11).
In der Einleitung
„Ein vorwärts treibendes Heimweh“ („Une nostalgie propulsive“) geht die
Autorin zuerst den Legenden zur Biografie des Maimonides im Kontext der
Kreuzfahrerzeit nach. Es sind Spannungen und Widersprüche, die sich zum Teil aus
seinen Tora- und Talmud-Interpretationen ergeben. Sie beschreibt weiterhin im
Rahmen seines Lebens die Entwicklung seiner theologisch-philosophischen Konzepte,
aber auch seine konkreten religiösen und politischen Empfehlungen, basierend
auf einem komplexen Verständnis jüdischen Glaubens. Die Zielrichtung des Buches
liegt in der ausführlichen Darstellung des „Führers der Unschlüssigen“ bis hin
zu der bleibenden Frage, wie weit eine Intellektualisierung des Glaubens gehen
kann bzw. muss.
Géraldine Roux geht im 1. Abschnitt – Jahre
des Umherrirrens („Les années d’errance: de Fostat au Maroc“) – auf die
Diskriminierungs- und Verfolgungssituation der spanischen Juden im 12.
Jahrhundert ein, die durch die almohadische Eroberung ausgelöst wurde.
Maimonides plädiert: Wer in solcher Bedrohungssituation seine Glauben verbirgt
oder gar abfällt, sollte jedoch milde behandelt werden.
Im 2. Abschnitt – Neubegründung der Wissenschaft
vom Gesetz, die Ankunft in Ägypten („Refonder la science de la Loi,
l’arrivée en Égypte“) – zeigt die Autorin, wie Maimonides ein Politik-Projekt für
die jüdischen Gemeinschaften entwickelt. In der reformierenden Restaurierung
des von Gott gegebenen Gesetzes und im Erfinden einer gemeinsamen Sprache für
Philosophie und Religion setzt er neue Möglichkeiten dialogischer Begegnung
frei. Das geschieht angesichts messianischer Versuchungen und apokalyptisch zunehmender
Hoffnungen. Mit den drei Kronen Keter
Torah – Krone des Gesetzes, – Keter Kehuna – Krone der priesterlichen
Weihe und Keter Malkhut – Krone des
Königtums ( = die des Davidssohnes und Messias) stellt er eine Entwicklung dar,
deren Ende noch nicht gekommen ist. Der Messias als König, Prophet, Lehrender ist
eine orientierende Symbolfigur, die allen Völkern gilt. Die Tora-Auslegung
selbst eröffnet universale Weite.
Im 3.
Abschnitt – Ratlosigkeit und Revolte („Perplexité et révolte“) – ist
der Ausgangspunkt die Erkenntnis der eigenen Sterblichkeit und der
eigenen Konditionierung. Letztlich kann nur der Geist allein die
Notwendigkeiten des Körpers regeln, und zwar durch ein mentales Training, das
durch philosophische Meditation und ein asketisches Leben ermöglicht wird. Aber
wenn die Harmonie von Körper und Seele das zu erreichende Lebensziel sind,
warum sprechen dann schmerzvolle Fakten und das Leiden dagegen? Zur
Präzisierung dieser Probleme beschäftigt sich Maimonides mit der Physik des
Aristoteles. Hier werden nämlich grundlegende Begriffe definiert, die zum
Verstehen im Leben gebraucht werden, nämlich Raum, Zeit und Ursache. An der Geschichte
des biblischen Hiob ergeben sich u.a. zwei Fragen: Was ist das für eine
göttliche Vorsehung, wenn der Gerechte leidet? Was spielt sich vor dem
himmlischen Gerichtshof im Blick auf Hiob ab (Kap. 2), als der Teufel sich
dorthin einlädt? (vgl S. 99ff und S. 95–98, als Textauszug: hier)
Für Maimonides
wirken die weisen Talmudlehrer selbst ratlos. Rabbinische Dispute verhindern
eine legitime Orientierung und ein angemessenes Konzept zum Verstehen. So geht
Maimonides in seinen Kommentaren zu Mischna und Tora und im berühmten Führer
der Unschlüssigen, der Ratlosen bzw. Verwirrten eigenständig dn aufbrechenden
Problemen nach. Géraldine Roux fasst diese nicht auf eine Linie zu bringenden
Grenzerfahrungen so zusammen: Die Perplexität, die Ratlosigkeit wird zum
Instrument, die Begrenztheit des Verstandes anzuerkennen und die Unfähigkeit der
Vernunft zu akzeptieren. Zugespitzt: „Die dogmatische Vernunft verdammt die Tür
zur Metaphysik und mit derselben Geste, die aus ihr hervorgegangenen
Wissenschaften“ (S. 119).
Die Ratlosigkeit kommt nicht aus der Annahme eines verzweifelten Gewissens angesichts der Beschränktheiten des Verstandes (intelligence). Denn diese Begrenzungen sind objektiv, „der Fehler liegt in dem schlechten Gebrauch des Verstandes“ (aaO).
Die Ratlosigkeit kommt nicht aus der Annahme eines verzweifelten Gewissens angesichts der Beschränktheiten des Verstandes (intelligence). Denn diese Begrenzungen sind objektiv, „der Fehler liegt in dem schlechten Gebrauch des Verstandes“ (aaO).
So ist die Unschlüssigkeit/die Ratlosigkeit nicht
sinnlos, sie ist vielmehr eine Durchgangsstation, eine Vorbereitung, um die
Sinnlosigkeit zu überwinden. Die Schleier, die über den Geheimnissen des Lebens
lagen, werden ansatzweise gehoben. der Weg durch die (symbolische) Wüste nach
dem inneren Zusammenhalt von Immanenz und Transzendenz wird zum initiatischen
Weg, zum Weg der Weisheit, der in die Gotteserkenntnis mündet.
Im 4. Abschnitt – Der Weg der Weisheit („Le
chemin de la sagesse“) – kommen die vergessenen Lebenswurzeln des Judentums,
nämlich die Geheimnisse der Tora zur Sprache. Wie kann man jüdische Weisheit wiederfinden,
wenn man das Lernen und den Unterricht vergessen hat? Es muss also ein Weg eröffnet
werden, um den Talmud mit den philosophischen Ideen zu versöhnen – noch umfassender:
Wie kann man Glaube und Vernunft in Harmonie bringen? Darum ist eine „innere“
Führung notwendig, die mit äußeren quasi lexigrafischen Beschreibungen des
Lebens beginnt und metaphorisch und allegorisch weiterschreitet und so wieder
Licht zum Verstehen der Tora bringt. Es ist zugleich ein Weg der Negation. Er
offenbart die Trennlinie zwischen Gott und Mensch. Das bedeutet, Gott kann man nicht
irgendwelche positiven Attribute zuordnen, diese signalisieren ja fehlende
Vollkommenheit. Nur durch Negation kann man sich den verborgenen Wahrheiten
annähern. Dies ist eine Methode bewusster Beschränkung menschlichen
Verstehenwollens. Konkret: die Offenbarung des Gottesnamens an Mose (Exodus 3)
ist für Maimonides „die Offenbarung einer auf sich selbst bezogenen Identität,
welcher der ontologische Beweis seiner Existenz ist“ (S. 158), also kein
begrifflicher Name, sondern eine Umschreibung: „Ich bin, der ich bin, ich werde sein, der ich sein werde.“(Ex
3,14). Auf diesem Wege gelangt der „unschlüssige/perplexe Weise“ über mehrere
Glaubens-Stationen (dégrés de croyances, S. 176) von der naiven Anbetung zu
einem wahrhaften Kult („culte suprème“, S. 166). Gesetz und Tora sind hier
Ausdruck einer universalen Vernunft unter Einbeziehung der menschlichen
Vernunft mit ihren äußeren, auch religiösen Begrenztheiten. Auch die anderen
Religionen haben Defizite, aber sie werden zu Weggenossen im Blick auf den
Monotheismus und die fundamentale Rationalität des Gesetzes (S. 171).
Das Ziel ist also nicht die Wiederherstellung eines äußeren (in der Vergangenheit zerstörten Tempels in Jerusalem), sondern die Liebe Gottes im Sinne eines Tempels in einem selbst. Praktisch geschieht das durch die stufenweise Annäherung an das göttliche Gesetz, wodurch sich die eigene Ignoranz in Erkenntnis verwandelt.
Das Ziel ist also nicht die Wiederherstellung eines äußeren (in der Vergangenheit zerstörten Tempels in Jerusalem), sondern die Liebe Gottes im Sinne eines Tempels in einem selbst. Praktisch geschieht das durch die stufenweise Annäherung an das göttliche Gesetz, wodurch sich die eigene Ignoranz in Erkenntnis verwandelt.
Als Schlussfolgerung bedenkt die Autorin
die Nachwirkungen des Maimonides („La postérité de Maïmonide“) in
der Geschichte der Philosophie, besonders was Baruch de Spinoza (1632–1677) und
Moses Mendelssohn (1729–1786) betrifft. Maimonides, der Vater des philosophischen
jüdischen Rationalismus, hat viele weitere mehr rationalistische Richtungen und
verinnerlichte Frömmigkeitsformen angestoßen. Die Dualität in seinem „Führer
der Unschlüssigen“ jedoch ist nur oberflächlich. Denn es geht um eine
verinnerlichte Praxis des Gesetzes. Maimonides hat ermöglicht, sich auf die
sufische Tradition einzulassen, die zugleich in eine jüdische Praxis integriert
ist. Und die von ihm geprägte Haskalah, die jüdische rationale Bildung, brachte
in der Folgezeit eine Annäherung an eine besondere jüdische Aufklärung hervor,
die in der Tiefe die moderne deutsche Philosophie beeinflusste.
Bilanz:
In präziser Weise und gut nachvollziehbar zeichnet Géraldine Roux für jede/n an der Geistesgeschichte Europas Interessierte/n die bahnrechende Leistung dieses Meisters nach. Maimonides gelang es, die metaphysischen Probleme damaliger Wissenschaft so in eine philosophische Aufklärung zu bringen, dass die Religion darin einen glaubwürdigen Platz finden konnte – beeindruckende Etappen auf dem Weg von Glauben und Wissen zur Weisheit. Es wäre schön, wenn dieses Buch auch in einer deutschen Ausgabe erscheinen könnte.
In präziser Weise und gut nachvollziehbar zeichnet Géraldine Roux für jede/n an der Geistesgeschichte Europas Interessierte/n die bahnrechende Leistung dieses Meisters nach. Maimonides gelang es, die metaphysischen Probleme damaliger Wissenschaft so in eine philosophische Aufklärung zu bringen, dass die Religion darin einen glaubwürdigen Platz finden konnte – beeindruckende Etappen auf dem Weg von Glauben und Wissen zur Weisheit. Es wäre schön, wenn dieses Buch auch in einer deutschen Ausgabe erscheinen könnte.
Mehr zu Leben und Werk von Maimonides
(mit Textbeispielen):
https://textmaterial.blogspot.de/2017/03/moses-maimonides-die-versohnung-von.html
https://textmaterial.blogspot.de/2017/03/moses-maimonides-die-versohnung-von.html
Reinhard Kirste
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen