Sonntag, 29. Oktober 2017

Vernunft und Glaube gemeinsam als Chance für eine friedfertige Begegnung der Religionen

Werner Zager (Hg.): Glaube und Vernunft
in den Weltreligionen.
              Leipzig: EVA 2017, 233 S., Personenregister
Der bereits 1948 gegründete Bund für Freies Christentum bemüht sich seit langem aus einer offenen protestantischen Perspektive heraus, den interreligiösen Dialog zu fördern.
Der Präsident des Bundes, Werner Zager,
apl. Professor für Neues Testament an der Universität Frankfurt/M. und Leiter der
Ev. Erwachsenenbildung Worms-Wonnegau, stellt nunmehr den vorliegenden Band als weiteren Baustein für ein besseres Verständnis zwischen den Religionen vor. Die vorliegenden Texte sind (offensichtlich schriftlich erweiterte) Vorträge, die bei der Jahrestagung des Bundes im Jahre 2016 gehalten wurden.

Die Zielrichtung gibt Zager bereits im Vorwort an:  
"Obwohl in den meisten Religionen Frieden als anzustrebendes Ziel gilt, wurden Religionen immer wieder zur Legitimation von Gewalt genutzt. Seit den Ereignissen des 11. September 2001 ist die westliche und östliche Welt erneut konfrontiert mit der Gewalt im Namen der Religion.
Insofern ein fundamentalistisches Religionsverständnis den Nährboden für Krieg und Terror bildet, kommt es darauf an, die liberalen Kräfte und Strömungen in den Weltreligionen zu stärken, um ein friedliches Zusammenleben von Angehörigen verschiedener Kulturen und Religionen zu fördern. Für das eigene religiöse Selbstverständnis ist daher von zentraler Bedeutung, wie Glaube und Vernunft so aufeinander bezogen werden können, dass es möglich ist, sowohl in der eigenen Religion beheimatet zu sein als auch die pluralistische Gesellschaft zu bejahen."

Werner Zagers einleitender Beitrag "Durch die Vernunft aufgeklärter Glaube" geht nach einem kurzen Blick zur Geschichte der Begriffe  "Vernunft" und "Glaube" auf die ständige  Gefährdung der Vernunft ein, wie sie besonders Luther beschrieben hat: "Hure des Teufels". Von dorther beschreibt er das "vernünftige Christentum" Lessings sowie die Einbindung der Religionen innerhalb der Grenzen der praktischen Vernunft. Dass der Autor im Sinne einer liberalen Position im Christentum natürlich Friedrich Schleiermacher zu Wort kommen lässt, ist gewissermaßen Konsequenz vernünftiger Reflexion im Horizont der Frömmigkeit. Das lässt sich dann problemlos über Albert Schweitzer bis zu Rudolf Bultmann und Wolfhart Pannenberg weiterführen. Im Ergebnis plädiert Zager für eine "partnerschaftliche" Korrelation, die auch einen kritischen Dialog erlaubt (S. 33).

Andreas Rössler
, Pfarrer in Stuttgart, untersucht die christlichen Glaubensquellen von Bibel und Tradition und spiegelt sie an Glaubenserfahrungen. Dazu bezieht er biblische Texte ein, die ebenfalls von Vernunft sprechen, um von dort einen Blick in die Theologie- und Philosophiegeschichte zu werfen. Als christliche Glaubensnorm bleibt "Was Christum treibet" im Sinne Luthers. Bei der Wahrheitsfrage darf allerdings die kritische Vernunft nicht ausgeblendet werden. Das gilt auch in einem universalistischen Horizont unter gegenwärtigen Voraussetzungen.


Hans-Georg Wittig, Professor an der Pädagogischen Hochschule Freiburg, nimmt gewissermaßen einen zweiten Anlauf, um die Relationen von Verstand, Vernunft, Religion und Glaube zu klären. Wenn Religion mit "Vernunft vereinbar sein will", muss sie vier Kriterien erfüllen: 

1. Einsicht in einen unergündlichen Urgrund allen Seins. 
2. Eine Moral, die vernünftig einsehbar ist. 
3. Sollen muss sich mit Können verbinden, nur so gibt es erfülltes Leben. 
4. Ein Glaube, der über unsere Erscheinungswelt hinausgeht
    und von der Kraft der Liebe geprägt ist.


Michael Großmann, Theologe und Lehrer in Achern, diskutiert an der Position des Anselm von Canterbury dessen ontologische Argumente zum "Beweis" der Existenz Gottes als umfassenden Horizont des Seins. So lässt sich durchaus eine Tendenz hin zu einer vernunftgeleiteten Religion herausarbeiten. Anselms Methodik und Konstruktion besteht allerdings (nur) in der Widerlegung gegenteiliger Behauptungen, die sehr deutlich schon durch Kant in Frage gestellt wurden. Der Autor geht darum den Weg vom "Be-greifen" zum "Ergriffensein" (S. 97), denn rationale Argumente, um den Grund des Erkennens zu finden, bleiben letztlich begrenzt.


Christian Wiese, Inhaber der Martin-Buber-Stiftungsprofessur an der Universität Frankfurt/M. diskutiert den Zusammenhang von Vernunftreligion und Mystik bei Leo Baeck (1873-1956) unter den Stichworten Geheimnis und Gebot. Er verweist dazu  auf die veränderte und die erweiteterte Ausgabe von dessen Buch "Das Wesen des Judentums". Dort sind alle Passagen der Unvereinbarkeit von Judentum und Mystik gestrichen
(vgl. S. 123). So findet auch keine "sittlich-rationale Domestizierung der jüdischen Mystik" statt (S. 130). In gewisser Weise lässt sich hier eine Nähe zu Abraham J. Heschel (1907-1972) ahnen.


Neben dem Blick auf das Judentum tritt nun eine liberale islamische Position, verdeutlicht durch Rabeya Müller vom Zentrum für Islamische Frauenforschung in Köln und Imamin im Liberal-Islamischen Bund. Sie baut auf eine Koran-Hermeneutik, die von Gerechtigkeit (gerade auch in der Genderproblematik) und Barmherzigkeit im Sinne eines "Fortdenkens im Guten" (S. 134) geprägt ist. Von daher ist Autoritätshörigkeit undenkbar, auch wenn die "idschma", also die Konsens-Fähigkeit und zuweilen die Konsens-Nötigung der Gelehrten nicht unterschätzt werden sollte. Aber: "Glaube und Freiheit stehen in unmittelbarer Beziehung zueinander. Wenn jemand etwas in Freiheit annimmt, dann wird es Teil der eigenen Überzeugung. Wenn dagegen jemand etwas annimmt, nur weil es Tradition ist, dann kann es nicht genuiner Glaube werden ..." (S. 143).


Auch Kurt Bangert, Schriftleiter der Zeitschrift "Freies Christentum", versucht sich auf eine islamische Perspektive einzustellen. Ihm geht es dabei nicht nur um Glaube, sondern um Glaubenspraxis. Beginnend mit dem Brauchtum arabischer Stämme zeigt sich die daraus entwickelte Sunna (Tradition) des Propheten Mohammed als Impulsgeberin einer sich weiter ausdifferenzierenden Rechtsprechung bis hin zur Formung der vier wichtigsten (sunnitischen) Rechtsschulen. Der Autor geht der Problematik der Rechtsauffassungen als von der Offenbarung geleitet nach, um dann neben die verstärkte Hadith-Kritik islamischer und christlicher Gelehrter die Heraushebung des Vernunftprinzips in der Rechtsfindung vertiefend anzusprechen. Sogar konservative "Schulen" wie die Shafi'iten betonen eine Vernunftorientierung. Das allerdings ändert nichts an der Kritik Bangerts, der den "Koran als absolut verbindliches Offenbarungsbuch und Richtschnur für Recht und Glaubenspraxis" sieht (S. 177). Für den relativ strengen traditionellen Islam mag er Recht haben, allerdings blendet er dadurch frühe theologische Strömungen sowie mystische und  mutazilitische Richtungen faktisch aus.

Der thüringische Pfarrer Wolfgang Pfüller lenkt den Blick auf die Baha'i-Religion und deren mehr liberale Richtung: Wissenschahft und Religion sollen in Einklang stehen. Streitpunkte sind allerdings u.a. die menschliche Evolution und das Leib-Seele-Problem, das von Abdul Baha, dem ältesten Sohn von Bahá'u'lláh traditionalistisch angegegangen wird (S. 184). Angesichts der Begrenztheit der Vernunft und Unfehlbarkeitsansprüchen im Baha'itum lassen sich die Probleme wegen der Normativität bestimmter Texte schwer lösen. Nur wenn hier Kritik bei der Gründergeneration ansetzen darf, könnten tatsächlich liberale Veränderungen eintreten.


Einen völlig anderen Ansatz zur Gesamtthematik bietet Arnulf von Scheliha, Ethiker in der Ev.-theol. Fakultät der Universität Münster. Er geht der liberalen religiösen Religionskultur in Deutschland nach, wie sie sich im protestantischen Bereich besonders nach dem Wiener Kongress 1815 auffächert. Allerdings setzt sich im kirchlichen Mainstream diejenige Richtung durch, die politische Herrschaft als quasi göttlich legitimiert ansieht. Aber die immer wieder geforderte Trennung von Kirche und Staat hat neben der laicité in Frankreich und dem US-amerikanischen Modell  auch in  Deutschland durch die Weimarer Verfassung grundlegende Veränderungen angebahnt. Diese haben sich allerdings nach dem 2. Weltkrieg im Grundgesetz nur teilweise niedergeschlagen. So bleibt entsprechendes Konfliktpotential wie der Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach an Schulen. Aber auch die Beschneidung bei Juden und Muslimen löst immer wieder gesellschaftlichen Streit aus. Nun sollen Religionen jedoch integrationsfördernd sein, was derzeit besonders im Blick auf den Islam recht unterschiedlich gesehen wird.  "Der Eigensinn der Religionen geht in der Vernunft des Rechts nicht auf"
(S. 221).


Den Abschluss des Bandes bietet die bei der Tagung gehaltene Predigt von  Ingo J. Zöllich, Troisdorf, über Psalm 117 als interreligiöse Ansage des gemeinsamen Gotteslobes.


Bilanz: Dieser Tagungsband rückt angesichts fundamentalistischer Verhärtungen in allen Religionen die erstaunliche Kraft von Vernunft und Aufklärungswille in den monotheistischen Religionen erneut in den Blick: Judentum, Christentum, Islam und Baha'i. Interreligiöser Dialog in der Spannung von Rationalität und Glaubenserfahrung gewinnt auf diese Weise aktualisierende Bedeutung in einer Welt, die zwischen Pluralismus und Fundamentalismus konfliktreich hin und her gerissen wird. 




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