Michael Blume: Islam in der Krise
Eine Weltreligion
zwischen Radikalisierung und stillem Rückzug.
Ostfildern: Patmos 2017, 217 S., ausführliches Glossar
--- ISBN 978-3-8436-0956-2 ---
Eine Weltreligion
zwischen Radikalisierung und stillem Rückzug.
Ostfildern: Patmos 2017, 217 S., ausführliches Glossar
--- ISBN 978-3-8436-0956-2 ---
Vgl. die Zusammenstellung:
Kommentare und Rezension in Auswahl >>> hier
Das große Interesse
kam auch deshalb, weil der Autor nicht den gängigen Vorstellungen von der
weltweiten Expansion des Islams folgt. Ganz im Gegenteil: vielmehr zeigt er
auf, wie „der Islam“ in seinen vielfältigen Strukturen offensichtlich eine
innere Krise bewältigen muss. Das hängt mit den Säkularisierungsprozessen
zusammen, die auch vor der islamischen Welt nicht haltmachen. Dazu kommen
soziale Krisen, gesellschaftliche Konflikte, ethnische Auseinandersetzungen.
Speziell die arabische Welt und besonders deren reaktionäre Herrscher können
ihre Macht und ihren politisch-kulturellen Einfluss nur durch die Einnahmen aus
den sprudelnden Ölquellen sichern.
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Gilles Kepel, z.B. in: „Jihad.
Expansion et déclin de l’islamisme. Gallimard 2000
Ausführliche Rezension in Recherches Sociologiques 2000/3, p. 133-138
Ausführliche Rezension in Recherches Sociologiques 2000/3, p. 133-138
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Abdelwahab Meddeb: La maladie de
l’islam. Seuil 2002 = „Die Krankheit des Islam“.
Heidelberg: Wunderhorn 2002– Rezensionsnotizen bei perlentaucher.de
Heidelberg: Wunderhorn 2002– Rezensionsnotizen bei perlentaucher.de
Mehr zu beiden Autoren im Verlag Seuil: Neue Sachbücher: hier
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Olivier Roy und Fethi Benslama beziehen sich dagegen
auf einen anderen Aspekt des islamischen Terrorismus: Er ist Ausdruck einer
veränderten Form der Jugendrevolte.
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Zu Olivier Roy und seinen Zeit-Analysen:
hier
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Zu Fethi Benslama und
Radikalisierungstendenzen im Islam: hier
Die Krise des Islam
zeigt sich am deutlichsten im Bildungsniedergang in der sog. Islamischen Welt.
Bildungsaufbrüche brauchen aber demokratische Freiheiten, die den Bürgern
dieser Länder weitgehend verwehrt werden. Der Eindruck des „Abgehängtseins“ und
der Entwicklungsbedürftigkeit (auch durch die Macht des „Westens“!) fördert
Verschwörungstheorien und Gewaltexzesse oder aber den „stillen Rückzug“.
Als das Buch geschrieben wurde, war der sog. Islamische Staat noch auf
dem Höhepunkt seiner Macht. Inzwischen ist er fast zusammengebrochen. Er hält
sich nur noch durch Terroranschläge, die er für sich reklamiert, im Bewusstsein
der Weltöffentlichkeit. Keineswegs beseitigt sind jedoch damit zusammenhängende Ursachen. Diese beschreibt Michael Blume grundsätzlich, demografisch, aber auch durch eigene
Erfahrungen gestützt, die er bei Orientreisen und Begegnungen mit Muslimen vor
Ort sammelte.
Der Verfasser geht
nun so vor, dass er zuerst fragt, wie es um die Muslime bestellt ist. Der Islam
ist statistisch gesehen die zweitgrößte Weltreligion mit ca. 1,6 Milliarden
Menschen. Er konzentriert sich nun zuerst auf die Muslime in Deutschland. Ihre
Zahl liegt nach Schätzungen zwischen 4,4 und 4,7 Millionen. Aber was sagt die
Statistik wirklich? „Würde man beim Islam in Deutschland das gleiche, strenge
Kriterium anlegen wie beim Christentum, wären nur noch die etwa 20 Prozent der
>Muslime< zu zählen, die tatsächlich einer Religionsgemeinschaft
angehören und dafür Beiträge entrichten“ (S. 15). Dieses ernüchternde Ergebnis
verstärkt der Autor noch durch die Ergebnisse des Religionsmonitors 2017. Dort
wird darauf verwiesen, dass sich Menschen muslimischer Herkunft verstärkt
außerhalb der Moscheegemeinden engagieren.
Zur Verdeutlichung blickt
Blume etwas genauer in die islamische Geschichte zur Religionsfreiheit (S.
17ff). Er spiegelt sie an der Entwicklung religiöser Toleranz und der Menschenrechte
in Europa. Hier spielt die gegenwärtig vielfach aktivierte islamische Tradition
des Takfirs, des Abfalls vom wahren
Glauben und des Unglaubens eine beunruhigende Rolle. Dies geschieht, obwohl die
koranische Auslegung von Sure 2,256 (Kein Zwang im Glauben!) Möglichkeiten der
Religionsfreiheit eröffnet (S. 23). Die islamischen Institutionen lähmen sich
teilweise selbst durch ihre theologisch-ethischen Einstellungen. Viele Muslime
fühlen sich damit in einer veränderten Gesellschaft auf sich selbst gestellt
und verunsichert. Tatsächlich hat inzwischen ein „stiller Rückzug“ begonnen. Er
zeigt sich in der Kluft zwischen dem „öffentlich bekundeten
>eigentlichen< Islam und der Lebensrealität der >Muslime<“ (S. 31).
Es kann nun allerdings nicht darum gehen, einen staatlich sanktionierten
„liberalen Islam“ in Deutschland zu etablieren. Der Islam muss in der Lage
sein, sich selbst im Sinne einer religiösen Körperschaft (wie z.B. die Kirchen)
zu organisieren.
Was also ist angesichts der ebenfalls auffälligen Säkularisierungstendenzen des Islam in Deutschland zu tun?
Was also ist angesichts der ebenfalls auffälligen Säkularisierungstendenzen des Islam in Deutschland zu tun?
Ehe Blume sich mit
dieser Frage weiter beschäftigt, kommt er auf einen Tiefpunkt islamischer
Geschichte nach dem phänomenalen Bildungsaufstieg im Mittelalter zu sprechen:
1485. Die Erfindung des Buchdrucks und damit einhergehende intensive
Medienverbreitung sah das Osmanische Reich als Bedrohung an und verbot den
Druck in arabischen Lettern. Dank dieser phänomenalen Erfindung erhielt die
europäische Welt seit der Reformation ein anderes Gesicht. Anders in der
islamischen Welt: Es folgte der Niedergang islamischer Bildung, der bis heute
nicht aufgeholt worden ist (S. 59–64) und sich teilweise in Moscheegemeinden
fortsetzt. Unabhängig von den eigenen Entwicklungswegen jeder Religion wirkt
sich im Islam jedoch in der Moderne der „Fluch des Öls“ aus, der mit Eliten in
den ölreichen arabischen Staaten zusammenhängt: Diese beziehen ihr Einkommen
nicht durch Arbeit, sondern die Produktivität erbringen Gastarbeiter. Das
extremste Beispiel ist Saudi-Arabien mit dem rückwärts gewandten
fundamentalistischen Wahabismus. So konnte und kann sich weiterhin auch die
dunkle Seite der Religiosität in Abgrenzungsstrategien gegen den „Westen“ und
Verschwörungstheorien entwickeln. Aktuelle politische Beispiele gibt es dafür
genug. Es ist wohl einiges dran von der These „Die Krankheit des Islam“.
Woher aber kommen
die westlichen Ängste einer islamischen Überfremdung? Der sog. Geburtendschihad
(S. 139f) erweist sich als Phantom, gerade weil es in den Ländern mit
muslimischer Bevölkerungsmehrheit ebenfalls wie im Westen in allen
Bevölkerungsgruppen einen erheblichen Rückgang der Geburten gibt.
Was ist insgesamt zu tun, und wie können Muslime und Nichtmuslime
gemeinsam die offenkundige Krise des Islams gemeinsam überwinden? „Weder die
Weltreligionen noch die empirischen Wissenschaften sind also an ihr Ende
angelangt … Und in aktiver Förderung von Wissen und gelingendem Leben, in
gegenseitigem Respekt und friedlichem Wetteifern um das Gute … was könnte
Muslime, Christen, Juden, Anders- und Nichtglaubende besser verbinden?“ (S.
154)
Bilanz
Zum einen lehrt die
Demografie – so Blume – dass Überalterung nicht in die Zukunft führen
kann. Wir brauchen die jungen Generationen. In diesem Zusammenhang haben die
Religionen die Aufgabe, sinnhafte Antworten für Leben und Zukunft
„herüberzubringen“. Zum anderen ist Bildung für alle der entscheidende Faktor,
damit die Hoffnungen auf eine bessere und friedlichere Welt nicht zerbrechen,
sondern realisiert werden können.
Michael Blume kann
hier natürlich auch keine präziseren Antworten geben. Seine Analysen weichen von
üblichen Islamkritiken ab. Sie verändern den oft verengten, zuweilen verängstigten
Blick auf die Muslime in Deutschland und auf die Umbrüche in der islamischen
Welt. Solche Horizonterweiterung ist dringend notwendig. Blume leistet dazu
einen wichtigen Beitrag. Sein Buch ist darum zu recht in die Bestsellerlisten
gekommen. Es sollten nun praktische Umsetzungen erfolgen: Gemeinsame
Initiativen im praktischen Zusammenleben und in der politischen Neuorientierung!
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Reinhard Kirste
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