Michael Blume: Warum der Antisemitismus uns
alle bedroht.
Wie neue Medien alte Verschwörungsmythen befeuern.
Wie neue Medien alte Verschwörungsmythen befeuern.
Ostfildern: Patmos
2019, 208 S., Glossar
--- ISBN 978-3-8436-1123-7
--- auch als eBook und Hörbuch erhältlich
--- auch als eBook und Hörbuch erhältlich
InterReligiöseBibliothek (IRB):
Buch des Monats Mai 2019
Buch des Monats Mai 2019
- English summary
at the end of the review - Résumé français
au bout du compte rendu
Der
Religionswissenschaftler Michael Blume, seit 2018 Antisemitismusbeauftragter des
Landes Baden-Württemberg, hat bereits mit seinem Buch „Die Krise des Islam“ (2017)
gängige Klischees und Vorurteile im Blick auf den Islam – die zweite
Abrahamsreligion neben Judentum und Christentum – in Frage gestellt.
Vgl. Rezension:
https://buchvorstellungen.blogspot.com/2017/12/buch-des-monats-dezember-2017-der-islam.html
In seinem neuen Buch, – im Stil eines Essays
geschrieben – stellt er Erscheinungsweisen des Antisemitismus als weitgehend
unterschätzte Gefahr für eine freiheitlich-demokratische Gesellschaft dar. Den
erst im 19. Jahrhundert gängig gewordenen Begriff des Antisemitismus benutzt Blume darum umfassend, weil es um wesentlich
mehr geht als nur um Antijudaismus, Judenhass
und Judenfeindschaft in polemisch-theologischer Abgrenzung.. Der im 2. Kapitel des
Autors zur Sprache kommende noachitische Bund, den die Bibel beschreibt,
bezieht nämlich Judentum und Islam
gleichermaßen als Nachkommen Sems mit ein. Noch deutlicher: Dieser Noahbund ist
also ein semitisches Konzept, gegen das sich Rassisten, Judenhasser und die Verächter
der Menschenrechte in gleicher Weise wenden.
Im Einleitungsabschnitt
„Annäherungen“ kommt Blume bereits auf Ereignisse von Antisemitismus und
Judenhass, verbunden mit den Behauptungen einer Weltverschwörung des Judentums,
zu sprechen. Antisemitismus in seinen vielen Facetten tritt gegenwärtig in
Deutschland wieder stärker hervor. Man fühlt sich an Bert Brecht erinnert, der
1941 schrieb:
"So was hätt' einmal fast die Welt regiert!
Die Völker wurden seiner Herr,
jedoch dass keiner uns zu früh da triumphiert - Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch!"
Inzwischen ist aus
diesem Schoß gefährlich vieles wieder hervor gekrochen und wird durch die neuen
Medien zunehmend befeuert (S. 29). Die eigenen Erfahrungen des Autors und die
vielen Beispiele der letzten Zeit zeigen deutlich, dass es nicht nur um den europäischen
Antisemitismus, sondern auch um seine Ausprägungen in der arabischen Welt geht.
Und durch die Migration von Menschen aus dem Nahen Osten und Nordafrika mischt
sich dieser Antisemitismus mit den deutschen Varianten. Und so wird deutlich:
„Wer über Integrationsprobleme und die Verhinderung von Radikalisierungen
spricht, kann zukünftig zum Zentralproblem des Antisemitismus nicht mehr
schweigen“ (S. 24).
Die Zielrichtung des gesamten Buches geht darum von dieser bisher völlig
unterschätzten Gefahr des Antisemitismus aus, der aufs Neue mit Pseudo-Genetik,
Rassentheorien und Verschwörungsmythen arbeitet.
„Es ist Zeit, die Antisemiten genau dort zu stellen, von wo sie angreifen – auf dem Feld der Medien und medial geprägten Mythen“ (S. 31f).
Vgl.: Video-Kommentar zum Buch (YouTube): https://youtu.be/C9EV6qgExDA
„Es ist Zeit, die Antisemiten genau dort zu stellen, von wo sie angreifen – auf dem Feld der Medien und medial geprägten Mythen“ (S. 31f).
Vgl.: Video-Kommentar zum Buch (YouTube): https://youtu.be/C9EV6qgExDA
Blume unterzieht sich
nun im Kapitel 1 sorgfältig der Mühe,
die Kennzeichen des Antisemitismus auch in seinen verdeckten Formen bloßzulegen.
Dazu muss bedacht werden, dass das Medium eben nicht nur Transporteur einer
Botschaft ist, sondern als Transporteur die Botschaft selbst verändert. Das
hatte der kanadische Philosoph Marshall Mc Luhan 1967 zuerst beunruhigend
verdeutlicht: The medium is the message
(in: Understanding Media: The
Extensions of Man, 1964). Das gilt übrigens
nicht nur für die neuen Medien mit ihrer ungeheuren Breitenwirkung, sondern bezieht
sich auf die ganze geschichtliche Bandbreite zwischen antiken Tontafeln. Flugblättern
der Reformationszeit sowie Zeitungen und Zeitschriften. Denn durch die
Darstellung lässt sich Grausames relativieren, nicht Eindeutiges oder den eigenen
Vorstellungsmustern Unpassendes mit dem Geheimnis des Mythischen umgeben. In
bestimmten Ereignissen kann man Verschwörungen wittern und entsprechend
konstruieren. Man denke nur an die berüchtigten „Protokolle der Weisen von
Zion“. Die Wege sind kurz, um Verbindungen herzustellen zwischen Antisemitismus
und Antiamerikanismus, Juden als Schmarotzer und Ausbeuter von Nichtjuden
darzustellen (vgl den Film „Jud Süss, S. 82) oder Semiten als niedere Rasse zu
disqualifizieren usw.
Gerade wegen der biblischen Antisemiten (Pharao, Haman im Buch Esther) lohnt ein ausführlicher Blick auf den arabischen Islam zwischen Semitismus und Antisemitismus. Hinzu kommt aber die kulturelle Umwälzung durch den Buchdruck in Europa und die damit zusammenhängenden Veränderungen der christlichen Welt. Am biblischen Sem – als dem „Erfinder“ des Alphabets– kann man lernen, wie notwendig es ist, angesichts wortgewaltiger Ideologien intensiv oder wie der Autor sagt, „extensiv“ zu lesen. Nur so kann man den Mythen, Medien und Mächten wirkungsvoll im Blick auf die Zukunft entgegentreten.
Gerade wegen der biblischen Antisemiten (Pharao, Haman im Buch Esther) lohnt ein ausführlicher Blick auf den arabischen Islam zwischen Semitismus und Antisemitismus. Hinzu kommt aber die kulturelle Umwälzung durch den Buchdruck in Europa und die damit zusammenhängenden Veränderungen der christlichen Welt. Am biblischen Sem – als dem „Erfinder“ des Alphabets– kann man lernen, wie notwendig es ist, angesichts wortgewaltiger Ideologien intensiv oder wie der Autor sagt, „extensiv“ zu lesen. Nur so kann man den Mythen, Medien und Mächten wirkungsvoll im Blick auf die Zukunft entgegentreten.
Auf eine
wenig beachtete Tradition macht Blume darum im Kapitel 2 aufmerksam: Sems
Erfolgsgeheimnis – Das Alphabet. Hier liegt gewissermaßen ein Schüssel zum
heutigen Medienverständnis. Denn in der jüdischen Überlieferung ermöglicht Sem,
ein Sohn Noahs, den Übergang von mündlich-religiösen Überlegungen und
Narrativen zur „semitischen“ Schriftreligion. Damit kommt entscheidend zum
Ausdruck: Schriftreligionen entwickeln Welt verändernde Kräfte, setzen neben das
zyklische Zeitverständnis chronologische Vorstellungen zum Verstehen von Ereignissen.
Sie hinterfragen Mythen oder stellen sie als konstruierte Gegenbilder bloß.
„Erst die Alphabetschriften vermochten die Vorstellungen einer linearen Zeit …
für alle Glaubenden zu öffnen“ (S. 116). Damit ist Gott nicht mehr im Tempel zu
finden, sondern in der Schrift, die auch das kulturelle Gedächtnis von
Bedrohten sichert. Hier geht es konkret um das bedrohte jüdische Volk in der
Zeit von Nebukadnezar bis zum Römischen Reich. Blume betont darum die nicht zu
unterschätzende Bedeutung des Talmuds als ausführliche „Niederschreibung“ für
jüdisches Leben. Man könnte vielleicht sogar so sagen: Das Alphabet wird zum
Medienmotor: Die ursprünglich vokallosen, hebräischen und arabischen Schriften
ermöglichten eine Vielgestaltigkeit der Auslegung und des
Glaubensverständnisses. Im Islam wurde durch den 3. Kalif gegen die
variantenreichen Lesarten der „unverfälschte“ Koran durchgesetzt (S. 128). Die
Folge war, dass die Lesarten von Juden und Christen in ihrer hebräischen bzw.
griechischen und lateinischen Bibel als Verfälschung gebrandmarkt wurden. Hier
konnte nun der Antijudaismus Einzug halten. Und durch die politische Macht der
Christen im Römischen Reich und in den Nachfolgestaaten geriet das Judentum
zwischen die Fronten von Muslimen und Christen (S. 129). Das verstärkten noch
die sich etablierenden Verschwörungstheorien, die durch den Buchdruck in Europa
und auch durch Martin Luther weiter befördert wurden.
„Die
Vorstellung, dass die Militär- und Weltgeschichte von bösen, buchstäblich
ver-schworenen (durch Schwüre verbunden) Geheimgruppen aus Juden, Christen und
Muslimen bestimmt werde, setzte sich zunächst in Europa und später auch im
Orient fest“ (S. 131) und trieb immer neue Blüten, wie Blume eindrucksvoll
schildert.
Vgl. Geheimnisse der Templer:
https://buchvorstellungen.blogspot.com/2019/04/geheimnisse-der-templer-heiliger-gral.html
Geschickt
schlägt Blume schließlich den Bogen in die weltpolitische
und medienpolitische Gegenwart, wehrt sich gegen jede Art von Deutungshoheit
und zeigt, wie die Trennung von Judentum und Christentum auch antisemitische
Aufladungen (wie z.B. im Blick auf den Jesus-Jünger Judas) extrem verstärkte.
Michael Blume betont,
dass zum Umgang mit menschlicher Geschichte Pluralität und Mehrdeutigkeit Verstehenskriterien
sind. Das heißt: Weder eine „alternative Geschichtsschreibung“ noch
rassistische Deutungselemente oder weltverschwörende Semiten helfen zum
besseren Verstehen der Welt (S. 151).
„Die Zukunft ist nicht durch menschliche >Rassen< und Märchen angeblich heiler Vergangenheiten determiniert, sondern offen für jene, die lesen, forschen und schaffen“ (S. 152).
„Die Zukunft ist nicht durch menschliche >Rassen< und Märchen angeblich heiler Vergangenheiten determiniert, sondern offen für jene, die lesen, forschen und schaffen“ (S. 152).
Welche
Konsequenzen sind daraus zu ziehen? Im Kapitel 3 blickt Blume beunruhigt zurück und dennoch einigermaßen optimistisch
nach vorn. „Es gab und gibt viele Ideologien der Menschenverachtung, aber keine
ist so lange, global und intensiv ausgearbeitet worden wie die Mythologie des
Antisemitismus. Dies nicht, weil Jüdinnen und Juden bessere oder schlechter Menschen
gewesen wären, sondern weil sie den Semitismus in die Welt gebracht haben: die
Alphabetisierung von Religion und Recht und damit die Grundlagen unserer längst
globalen Zivilisation“ (S. 169). Und letztlich gilt: „Erst wenn es uns gelingt,
das Verhalten jüdischer und israelischer Menschen und Institutionen mit der
gleichen Selbstverständlichkeit zu bewerten wie das aller anderen Menschen und
Institutionen auch, ist der Antisemitismus besiegt“ (S. 175). Deshalb erinnert
Blume zum Schluss noch kurz: Israel ist ein Nationalstaat, der verfolgten und
vertriebenen Juden und Jüdinnen eine Heimat gab und gibt. Und Israel braucht
wie alle anderen Staaten Frieden mit seinen Nachbarn. Bis dahin ist allerdings
noch ein weiter Weg …, aber es gilt die Chancen des Dialogs konsequent zu
nutzen.
Zusammenfassung: Antisemitismus – die
unterschätzte Bedrohung
Wer auch immer meinte,
der Antisemitismus würde nach den entsetzlichen Bluttaten des Holocaust eher
eine Randexistenz führen, muss durch die Ereignisse der letzten Jahre höchst
alarmiert sein. Gerade Internet und soziale Medien „befeuern“ geradezu die
alten Rassentheorien, die verfälschenden theologischen Begründungen, die Verunglimpfungen
und Verschwörungsmythen. Antijudaismus wurde schon in der Antike für
christliche Theologen hoffähig. Der Antisemitismus suchte und fand passende
Belege für die Gefahr durch das scheinbar die Weltherrschaft suchende Judentum.
Und der Antisemitismus des 19. Jahrhunderts legte noch einmal kräftig nach, so
dass genügend Motivation für die Machthaber der germanischen „Herrenrasse“ bestand,
eine „Endlösung“ zu finden. Und der „besorgte Bürger“ glaubt(e) solchen „Wahr-Sagern“!
Als wäre der Holocaust nicht Warnung genug gewesen! Die Demokratie ist hier
besonders herausgefordert, damit nicht die Werte von Freiheit, Gleichheit,
Brüderlichkeit/Schwesterlichkeit unter die Räder der Erfinder „alternativer
Fakten“ geraten und damit unter den jüdischen Minderheiten in Europa neue
Verfolgungsängste schüren. Michael Blume hat auf die drohenden Gefahren
Menschen verachtender Ausgrenzung so deutlich aufmerksam gemacht, dass neutrale
Distanzierung letztlich nicht mehr möglich ist.
English Summary:
Antisemitism – the underestimated threat
Whoever have thought that anti-Semitism would rather lead a marginal existence after the horrific bloody deeds of the Holocaust must be most alarmed by the events of the recent years. It is precisely the internet and the social media which inflame the old race theories, the distorting theological justifications, the denigration and myths of conspiracy. Anti-Judaism became already socially acceptable in antiquity for Christian theologians. Anti-Semitism sought and found suitable evidence for the danger by Judaism apparently seeking world domination. And the anti-Semitism of the 19th century once again strongly increased, so that there was enough motivation for the potentates of the Germanic “master race” to find a "final solution". And the "worried citizen" of today believes such "truth tellers"! As if the Holocaust had not been warning enough! Democracy is particularly challenged here, so that the values of freedom, equality, brotherhood/sisterhood do not fall under the wheels of the fabulists of “alternative facts” and thus stir up new fears of persecution among the Jewish minorities in Europe. Michael Blume has drawn so much attention to the threatening dangers of contemptuous exclusion that neutral alienation is ultimately no longer possible.
Whoever have thought that anti-Semitism would rather lead a marginal existence after the horrific bloody deeds of the Holocaust must be most alarmed by the events of the recent years. It is precisely the internet and the social media which inflame the old race theories, the distorting theological justifications, the denigration and myths of conspiracy. Anti-Judaism became already socially acceptable in antiquity for Christian theologians. Anti-Semitism sought and found suitable evidence for the danger by Judaism apparently seeking world domination. And the anti-Semitism of the 19th century once again strongly increased, so that there was enough motivation for the potentates of the Germanic “master race” to find a "final solution". And the "worried citizen" of today believes such "truth tellers"! As if the Holocaust had not been warning enough! Democracy is particularly challenged here, so that the values of freedom, equality, brotherhood/sisterhood do not fall under the wheels of the fabulists of “alternative facts” and thus stir up new fears of persecution among the Jewish minorities in Europe. Michael Blume has drawn so much attention to the threatening dangers of contemptuous exclusion that neutral alienation is ultimately no longer possible.
Résumé
français: L'antisémitisme – la menace sous-estimée
Il est necessaire d’être très alarmé face aux évènements des dernières
années. L’antisémitisme ne mène pas une existence marginale après les horribles
meurtres de l'Holocauste. C'est précisément l’internet et les médias sociaux
qui "alimentent" les vieilles théories raciales, les manipulantes justifications
théologiques, le dénigrement et les mythes du complot. L'antijudaïsme est
devenu convenable pour les théologiens chrétiens dès l’antiquité. L'antisémitisme
a cherché et a trouvé des “preuves adéquates” du danger que le judaïsme cherche
apparemment la domination mondiale. Et l'antisémitisme du XIXe siècle a de
nouveau fortement augmenté, de sorte que les dominateurs de “la race des maîtres
germanique” étaient suffisamment motivés pour trouver une "solution
finale". Et le "citoyen préoccupé" d’aujourd’hui croit des pareils
"narrateurs de la vérité”! Comme si l'Holocauste n'aurait pas éte une mise
en garde suffisante! La démocratie est ici particulièrement remise en cause,
afin que les valeurs de liberté, d'égalité, de fraternité ne tombent pas sous
les roues des fabulateurs des “faits alternatifs” et n'engendrent pas de
nouvelles craintes de persécution parmi les minorités juives en Europe. Michael
Blume a tellement attiré l'attention sur les dangers menaçants de l'exclusion
méprisante que la distanciation neutre n'est plus lomgtemps possible.
Vgl. ergänzend:
>>> "Judentum - grundsätzlich, historisch, regional" >>>
>>> Suhrkamp-Verlag: 11 Bücher zum Thema "Antisemitismus"
Vgl. ergänzend:
>>> "Judentum - grundsätzlich, historisch, regional" >>>
>>> Suhrkamp-Verlag: 11 Bücher zum Thema "Antisemitismus"
Rezension von "Islam in der Krise" (2017) >>>
Verlagsinformation, s.u.
Verlagsinformation, s.u.
Reinhard Kirste
Zum Thema: Michael Blume im Gespräch mit INTR°A, 03.09.2021 (Video)
Weitere Bücher von Michael Blume
Rz-Blume- Antisemitismus, 30.04.2019
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