Sonntag, 14. Januar 2018

Djihad und Tod: Der radikale Weg in den Terrorismus (aktualisiert)

Olivier Roy: Le djihad et la mort.
Paris: Seuil 2016, 176 pp. --- ISBN 9782021327045 ---

Verlagsinformation: hier

Deutsche Ausgabe: “Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod. Der Dschihad und die Wurzeln des Terrors. München: Siedler (Random House) 2017, 176 S.
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ISBN 9783827500984 ---
Verlagsinformationen: hier 

 

 




 

Der Politologe  Olivier Roy, 

 Forschungsdirektor
 am CNRS in Paris, 
 unterrichtet zugleich
 am Europa-Institut Florenz.

 Seine vielen Publikationen nehmen immer wieder Bezug auf die aktuellen Entwicklungen in der islamischen Welt und ihre Folgewirkungen in Europa. Das zeigen bereits seine bisherigen Veröffentlichungen seit
über einem Jahrzehnt.
Vgl. die Besprechungen: https://buchvorstellungen.blogspot.de/search?q=Olivier+Roy

und das Interview mit Olivier Roy zum Thema des Buches (Le Temps, 14.10.2016) 

Aufgrund seiner scharfsinnigen Analysen ist es darum zu begrüßen dass der hier zu besprechende Titel auch ins Deutsche übersetzt worden ist. In der deutschen Titel-Überschrift wird bereits auf die starke Motivation islamistischer Gewalttäter hingewiesen.
Vom Djihad zum Djihadismus
In seinem Essay sieht Olivier Roy seit 1995 im Vergleich zu vorherigen Anschlägen eine systematische Zunahme eines umfassenden Terrors im Sinne einer Neubewertung des „Djihad“ als „Djihadismus“, die seit etwa 1950 mit dem islamischen Theoretiker Said Qutb eingeleitet wurde (S. 26, franz. Ausgabe). Er forderte eine Rückkehr zum wahren und echten Islam, den auch die meisten islamischen Staaten verraten haben. Erst langsam entwickelten sich in diesem „djihad“-Verständnis terroristische Tendenzen.
Dies ist die theoretische Basis, auf der Roy besonders die schnelle Verbreitung des „Islamischen Staats“ (IS/ISIS /DAECH) und der brutalen Umsetzung seines politischen Machtanspruchs beschreibt. DAECH ist übrigens die arabische Abkürzung für „Islamischer Staat im Irak und in der Levante“ (ISIS). Der Autor legt dabei den Fokus auf Frankreich. In den anderen europäischen Ländern spielt z.T. noch eine Rolle, dass eine Nation speziell verunsichert werden sollte: London (seit 2005) und Madrid (2004).
Entwicklungen
Zur Erinnerung: 1995 verübte Khaled Kelkal (erschossen 29.09.1995) teilweise zusammen mit anderen Gleichgesinnten eine Serie von Anschlägen (11.07. / 25.07./ 06.10. und 17.10. 1995 sowie Dezember 1996 in Paris / August 1995: im TGV und in Lyon). Es folgte im Dezember 2000 ein missglücktes Attentat auf dem Straßburger Weihnachtsmarkt.
Mit dem Jahr 2012 kristallisierten sich die Attentate Toulouse, Montauban am 11./15./19.03.2012 um die Schlüsselfigur Mohammed Merah (erschossen, 22.03.2012). Weltweite Erschütterung brachten schließlich die Terrorangriffe auf die Satirezeitschrift Charlie Hebdo (07.01.2015), auf das Pariser Vergnügungszentrum Bataclan (13.11. 2015) und der Lastwagenangriff während der Feierlichkeiten am Jahrestag der französischen Republik in Nizza (14.07.2016). Auffällig ist dabei, dass sich faktisch alle Terroristen selbst in die Luft gesprengt haben oder von der Polizei erschossen wurden. Mohammed Merah wiederholte ein Osama bin Laden zugeschriebenes Wort variantenreich: „Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod“. Hier wird der den Tod riskierende Terrorist mit dem Glanz des heldenhaften Märtyrers umgeben. 
Ursprünglich schien er für eine „gerechte Sache“, nämlich im Widerstand gegen (westlichen) Kolonialismus und machthungrige Diktatoren anzutreten. Jedoch betont Roy, dass die gewaltsame Radikalisierung nicht die Konsequenz religiöser Radikalisierung sein muss, selbst wenn sie sich oft der Wege und Paradigmen des Islam bedient, vielmehr ist es eine „Islamisierung der Radikalität“ (S. 18, franz. Ausgabe). Religiöser Fundamentalismus schlägt nicht automatisch in politische Gewalt um, aber apokalyptische Visionen mit der entscheidenden Endzeitschlacht (Harmageddon) für die wahren Gläubigen gewinnen mehr und mehr an Boden. Allerdings muss man festhalten, dass absolut Glaubende im Judentum und im Christentum zwar oft die sie umgebende moderne, säkulare gottlose Gesellschaft verurteilen, ohne jedoch gewalttätig zu werden.
Radikalisierung und Terrorismus: Die Verbreitung von Angst
Auch wenn in den letzten Monaten der IS faktisch zurückgedrängt wurde, vielleicht sogar weitgehend militärisch besiegt ist, so spielen seine Protagonisten weiterhin bewusst mit der Angst der Menschen. Der islamistische Terror schürt  zugleich Ängste vor „dem“ Islam als weltweite Bedrohung. Es sei angemerkt, dass der Anschlag auf dem Berliner Weihnachtsmarkt 2016 mit gleicher Motivation erfolgte. Immer wieder geht es darum, den Konflikt zwischen der Sicherheit der Bürger und dem Verhalten des Rechtsstaates auf die Spitze zu treiben und so die Angst vor der scheinbaren Ohnmacht des Staates zu schüren.
In eine ähnliche Richtung argumentiert übrigens auch der Psychologe Fethi Benslama. Allerdings betont er, dass das Politische konsequent auf das Religiöse reduziert wird und von hier die Zunahme der Gewalt ausgeht.
Vgl. Fethi Benslama und die Radikalisierung des Islam:
https://buchvorstellungen.blogspot.de/2016/11/vorankundigungen-fethi-benslama-und-der.html
Angesichts der tatsächlichen Bedrohungslage und ihrer eigenen Untersuchungen vertreten Gilles Kepel und François Burgat eine entgegengesetzte Position zu Roy: Sie sehen die Gewalt in Grundstrukturen eines Islam der Frühzeit begründet. Dieser soll nun revitalisiert werden. So versuchen sie, mit allen Mitteln gegen die Ungläubigen im Orient und Okzident vorzugehen.
Vgl. die zahlreichen Veröffentlichungen von Gilles Kepel: http://www.gallimard.fr/searchinternet/advanced?all_title=Kepel&SearchAction=1
und François Burgat: http://www.ifporient.org/francois-burgat
Universaler Machtanspruch und Globalisierung
Sofern aber die These Olivier Roys zutreffend ist, dass die Religion von islamistischen Gewalttätern dazu benutzt wird, bereits innerlich radikalisierte Menschen zu gewinnen, sieht sich der Autor durch die ideologischen Vorgaben des sog. Islamischen Staats bestätigt, der sich in vielen seiner Aktionen auf die Grundelemente des Islam bezieht . Viele der Täter sind (junge) Erwachsene, die z.T. erst spät zum Islam konvertiert sind und als Europäer – z.T. mit elterlichen Wurzeln in der arabischen Welt – bisher keinerlei Kontakt dorthin hatten. Soweit sie dann als Milizionäre und Selbstmordattentäter in den Nahen Osten gegangen sind, haben sie oft mit ihren Familien völlig gebrochen.
Insgesamt legt sich der Schatten Osma bin Ladens und des al-Qaida auf alle später entstandenen Gruppierungen, auch wenn der IS schließlich mit al-Qaida brach. Die Ursache liegt darin, dass der IS die regionale Begrenzung bisheriger Widerstandsgruppen und gewalttätiger „Revolutionäre“ durchbrach. In Afghanistan/Pakistan, Libanon, Nordirak Syrien, Maghreb und Subsahara-Afrika waren/sind dies in der Regel regional agierende Gruppen. Der IS wollte jedoch ein globalisiertes und internationales „Kalifat“ positionieren. Die anfänglich großen Landgewinne im Irak und Syrien schienen diese militärisch durchgesetzte Politik zu bestätigen – verschärft durch die brutale Folterung und Tötung aller – gerade auch muslimischer – Gegner. Roy nennt dies den Eintritt in den „globalen djihad“ (S. 139ff, französische Ausgabe), der jedoch faktisch nicht gelingt. Die weitere Entwicklung nach dem Erscheinen seines Buches zeigt sehr klar die von Roy bleibende territoriale Begrenzung des IS, die weiter zugenommen hat. Der IS ist nämlich inzwischen in die gefährlichste geostrategische Konfliktlinie zwischen Saudi-Arabien (sunnitisch) und dem Iran (schiitisch) geraten (vgl. S. 149f  mit den Hinweis auf Roys Buch: Le Croissant et le Chaos, 2007). Er wird angesichts des Kampfes um die Vorherrschaft im Nahen Osten inzwischen als das kleinere Übel angesehen. Auch dies bestätigt die gegenwärtige Entwicklung im Mittleren Osten.
Damit gerät auch die „Vision“ des IS/Daech, den Westen zu erobern, in den Hintergrund. Das islamische „Lager“ ist weltweit zerrissen wie noch nie. Gerade der Islam in Europa ist in einem bisher nicht dagewesenen Umbruch zwischen Reform und Salafiyya.
Radikalisierung – ob „links“, „rechts“ oder „religiös“– ist zuerst immer Radikalisierung einzelner – so Olivier Roy. Ihre Ursachen sind höchst komplex. Aber solche persönlichen Lebens-“Zuspitzungen“ führen oft recht schnell in gesellschaftspolitische Bahnen. Denn die Radikalen sind zugleich die Militanten. Sie haben keine Angst vor Gefängnis oder Tod, aber sie möchten ihre/die Vergangenheit mit allen Mitteln sichern. Auf ihrem Weg gibt es keinerlei Irrtum. Olivier Roy formuliert darum als Wunsch, dass der Radikale im Unbekannten bleibt (S. 167, französische Ausgabe).

Aktuelle Folgerungen
Folgt man dieser Logik des Autors, dann könnte eine Folgerung sein, den brutalen Terror nicht zu plakativ in den Medien zu verbreiten. Das bedeutet nämlich faktisch, das Gewaltpotential der Radikalen zu stärken und ihnen eine entsprechende Bühne zu bieten. Zugleich muss der Radikalisierung einzelner vor Ort durch Prävention unbedingt entgegengewirkt werden.
Es lohnt sich, über diese Thesen des Autors nachzudenken. Eine endgültige und voll befriedigende Antwort aber kann es wohl nicht sein, aber das hat Olivier Roy mit diesem Essay auch nicht erwartet.


Vgl. auch Jean Birnbaum: la religion des faibles.
Ce que le djihadisme dit de nous. Paris: Seuil 2018, 283 pp.
--- Rezension: hier
Reinhard Kirste

Rz-Roy-djihad, 10.12.17 



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