Montag, 14. Januar 2019

Jean Birnbaum: Der "Djihadismus" - Herausforderung für den Westen

Jean Birnbaum: La religion des faibles.
Ce que le djihadisme dit de nous.
Paris: Seuil 2018, 283 pp. --- ISBN 978-2-02-13469-7---

Die Religion der Schwachen.
Was der Djihadismus über uns aussagt.

Jean Birnbaum ist bei der renommierten liberalen Tageszeitung „Le Monde“ verantwortlich für das Feuilleton Le Monde des livres.
Er ist ein Mann deutlicher Worte. Diesem Essay war schon ein Angriff auf die Blindheit der politischen Linken vorangegangen: Un silence religieux. La gauche face au djihadisme (Seuil 2016). In diesem Buch holt der Autor weiter aus: Die sozialistischen Visionen – gerade in ihrer Befürwortung durch die „Linken“ im Westen – haben trotz ihrer schlimmen Realisierungen (z.B. in der Sowjetunion) dazu geführt, dass der westliche Liberalismus als solcher unglaubwürdig wurde. 
Und so hat sich im Orient eine Gegenbewegung entwickelt, in der sich
     der Westen spiegelt. Denn „der Gläubige ist selbst der Spiegel
     des Gläubigen“, das heißt: er spiegelt sich selbst, aber was sieht er dann? 

     Dahinter steht die Identitätsfrage: Wer sind wir wirklich? 

Der Autor beschreibt zuerst diejenigen, die die Vorherrschaft gegen den Westen mit all seiner Dekadenz und seinem Dominanzgehabe gewinnen wollen. Diese Haltung lebt von der nicht mehr zu hinterfragenden Überzeugung der Zukunft eines göttlichen Reiches (auf Erden) und der Rechtfertigung jeder Gewalttat. Jedoch die westlichen Werte – geprägt von Pluralität, Freiheit und Demokratie – werden durch den „Djihadismus“, den gewalttätigen Islam, in Frage gestellt. Das rührt auch daher, dass gerade die politische Linke den islamistischen Terrorismus teilweise entschuldigend erklärt und auch versäumt hat, etwa die stalinistischen Verbrechen anzuprangern. So hat die sozialistisch einseitige postkoloniale Kritik an den Ausbeutungsstrukturen vergangener westlicher Imperien faktisch dem Islamismus in die Hände gespielt. Dieser spiegelt jedoch in seiner Gewaltsamkeit ebenfalls nur die Schwäche des eigenen antiwestlichen Hoffnungsglaubens wieder.
 Darauf macht  übrigens auch der Politik- und Religionswissenschaftler Michael Blume in seinem Buch
„Islam in der Krise“ (2017) aufmerksam: 

https://buchvorstellungen.blogspot.com/2017/12/buch-des-monats-dezember-2017-der-islam.html

Nun kann man angesichts der islamistischen Terrorakte (besonders seit dem 11. September 2001) nicht mehr zur Tagesordnung der Mittelmäßigkeit und des Schönredens übergehen, wie das die politische Linke (gerade in Frankreich) betreibt. Erstaunlich ist bei dieser Polemik, wie der Autor nicht zu bestreitende Auswüchse einer liberalen demokratischen Kultur schnell als dekadent kritisiert. Und der dazu gehörende universale Sozialismus, einschließlich der Sozialdemokratie, sei ins Partikularistische abgerutscht („un particularisme local“, S. 31). So kann die Zunahme religiös motivierter Gewalt gegen den Westen als Gegenmodell nicht mehr wegdiskutiert oder vertuscht werden. Der Islamismus hat den Zweifel an den westlichen Werten gesät, weil dieser Universalismus selbst die Geister rief, die nicht mehr verschwinden wollen.
In 5 Abschnitten und Schlussfolgerung – mit mehr grundsätzlichen „Zwischenspielen“ und angereicherten Beispielen – beruft sich Birnbaum zur Stützung seiner eigenen Thesen auf Philosophen und Schriftsteller, die die Debatten z.T. heftig polarisierten, z.B. Emmanuel_Todd (geb. 1951), Edward_Said (1935-2003), Jean-Paul_Sartre (1905-1980) und Jacques_Derrida (1930-2004).
In Kapitel 1: „Der Löwe und die Möwe. Wer ist der Unterdrückte?“ beschreibt der Autor, wie angesichts entsetzlicher Ereignisse von der Rushdie-Affäre (1989) bis zu Charlie Hebdo (2015) und Bataclan (2015)  der Islamismus deshalb zum Totengräber der Linken wird, weil z.B. der sog. Islamische Staat jedes „im Namen des Islam“ begangene Blutbad für sich beansprucht. Zugespitzte Kritik, seien es Feministinnen, Atheisten, Homosexuelle, Journalisten und Schriftsteller können seitdem z.T. nur noch im Geheimen oder unter Polizeischutz wirken. Das gilt aber auch für diejenigen, die Zweifel an den dann regelmäßig folgenden großen Solidarisierungsaktionen für die Opfer äußern (z.B. „Ich bin Charlie“). Hier sieht man überdeutlich, wie der Islamismus eine große gesellschaftliche Verunsicherung des Westens spiegelt = schwacher Glaube des Westens!
Diesen Gedanken verstärkt das 2. Kapitel: „Wir sind alles, wir sind nichts!“ das in die pessimistische Aussage mündet, dass Europa „das große Nichts“ sei.
In Kapitel 3 „Europa oder die Barbarei“ rechnet der Autor mit Karl Marx und dem Kommunismus ab, besonders in der russischen Spielart.
Kapitel 4 hat dann den „alten Westen“ der Christen, Sozialisten und Demokraten im Visier. Denn die technische Revolution, die Dialektik des spirituellen und nationalen Erbes, der bürgerliche Aktivismus, die „Zirkulation“ der Aufklärung, all das ist typisch „Europa“. Auf diesem Nährboden entfaltet sich die Arbeiterbewegung im Kontext solcher speziellen Erfahrungen des „Alten Kontinents“ (S. 173). Es entsteht das Bild einer Gesellschaft, die selbst höchst fragil und verwundbar ist.
In Kapitel 5: „Die sexuelle Hölle ist die unsere“ wundert man sich denn doch, wie die sexuelle Freizügigkeit, homosexueller „Imperialismus“ und ein überbordenden Relativismus die Hauptursache für islamistische (Gewalt-)Politik sein soll. Hier münden die herausfordernden Thesen Birnbaums in einen Neo-Konservatismus, der geradezu eine Steilvorlage für die religiösen Fundamentalisten in Europa wäre, aber sie gehören ja auch zu den schwachen Gläubigen!
Bilanz:
Die traurige Gegenwartslage des Westens – wie sie Birnbaum sieht – ist wie eine „Quittung“, die ein gewaltbereiter und religiös sich verstehender Islamismus den schwachen Gläubigen in Europa präsentiert. Man hätte gern gewusst, um welche Religion es sich da eigentlich handelt, zumal der Islam nicht nur aus Bannflüchen gegen Abweichler in den eigenen Reihen und gegen den dekadenten Westen besteht. Stattdessen macht Birnbaum die "linken Postkolonialisten", diese schwachen Gläubigen, verantwortlich. Diese würden islamistische Unruhen und Gewalttaten als Folge der Leiden, die der kolonialistische Okzident dem Orient angetan hat, auch noch entschuldigen. Der beunruhigte Autor, lehnt deshalb die universale Vision ab, die in einem Sozialismus mit menschlichem Gesicht aufscheint und mit dem Prager Frühling beinahe Realität geworden wäre (Vgl. MDR-Zeitreise, 19.08.2018): https://www.mdr.de/zeitreise/ddr/prager-fruehling-der-versuch-dem-sozialismus-menschlichkeit-zu-verleihen100.html

Es wirkt wenig glaubensstark, Annäherungen an sozialistische Konzeptionen im Westen generell als „Religion der Schwachen“ zu disqualifizieren. Man hätte schließlich gern gewusst, wer denn die Starken sind.

Zusammenfassung: Der „Djhadismus“ als Herausforderung für den Westen
Jean Birnbaum von der liberalen Tageszeitung „Le Monde“ beschreibt die verführerische Tendenz eines gewaltbereiten Islam: „Djihadismus“, der die westlichen Werte wie Demokratie, Freiheit und Pluralität mit einer fundamentalistisch-religiösen Vision in Frage stellt. Diese Werte galten bisher als universal, werden aber nun von den „Djihadisten“ als dekadent gebrandmarkt. Mitverursacher eines solchen Aufbegehrens ist besonders diejenige politische Linke, die die Verbrechen des Kommunismus kleinredet und das Aufkommen islamistischer Gewalt mit der Ausbeutung und Unterdrückung des Kolonialismus entschuldigend erklärt. Die schwachen Gläubigen des Westens sollten also in den Spiegel schauen, um zu erkennen, warum man nicht in der Lage ist, dem weit verbreiteten „Djihadismus“ kraftvoll entgegenzutreten. Da aber Gewaltaktionen ebenso Zeichen der Schwäche sind wie linksliberale Erklärungsversuche für eine religiös aufgeheizte Weltsituation, fragt man sich nicht nur, welche Religion bzw. welchen Islam der Autor eigentlich meint, sondern auch wer in dieser verfahrenen Gemengelage eigentlich die Starken sind.
English Summary: The "jihadism" – challenge for the West
Jean Birnbaum of the liberal newspaper Le Monde describes the seductive tendency of a violent Islam: "jihadism" has challenged Western values such as democracy, freedom and plurality by a fundamentalist-religious vision. These values were previously considered universal, but are now branded as decadent by the "jihadists". One of the causes of such an uproar is the political left who talks down the crimes of communism and excuses the emergence of Islamist violence with the exploitation and oppression of colonialism. The weak believers of the West should therefore look into the mirror to see why they are unable to oppose forcefully the wide spread "jihadism". But because violence is as much a sign of weakness as left-liberal attempts of  explanation for a religiously heated world situation, one wonders not only what religion or which Islam the author really means, but also who are – in this confused situation – actually the strong.
Résumé français: Le "djhadisme" – défi à l’Occident
Jean Birnbaum du quotidien libéral Le Monde décrit la tendance séduisante d'un islam violent: le "djihadisme” met en doute les valeurs occidentales telles que la démocratie, la liberté et la pluralité avec une vision fondamentaliste-religieuse. Ces valeurs, jadis considérées comme universelles, sont maintenant qualifiées comme décadentes par les "djihadistes". Une des causes de ce tumulte est la gauche politicienne qui minimise les crimes du communisme et excuse l’émergence de la violence islamiste par l’exploitation et l’oppression du colonialisme. Les faibles croyants occidentaux devraient donc regarder dans le miroir pour comprendre pourquoi ils sont incapables de s'opposer avec force au "djihadisme" largement partagé. Mais comme la violence est autant un signe de faiblesse que les tentatives de la gauche libérale pour expliquer une situation mondiale échauffée, on se demande: quelle religion ou quel islam concerne l’auteur – et aussi: qui sont réellement les forts dans cette situation désordonnée?
Reinhard Kirste

Rz-Birnbaum-Religion-Faibles, 14.01.2019

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