Jörg Ernesti / Markus Moling
/ Martin M. Lintner (Hg.):
Weltereignis Reformation / Evento
Riforma.
Anstöße
und Auswirkungen.
Brixener Theologisches Jahrbuch
--- Annuario Teologico Bressanone, 7. Jg. /
Anno 2016
Innsbruck-Wien: Tyrolia 2017, 256 S., Abb.
--- ISBN 978-3-7022-3603-8 ---
Die
Veröffentlichungswellen angesichts der vielen Reformationsfeiern 1517–2017 mit
dem Focus Wittenberg sind abgeklungen. Da lohnt ein Blick zurück in eine
Region, die man nicht gerade mit Luther verbindet: Südtirol. Die
Philosophisch-Theologische Hochschule in Brixen (PTH) brachte im Rahmen ihrer
Jahrbücher schon frühzeitig einen bemerkenswerten Band heraus. Die dortigen
ProfessorInnen gedachten in besonderer Weise im Verbund mit den Universitäten
Trient, Bozen und Innsbruck des Reformationsjahres: Sie untersuchten
historische, kunsthistorische, theologische und spirituelle mittelalterliche
Beeinflussungen und Folgewirkungen dieses „Weltereignisses“.
Dies klingt bereits im
Geleitwort des Bischofs von
Bozen-Brixen, Ivo Muser, an. Er
betont, wie die protestantische Reformation die katholische Theologie im
Gefolge des Trienter Konzils wesentlich beeinflusst hat. Der ev.-luth. Pfarrer
von Bozen, Marcus Friedrich, verweist
auf die erstaunlichen Initiativen in
Südtirol zum Reformationsjahr und sieht selbstkritisch, dass durch die
Kirchenspaltung den Kirchen der Reformation auch viele „geistliche Kostbarkeiten“
verloren gingen.
Was als katholisch-evangelischer
Stolperstein scheinbar offen zutage liegt, ist die Marienverehrung. In seinem zweiten Beitrag zeigt Christoph J. Amor darum, wie tief die
Marienverehrung in der katholischen Tradition verwurzelt ist. Aber der Autor
betont im Blick auf Konzilsbeschlüsse seit dem Vaticanum II zugleich, dass die
Maria von der Christologie her gesehen werden muss. Insofern gewinnt sie als
gläubige Hörerin des Gotteswortes, Beterin und spirituelle Pilgerin eine Vorbildfunktion.
Die Bezeichnung „Gottesmutter“ ist darum im Sinne Karl Rahners als Mariens
„frei-personale“ Offenheit für das göttliche Heilsangebot zu verstehen (S. 41).
Nicht verwunderlich
ist, dass in Brixen auch Nikolaus von
Kues ins Bild rückt. Er war u.a. Kardinal von Brixen, und hatte dieses Amt
neben seinen vielen anderen Ämtern und Pfründen zwischen 1450 und1458 inne:
Seine Zeit lässt
unter kunstgeschichtlichen Aspekten Leo Andergassen, der Direktor des
Südtiroler Landesmuseums Schloss Tirol, Revue passieren. Als Beispiele wählte
er neben dem Passions-Bildprogramm
der Kirche St. Johann in Mellaun eine Reihe von weiteren Kirchen der Region
sowie in Brixen. Unter der Ägide des Malers Leonard von Brixen fordern die
Darstellungen dazu heraus, sich auf das Passionsgeschehen im Sinne einer „imitatio Christi“ einzulassen. Diese Kreuzestheologie ist zugleich auf die
Eucharistie fokussiert.
Der Trienter
Dogmatiker Cristiano Bettega stellt
den Theologen Girolamo Seripando
(1493–1563) vor, der mit seiner reformorientierten Theologie das Trienter Konzil
wesentlich beeinflusste. Er war übrigens Generalprior des
Augustiner-Eremitenordens, dem auch Luther in seiner Klosterzeit angehörte. Eine gewisse Nähe zu Luthers Freiheitsverständnis- und
Rechtfertigungslehre ist nicht zu übersehen. Auch wenn Seripando theologische
Gegenpositionen aufbaute, war für ihn doch die Reform der Kirche ein entscheidendes Anliegen.
In den
Gesamtzusammenhang der Reformation führt der Augsburger Kirchenhistoriker Jörg Ernesti ein. Von der heutigen Vielfalt des Christentums und den
theologischen „Urimpulsen“ Luthers gleichermaßen ausgehend kommen die reformierten
Kirchen sowie die Entwicklung der Freikirchen weltweit in den Blick. Er
resümiert mehr holzschnittartig: „Gemeinsam ist den >evangelischen<
Kirchen bei aller Verschiedenheit die zentrale Bedeutung des Gotteswortes, die
Betonung der religiösen Erfahrung, das Engagement von Laien und ein im
Vergleich zum Katholizismus und zur Orthodoxie weniger stark entwickeltes Amt“
(S. 101).
Das ökumenische
Gespräch, genauer das katholisch-evangelische prüft der Alttestamentler Ulrich Fistill (PTH) an der Bedeutung des biblischen Kanons im Sinne seiner
Verbindlichkeit als Heilige Schrift. In den ökumenischen Debatten seit den 60er
Jahren des 20. Jahrhunderts war dies eher ein Randthema, obwohl es einen durch
die sog. deuterokanonischen Schriften weiteren „katholischen“ und einen auf die
hebräische Bibel engeren „evangelischen
Kanon gibt. Hier bleibt ein bis heute ungelöstes Dilemma protestantischer und
katholischer Bibelausgaben, die sich mit ihren neuesten Bibelausgaben wieder
stärker auf Luther bzw. auf die Septuaginta-Tradition berufen. Für die meisten
Christen dürfte dies jedoch wohl ein Randthema bleiben …
Dass mit Luther auch
ein neues Verständnis des Individuums
in Erscheinung zu treten schien, diskutiert Martin
M. Lintner (PTH) sowohl am Leben und Wirken des Reformators als auch an
seinen Schriften. Er zieht dazu die unterschiedlichen Einschätzungen innerhalb
der protestantischen Theologie heran. Die spätmittelalterliche via moderna und die Innerlichkeit
betonende devotio moderna
begünstigten zumindest eine Haltung, die das Seelenheil nicht mehr direkt mit
der Kirche verknüpfte. Gott hat den Menschen in seiner Barmherzigkeit – allein
aus Gnade schon gefunden, so dass er vor
Gott als Gerechter und Sünder zugleich auf neue Weise zu sich selbst
findet.
Mit dem
US-amerikanischen Philosophen Alvin
Carl Plantinga (geb. 1932) beschäftigt sich der Philosoph Winfried Löffler (Universität Innsbruck), weil seine
Religionsphilosophie die Frage nach der Rationalität des religiösen Glaubens vehement aufwirft. Seine
zentrale These einer „Reformierten Erkenntnistheorie“ ist: „Religious belief
can be properly basic“ (S. 144). Ausgeführt bedeutet dies, dass naturalistische
Positionen irren, wenn sie ohne den Glauben an Gott auszukommen meinen, oder behaupten,
mit Hilfe der Evolutionstheorie kognitive Fähigkeiten erklären zu können. Aber selbst wenn man wie Plantinga versucht,
die Beweislast umzukehren, bleiben offensichtlich theologische Voraussetzungen im
Stile von Descartes leitend.
Der Aufsatz des Sozialwissenschaftlers Walter A. Lorenz (Freie Universität Bozen) geht dagegen von den Säkularisierungstendenzen der Gegenwart
aus. Sie sind aus dem Kontext spätmittelalterlicher
Transformationsprozesse erwachsen. Luther ist dafür ein herausragendes
Beispiel, denn „die Reformation eröffnete grundsätzlich einen anderen Zugang
zur Moderne und zur Säkularisierung, indem sie den Menschen dazu befreite, ihre
Intelligenz und Erkenntnis weltlicher Zusammenhänge einzusetzen, ohne dass
dadurch die Bedeutung Gottes und seines Wesens in Frage gestellt würde“ (S.
166). Luthers Betonung des fernen Gottes und die Begrenzungen und
Schuldhaftigkeit angesichts der Verantwortung für die Welt machen die Vergebung
zu einem Schlüssel für ein glaubwürdiges Leben. Das ist eine bleibende
Spannung, der auch Luther durch seine politische Einflussnahme erlegen ist.
Durch die reformatorische Ablehnung bisherigen kirchlichen
Rechts und der Kirche als
Rechtsgemeinschaft (man denke an die Verbrennung von Texten des Corpus Iuris Canonici durch Martin
Luther), stellte sich die Frage neu, welches Recht denn nun gelten sollte. Der
Kirchenrechtler Michael Mitterhofer
(PTH) verfolgt die reformatorische Konsequenz weiter, dass die evangelische Kirche
als Heilsgemeinschaft keine Rechtsgemeinschaft sein kann (S.173), das heißt sie
braucht kein Kirchenrecht. Diese Ablehnung führte faktisch dazu, dass landesherrliches
Recht im Protestantismus „gültig“ wurde. Und mit der Zeit – auch angesichts des
Nationalsozialismus – entwickelten sich entsprechende kirchliche Ordnungen. In
der katholischen Kirche hielt sich jedoch der Gedanke durch, dass die
Gemeinschaft als Gottesvolk in der Gemeinde und die gleichzeitige Teilhabe an
der Gesamtkirche eine eigenständige “rechtliche Relevanz“ haben (S. 181). Dies
dürfte weiterhin ein Anstoß im ökumenischen Gespräch bleiben.
Im Zusammenhang der vielen Veröffentlichungen zum Reformationsjahr
kam auch immer wieder Luther als Mystiker zur Sprache. Der Philosoph Markus Moling (PTH) bezieht sich
besonders auf den Einfluss des Dionysius
Areopagita auf Luther. Das heißt, es geht auch um den neuplatonischen
Einfluss auf die reformatorische Theologie. Luther selbst hält den Areopagiten
für schädlich, obwohl der Reformator die platonische Philosophie nicht
kritisiert. Vielmehr zeigen selbst Luthers Schlüsselbegriffe – der unfreie
Willen, der verborgene und offenbare Gott – eine Haltung von Distanz und Nähe zu Dionysius.
Zwischendurch wird es
praktisch: Der Pastoraltheologe Alexander
Notdurfter (PTH) spricht die Reformprojekte
der Diözesansynode Bozen-Brixen von 2013–2015 an. Angesichts tiefgreifender
Umbrüche müssen auf der Basis des Vertrauens manche Experimente zum Normalfall
werden und weiterhin kirchenpolitische Entscheidungen getroffen werden. Zuvor
ist jedoch ein intensiver Kommunikationsprozess nötig.
Die Schluss-Beiträge
nehmen noch einmal zentrale reformatorische Impulse auf: Die Neutstamentlerin Maria Theresia Ploner (PTH) wagt im
Anschluss an Martin Luther eine „gesamtbiblische Kardiologie“. Sie sieht mit
Überlegungen zum Herzen als dem menschlichen Zentrum des Fühlens und Wollens
ein unmittelbares Gottesverständnis nahekommen. Dies lässt sich auch mit der in
Auschwitz ermordeten Jüdin Etty Hillesum sagen. Im menschlichen Herzen
realisiert sich die Begegnung mit Gott positiv oder negativ (S. 219). Es wird
im biblischen Sinne zum “Memorialort der Weisung Gottes, damit der Mensch sein
Leben bewältigen kann“ (S. 220).
In durchaus ähnliche
Richtung geht der Systematiker Markus
Schmidt SJ (Universität Innsbruck), wenn er Martin Luther als leidenschaftlichen Gottsucher beschreibt. Der junge
Luther wird in des Wortes doppelten Sinn vom Blitz erleuchtet (durch das
Erlebnis des Gewitters in der Nähe von Erfurt). Das führte ihn im Kontext
seiner religiösen Erfahrung zur Auseinandersetzung mit der römischen Kurie und
bedauerlicherweise auch zum Bruch mit der „alten“ Kirche, und zwar um des
Evangeliums willen. Die (katholische) Kirche zwischen Mittelalter und Neuzeit
hätte ihn dringend gebraucht. Die Kirchenspaltung ist Schuld beider Seiten,
denn sie zeugt von der Unfähigkeit aller Beteiligten, „Konflikte konstruktiv
auszutragen“ (S. 231). Der ökumenische Friedensgeist des Nikolaus von Kues
hätte hier vielleicht gut getan ...
Im Zusammenhang theologischer Kapitalismuskritik hat es
auch der letzte Beitrag des Sozialethikers Michele
Tomasi (Theologischen Akademie Brixen) in sich. Er nimmt die
Wirtschaftsethik von Max Weber gewissermaßen als Ankerpunkt. Von dort stellt er
den Geist des gegenwärtigen globalen Kapitalismus der göttlichen Gnade
gegenüber. Sie nötigt zu einer Revision des theologischen Denkens in Hinsicht
auf eine vielfältige Gesellschaft („un pensiero teologico rivolto alla
società“, S. 247), die sich der Komplexität der Wirklichkeit bewusst ist. Diese
Revision nötigt zur Abkehr von Profit- und Gewinnmaximierung hin zu einem Geist
freier Menschlichkeit als (Gottes-)Geschenk und zugleich offen zur Transzendenz.
Bilanz: Eine katholische reformoffene
Vielgestaltigkeit tritt den Lesern in diesem Band der Brixener Hochschule entgegen,
eine wahrhaft ökumenische Haltung, die in der Pluralität von Kirchen offenbar
viele Impulse für die eigenen krichlichen Veränderungen wahrnimmt und damit
über Konfessionsgrenzen hinweg den Ruf ernst nimmt: Ecclesia semper reformanda. Die Kirche braucht eine immerwährende Reform. Dies ist heute
nötiger denn je zu betonen !
Reinhard Kirste
Rz-Reformation-Brixen, 01.01.18
Rz-Reformation-Brixen, 01.01.18
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