Dienstag, 2. Januar 2018

Der Djihadismus der Frauen - Formen islamistischer Radikalisierung

Fethi Benslama / Farhad Khosrokhavar:
Le jihadisme des femmes.
Pourquoi ont-elles choisi Daech?
 = Der Djihadismus der Frauen.
Warum haben sie den “Islamischen Staat” gewählt?
Paris: Seuil 2017, 102 pp. --- ISBN 978-2-02-135914-5 
Seinen neuesten Essay hat der Psychoanalytiker Fethi Benslama zusammen mit dem Soziologen Farhad Khosrokhavar geschrieben. Benslama ist Professor für Psychopathologie an der Pariser Universität Diderot, Farhad Khosrokhavar arbeitet an der sozialwissenschaftlichen Elite-Hochschule (EHESS in Paris, Marseille, Toulouse) und ist zugleich Forschungsdirektor der Stiftung „Haus der Humanwissenschaften“. 

Aus psychologischer und sozialwissenschaftlicher Sicht gehen die beiden Autoren den persönlichen Lebenswegen junger Frauen nach, die sich auf den Djihadismus einlassen.Es ist übrigens davon auszugehen, dass etwa 10% Frauen sind – von den schätzungsweise 5000 europäischen Djihadisten, die in den letzten Jahren Ausbildungskurse beim DAECH gemacht haben (DAECH = arabische Abkürzung für „Islamischer Staat im Irak und in der Levante“ [ISIS]).

Für ihre Thesen haben die Autoren etwa 60 „Fälle“ genauer untersucht. Sie haben dazu das Beziehungsgeflecht von pervertierten islamischen Normen im Sinne des IS und psychischen Elementen in der Entwicklung junger Frauen herausgearbeitet. Hier spiegelt sich im Grunde ein Privileg der späten Moderne, in der die Adoleszenz immer früher anfängt und später aufhört. Weil sich für viele jedoch keine positiven Zukunftsvisionen zu eröffnen scheinen, kommen sie nicht aus der Adoleszenz heraus. Dadurch wird eine repressive und regressive Utopie für sie attraktiv (S. 10f., S. 99). Sie meinen, dass sie auf diese Weise, in das Erwachsenenalter kommen und so ihren eigenen Traumata entfliehen können. 

Dieser spannend zu lesende Essay ist natürlich keine systematische, vielmehr eine zugespitzte Fokussierung. Die Autoren zeigen, wie solche religiös besetzte Extremismus-Haltungen zustande kommen und welche sozialen Spannungen sich auftun: Das beginnt z.T. mit der Ablehnung der modernen Familie und damit auch der Negierung der Gleichheit von Frau und Mann. Durch den Kontakt mit den Djhadisten bereits vor Ort entsteht eine neue Lebensqualität durch Abgrenzung vom Bisherigen. Nach der Ausreise werden durch Heiraten „à la Daech“ diese Frauen zu Ehefrauen bzw. Konkubinen (genötigt). Der Glaubenskämpfer wird als „Prinz“ gesehen, dessen Glorie zur Ehefrau abstrahlt. Sie ist die „negative Heldin“ (S. 36) und durch die Geburt von Kindern als Mutter herausgehoben, während die gefangenen „ungläubigen“ Frauen vom IS als Sexsklavinnen entwürdigt werden. Eine weitere Sinnstiftung des Lebens ist der in Kauf zu nehmende Tod, der die aktiven Frauen den Männern doch wieder (fast) ebenbürtig macht – Martyrium als Heilsqualität. Die Frauen werden in ihrer Radikalisierung so zu „Übermuslimas“, parallel zu dem, was der Psychologe in seinem Buch Der Übermuslim (französisches Original: 2016, deutsch: 2017) bereits beschrieben hatte.

Mit dem Salafismus als Heilslehre wird diese Ideologie zugleich als Provokation gegen den andauernden und wachsenden Laizismus der umgebenden Gesellschaft gesehen. Das eigene Lebenskonzept wird damit religiös und auf Transzendenz hin aufgeladen. In der Praxis des IS und auch vergleichbarer Gruppierungen führt dies jedoch zu einer körperfeindlichen Unterdrücker-Ethik für die Frauen. Die weibliche Sexualität muss sich darum bewusst hinter dem Schleier verbergen. Diese Verachtung des eigenen Körpers wird kompensiert zugunsten der eschatologischen Vision von der sog. Rückkehr zu den echten islamischen Ursprüngen. Gegenüber einer dialogoffenen Religion zeigt sich hier ein dualistisches religiöses Muster von heilig/gut und weltlich/böse als Leitmotiv. Die Folge ist eine Lebenshaltung, die von Verboten und Sanktionen geprägt ist.
Die meist in Europa erfolgte Konversion der Frauen als bewusste Abkehrung vom westlichen Lebensstil hatte eine große Heilserwartung ausgelöst. Sie wird nun durch die brutale Realität von Tod und Schmerz oft genug enttäuscht, verbunden mit traumatischen Erlebnissen. Die nach Identität suchenden jungen Frauen können und dürfen jedoch ihre Zweifel und Ängste nicht aussprechen. Sofern sie das tun, werden sie brutal sanktioniert. Der Weg zurück nach Europa ist jedoch auch versperrt. Damit sind sie zu Gefangenen des IS geworden – gerade auch angesichts der aus diesen Ehen hervorgegangenen Kinder. Es wirkt makaber: Die seltsame Sakralisierung der Frau gewinnt in der Hierarchie islamistischer Fundamentalisten neue, allerdings höchst problematische Qualitäten und entsetzliche Sackgassen für einen Teil der betroffenen Frauen, von denen einige bereuen, andere jedoch verhärtet oder unsicher bleiben. 
 Und eine weitere psychologische Auffälligkeit zeigt sich im Blick auf die eigene (ehemalige) Familienzugehörigkeit. Sie führt zum Mitleid mit der Mutter, die diese Veränderung der Tochter leider ertragen muss, während die Väter so gut wir gar nicht ins Spiel kommen.
Bilanz: Die von den beiden Autoren eingeleiteten sozialwissenschaftichen und psychologischen Annäherungen zeigen ein komplexes Zusammenwirken gesellschaftlicher und individueller Faktoren. Das führt zu einer nachdenklich machenden Schlussorientierung: Beim Djihadismus der Frauen handelt es sich zuerst um eine „wohltuende Regression“ („regression bienfaitrice“, S. 99): Ihre Adoleszenz hört nicht auf. Sie sind durch ihre Biografien von einer verarmten Religiosität und von einer rudimentären Sakralität geprägt. Sie lassen sich darum auf repressive Ideale ein, die Heil in einer Gemeinschaft plakatieren, die von Rückkehrern zu mythischen-religiösen Ursprüngen organisiert werden. Sich hier zu engagieren, führt zu einer Freude des Kämpfens, des Leidens und bewusster Annahme von Qualen. Das geht hin bis zur Annahme des Todes, nicht um sich im Nichts aufzulösen, sondern um an einem vermuteten vollkommenen Leben teilzuhaben. 
Es ist eine Gegengeschichte zur großen Narrative der Moderne
(S. 99).
Angesichts der Niederlagen des IS und den zunehmenden Rückkehrerinnen aus dem Nahen Osten ist die moderne westliche Gesellschaft nun besonders genötigt, Orientierungen für diese Frauen in die Wege zu leiten, die ihnen eine Identitätsstärkung für eine Zukunft ohne die IS-Mythen ermöglicht. Fethi Benslama und Farid Khosrokhavar haben eine beeindruckende, knappe Analyse vorgelegt, der nun politische Konsequenzen einer freiheitlichen Gesellschaft folgen müssen, um die durch den Djihadismus geschlagenen Wunden zu heilen.

Reinhard Kirste

Rz-Benslama-jihadisme, 02.01.18

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