Donnerstag, 22. Februar 2018

Erneut gelesen: Mohammed Arkoun - Kritische Eröffnungen zum Islam

Mohammed (Mohamed)  Arkoun (1928-2010) war als Professor für islamische Studien in Paris einer der engagiertesten und bedeutendsten Vertreter für einen „aufgeklärten“ Islam. Zugleich bezeichnete er sich im originalen Sinne als „Fundamentalist“, da sich seine Forschungen auf die Fundamente von Koran und Sunna bezogen. Dazu bearbeitete er systematisch die islamische Philosophie seit ihren Anfängen bis in die Gegenwart. Im aktuellen Diskurs zwischen Tradition und Moderne spielt das Verhältnis von Religion und  Laizität - besonders in seiner französischen Ausformung - eine entscheidende Rolle. Im Blick auf die Herausforderungen der Gegenwart unternimmt er nicht nur eine kritische "Re-Lektüre" des Korans, sondern auch der islamischen Traditions- und Geistesgeschichte.

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Mohammed Arkoun: L'Islam. Approche critique
Collection "Ouverture". 
Paris: Jacques Crancher 1989, 3e édition 1998, 189 pp.

Deutsche Ausgabe:
Der Islam. Annäherung an eine Religion.
Vorwort von Gernot Rotter.
Aus dem Französischen von Michael Schiffmann.
Heidelberg: Palmyra 1999, 294 S., Register


Der Islam in Frage,
der Islam als Frage 

Kritische Annäherungen
Die hier vorzustellende "kritische Annäherung" an den Islam besteht aus 24 Fragen und Antworten, die sich mit Grundkenntnissen des Islam und aktuellen Fragen beschäftigen, die vor allem die muslimische Glaubenslehre betreffen. Der Autor bemüht sich um kurze und prägnante Darlegungen. Sein Ziel ist ein doppeltes: Er wendet sich einerseits an die muslimische Öffentlichkeit: Sie muss seiner Meinung nach aus ihrer dogmatischen Enge befreit werden, in die sie durch die traditionelle Theologie und durch Kampfesideologien eingeschlossen ist. Andererseits wendet er sich an die westliche Öffentlichkeit: Diese sollte darauf verzichten, andere Kulturen ethnographisch aus einem westlichen Deutehorizont heraus zu betrachten.

Mythos und Ideologie: Degradierung des symbolischen Kapitals
Nach Arkoun ist es Aufgabe der Historiker zu zeigen, wie unterschiedliche ethno-kulturelle Gruppen aus einem gemeinsamen Bestand an Zeichen und Symbolen geschöpft haben. So konnten sie Systeme des Glaubens oder des Unglaubens schaffen, die zur Legitimation von Macht gedient haben. Daher fordert der Autor, die Sinnfrage nicht länger aus der Sicht einer unbeweglichen Transzendenz zu stellen, einer Ontologie, die vor jeglicher Historizität geschützt wäre. Stattdessen sollte sie im Lichte der historischen Kräfte betrachtet werden. So lassen sich die heiligsten Werte in symbolisches Kapital verwandeln. Sie kann man nicht von den mythischen Gründungserzählungen trennen, in denen jede ethno-kulturelle Gruppe ihre Identität oder Personalität zusammenfasst. In den Offenbarungsreligionen wurde das symbolische Kapital allerdings zu Gesetzen, mechanischen Ritualen, scholastischen Lehren und Ideologien der Herrschaft degradiert.

Sakralisierung, Transzendentalisierung, Säkularisierung
Seit dem Tod des Propheten Mohammeds, vor allem aber mit der Gründung eines islamischen Staates, fand die Verbindung von politischem Handeln und Kreativität der Symbolik ihr Ende. Die Verstaatlichung des Islam bedingt die Ausarbeitung eines Rechtscodex, der die Bedeutung religiöser Lebensorientierung (Scharia) in praktisches Recht umsetzt. Wenn hier das Religiöse dem Politischen untergeordnet wird, so ist dies nicht gleichzusetzen mit der Verschmelzung von Spirituellem und Zeitbedingtem zu einem Absoluten. Hier muss der Islam heute z.T. kritisiert werden. Will man die Frage nach dem Islam und der Laizität  bzw.Säkularisierung stellen, ist es wichtig, sich darüber im klaren zu sein, dass die islamischen Gesetze durch die staatlichen Institutionen bzw. durch die Person und Funktion des Kalifen erst nachträglich sakralisiert und transzendentalisiert worden sind.

Die säkularen Revolutionen haben die Hierarchien und Ungleichheiten, die mit Hilfe der Macht der Sakralisierung entstanden sind, aufgehoben. Diese Macht wurde von den Theologen ausgeübt, die vorgaben, als autorisierte Interpreten der Offenbarung zu handeln. Die Revolutionen enthüllen so eine verborgene Funktion des Heiligen. Es ist der permanente Übergang von der Transzendenz in immanente Zusammenhänge. So geht der Weg vom Unendlichen des Sinns zur Transzendentalisierung, die den Sinn in Lehren, politischen Ordnungen und Rechts-Codices fixiert. In einem Kontext, der von den religiösen Traditionen befreit ist, wird das republikanische Frankreich mit Hilfe der Rekonstruktion eines nationalen laizistischen Bildes (imaginaire) allerdings von Neuem sakralisiert.

Die Nationalismen des 19./20. Jahrhunderts haben den Bruch mit dem früheren Heiligen und die Einsetzung eines laizistischen, republikanischen Heiligen mit dem entsprechenden Bild zu einem generellen Phänomen gemacht. Arkoun wehrt sich dagegen, die Beziehung von Religion und Laizität, von Spirituellem und Zeitlichem auf Fragen der rechtlichen Trennung dieser Instanzen zu reduzieren. Es geht auch nicht, die Theologie von der Philosophie oder den Mythos von der Geschichte zu lösen.

Arkoun möchte die Bedeutung der modernen Trennung von legislativer, judikativer und exekutiver Gewalt für den sozialen Frieden und den Respekt vor den Menschenrechten nicht schmälern. Aber diese Gewalten verweisen auf tiefer gehende Fragen, die all unserem politischen, rechtlichen und religiösen Reden zugrunde liegen: die Frage nach dem Sein, nach Werten, zum Heiligen, nach Transzendenz, Liebe, Gerechtigkeit und dem Wunsch nach Unsterblichkeit.

Spirituelle Autorität und politische Macht
Arkoun unterscheidet zwischen der spirituellen Autorität Gottes und politischer Macht. Er nimmt den Begriff der „Sinnschuld“ (dette de sens) von Marcel Gauchet auf. Damit ist eine moralische Verpflichtung im Rahmen des Bundes zwischen Gott und Mensch in den Offenbarungsreligionen gemeint. Nur die Macht, die im Rahmen dieses Bundes ausgeübt wird, ist legitim. Das Aufkommen einer spirituellen laizistischen Macht mit dem Bürgertum hat die Funktion der Sinnschuld dem allgemeinen Wahlrecht übertragen. Arkoun spricht von einem „neuen Bund“, der auf das allgemeine Wahlrecht gegründet ist und eine Gesellschaft, sozusagen als säkularisierte Kirche zur Folge hatte. Mit dem Ende des traditionellen Religiösen kamen die säkularen Religionen (Raymond Aron) auf. Die Demokratien funktionieren wie Religionen (allerdings ohne den Zusammenhang von Sinn und Schuld) mit Führern, die nach Taktiken und Strategien suchen, die Macht zu erlangen und auszuüben. Sie bemühen sich weniger um “légalité“ als um  „légitimité“. Nun wird es darum gehen, so meint Arkoun, dass Kirche und Staat nach neuen Vereinbarungen, nach einer neuen Laizität suchen. Sie ermöglicht eine neue Spiritualität. Hier liegt übrigens ein Ansatzpunkt von islamischer Seite, den eine Reihe von „gemäßigten“ Laizisten aufgegriffen hat, wie z.B. der Soziologe Olivier Carré:
L'islam laïque
 ou le retour à la Grande tradition. Paris: 
Armand Colin 1993 - Rezension in Persee: hier - Autor:   Année 1994  59-1  pp. 299-300
Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges glaubte man in der muslimischen Welt, es würde reichen, die „Rezepte“ des Westens auf die muslimischen Länder zu übertragen, die den Erfolg der westlichen Zivilisation ermöglicht haben. Kritiklos übernahm man daher die Laizität, wie es die radikale Neutralität Atatürks gegenüber der Religion zeigte. Doch eine Entwicklung der muslimischen Welt hin zu einem laizistischen und demokratischen Pluralismus musste scheitern. Die Rolle der Symbole im Kontext einer mündlichen, mythischen Kultur unterscheidet sich wesentlich von der im logozentrischen System einer Schriftkultur, eingesperrt in den Grenzen der Historizität. Die Symbole werden hier zu schlichten Zeichen, an denen sich die „Modernen“ und die „Konservativen“ erkennen.

Arkoun unterscheidet: Zum einen  gibt es die „pensée laïque“, eine offene, kritische Haltung, die Verantwortung wahrnimmt und die Freiheit der Selbstbestimmung anderer anerkennt. Dagegen steht zum Anderen die „pensée laïciste: Unter dem Vorwand der Neutralität verbannt sie aus der Schule jeglichen, auch wissenschaftlichen Unterricht über die Geschichte der Religionen. Die menschlichen Gesellschaften sind jedoch auch von  einer permanenten und universell-religiösen Dimension geprägt. Mit einer solchen Wertung wendet sich Arkoun gegen einen positivistischen und szientistischen Rationalismus.

Der Verfasser ermutigt insgesamt, auf zwei historische Brüche zu reagieren: den Bruch des „orthodoxen“ islamischen Denkens mit der Philosophie und den Bruch des westlichen Denkens mit dem religiösen Denken aufgrund dessen semitisch-orientalischer Wurzeln.
Der Islam und der Westen scheinen zwei entgegengesetzte Pole zu sein. Aber Arkoun weist konsequent daraufhin, dass sie denselben philosophisch-religiösen Ursprung haben.

Auch nach über 20 Jahren seit dem Erscheinen dieses Buches hat es nichts von seiner
Aktualität verloren.

Dieser Beitrag wurde überarbeitet und aktualisiert. Er ist in seiner Ursprungsfassung  ein Auszug aus: 
Silvia Bartelheimer / Reinhard Kirste: Der Integrismus im Streit mit der Laizität. Ein Beitrag zur Fundamentalismusdebatte. Download des gesamten Textes: hier 
In: Reinhard Kirste / Paul Schwarzenau / Udo Tworuschka (Hg.): 
Interreligiöser Dialog zwischen Tradition und Moderne. Religionen im Gespräch, Bd. 3 (RIG 3) Balve: Zimmermann 1994, S. 290-323, hier S. 295-298

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CC



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