Montag, 16. April 2018

Jacques Le Goff: Geschichtsschreibung ohne Schablonen-Denken

Der Historiker Jacques Le Goff (1924-2014) gehört zu den berühmtesten Mediävisten weltweit. Seine Beiträge zur Mittelalterforschung haben die Zugangsweisen und Deutungsmuster für geschichtliche Zusammenhänge merklich verändert. 
Dadurch rückte die Mediävistik in ein neues und aktuelles Licht. 

Die Forschungen von Le Goff ließen auch bisherige (Vor-)Urteile gegenüber der entwicklungsgeschichtlichen Bedeutung des Mittelalters und der Renaissance zusammenbrechen. So entstanden neue Zugänge zur Bewertung mittelalterlicher Texte im Horizont von Kultur-Veränderungen und ebenso zu den gesellschaftlichen Umbrüchen im Mittelalter.
Mehr zu Leben und Werk: hier 
Wie eine Art intellektuelles Testament wirkt darum
seine letzte Arbeit, 
ein herausfordernder Essay:


Faut-il vraiment découper l'histoire en tranches? 
La Librairie du XXIe Siècle. Paris: Seuil 2014, 209 pp.

--- ISBN 978-2-02-110605-3 ---


Inzwischen ist auch eine deutsche Ausgabe erschienen:
Geschichte ohne Epochen? Ein Essay.
Darmstadt: Philipp von Zabern (WBG) 2016, 188 S.
--- ISBN 978-3-8053-5036-5 --- 
Verlagsinformation: hier


Nimmt man die Übersetzung des Titels wörtlich, dann klingt die These des Mittelalterforschers noch schärfer: Muss man wirklich die Geschichte in Scheiben schneiden? 

Was steckt hinter diese Fragen, die Le Goff nach jahrzehntelangen Forschungen so deutlich stellt?
Wer sich intensiver mit dem Opus dieses Mediävisten beschäftigt hat, wird feststellen, dass ein kritisches Geschichtsverständnis methodisch für den Forscher schon immer leitend war. Es geht nicht darum, abgrenzende Epochen herauszuheben, sondern langfristige Entwicklungen korrelativ zu betrachten. Es sind eben nicht plötzliche Umstürze, die die Geschichte prägen, sondern langsame Schübe mit dann auftretenden Durchbrüchen. Für das Mittelalter bedeutet dies, es zeitlich wesentlich länger zu sehen. Dann gehört auch die Renaissance als weitere Zeitphase noch dazu.


Die meisten Historiker haben allerdings die Geschichte der Zivilisationen in Perioden aufgeteilt - im Sinne einer kollektiven Konstruktion. So wurde auch lange vom "dunklen Mittelalter" geredet (vgl. S. 105-128), obwohl eine solche Vorstellung durch sorgsame Aufarbeitung der damaligen Ereignisse letztlich unmöglich ist. Natürlich müssen hier auch die Aktionen der Unmenschlichkeit (z.B. im Blick auf die Hexenverfolgungen, S. 130ff) zur Sprache kommen.
Institutionen des Wissens, der "Wissensverwaltung" und national geprägter Bildungsstätten haben solche problematischen Epochendarstellungen gefördert. Es entwickelten sich im 17./18. Jahrhundert regelrechte Systeme zur Feststellung der historischen Wahrheit. Diese wurden oft genug im Interesse europäischer Herrscher wirkmächtig.
Im 19. Jahrhundert ließ sich so die Bedeutung von Nationalstaaten im kollektiven Bewusstsein betonen (S. 53-60). Es fand eine Art  Rationalisierung der Geschichte statt. Damit wurde auch das Verständnis des modernen Staates zum Deutungsgeber von geschichtlichen Ereignissen. 

Man muss sich jedoch Folgendes klarmachen: Mit der Eroberung des letzten muslimischen Staates in Andalusien entsteht nach 1492 Europa eine Großregion der Nationen und Sprachen. Dass nicht-europäische Zivilisationen andere Erklärungsmodelle entwickelten - oft genug auch auf religiösen Grundlagen - darf dabei nicht außer Acht gelassen werden. Immer wieder geht es jedoch um historische Abfolgen. Sie spiegeln nicht nur die jeweiligen Zeitgefühle, sondern auch das vorherrschende Denken in einer bestimmten Situation. 
Also: Es gibt keine Objektivität in der Geschichtsdeutung. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die Epochenaufteilung der Geschichte relativ spät auftritt. Die christliche Geschichtsschreibung kannte bis zum 15. Jahrhundert nur eine chronologische Trennlinie:
Die Geburt Jesu Christi. Das galt übrigens auch noch für Martin Luther im 16. Jahrhundert.

Erst am Ende des Mittelalters begann man in Italien rückblickend, eine imaginäre Antike zu entwickeln, der die Konstruktion einer Moderne gegenüberstellt wurde.
Nun wird deutlich: Unterschiedliche philosophische und politische Positionen 

rechtfertigen die Logik einer bestimmten Sicht der Geschichte. Man denke übrigens hier auch an Karl Marx, der die großen Veränderungen in der Geschichte durch die Transformation der Produktivkräfte beschreibt. 
Jacques Le Goff stellt seine Deutungstendenzen der Geschichte bedachtsam und teilweise abgrenzend im Kontext von Historikern und Schriftstellern aus der Vergangenheit und der heutigen Zeit vor. Es seien hier nur wenige genannt -
in der Debatte im 19. Jahrhundert mit  Joachim von Watt --- Jules Michelet ---
Jakob Burckhardt --- Norbert Elias

und im 20. Jahrhundert mit Johan Hendrik Jacob van der Pot ---
Marie-Dominique Chenu --- Fernand Braudel --- Patrick Boucheron --- Jean Delumeau
--- 
Umberto Eco --- Patrick Manning.


Wie sieht es nun mit dem gegenwärtigen Verständnis der Geschichte aus? Wie sind die geschichtlichen Hintergründe der Globalisierung zu deuten? Allerdings darf man nicht Globalisierung mit Uniformisierung verwechseln. Darum braucht man den unverstellten Blick in die Geschichte: Die "Entdeckung" und Eroberung Amerikas sowie die Französische Revolution haben historiographische Klassifizierungen erheblich verändert. Das wirkte sich auf Sprachen und Sprechweisen aus. Es entstanden neue Erzählzusammenhänge der Geschichte, in der sowohl die geistigen und materiellen Elemente Informationsflüsse und geschichtliches Verstehen auf eine neue Stufe hoben.
Am Schluss lässt Jacques Le Goff offen, wie ein solches historisch orientiertes Narrativ im digitalen Zeitalter aussehen könnte. Aber er hat mit diesem Essay deutlich gemacht,
wo die aktuelle Debatte weitergeführt werden muss, damit Menschheitsgeschichte zugleich als Menschlichkeitsgeschichte sichtbar werden kann.
Im Vorwort hatte er diese Absicht deutlich benannt: "Eines der wesentlichen Probleme der Humanität, die bereits mit ihrer Geburt erschien, ist die irdische Zeit zu beherrschen und zu bändigen" (S. 11).

Alle Seitenhinweise betreffen die französische Ausgabe.

Vgl. dazu die Rezension:
 
Virginie Tournay, « Jacques Le Goff, Faut-il vraiment découper l’histoire en tranches ? », Lectures [En ligne], Les comptes rendus, 2014, mis en ligne le 05 août 2014, consulté le 15 avril 2018. URL : http://journals.openedition.org/lectures/15220
Die gesamte Besprechung (französisch): hier


Titel von Jacques Le Goff in deutscher Sprache: 
  • Marchands et banquiers au Moyen Âge. Coll.: Que sais-je? Bd. 699. Paris: PUF Paris 1956
    In deutscher Sprache als: Kaufleute und Bankiers im Mittelalter.
    Fischer-TB 7409:  Frankfurt/M. 1989
  • Les intellectuels au Moyen Âge (Coll. Le temps qui court. Bd. 3. Paris: Seuil 1957
    --- Die Intellektuellen im Mittelalter. Klett-Cotta, Stuttgart 1986
  • La Civilisation de l'Occident médiéval (= Coll. les grandes civilisations. Bd. 3
    Paris: Arthaud, Paris 1964
    --- Kultur des europäischen Mittelalters. München: Droemer Knaur 1970.
  • Das Hochmittelalter (= Fischer Weltgeschichte. Bd. 11).
    Frankfurt/M.: Fischer 1965ff (zahlreiche Auflagen).
  • Pour un autre Moyen Âge. Temps, travail et culture en Occident. 18 essais.
    Paris: Gallimard 1977
    --- Für ein anderes Mittelalter. Zeit, Arbeit und Kultur im Europa des 5.–15. Jahrhunderts.
    Ullstein-TB 35180. Frankfurt/M. u.a.: Ullstein 1984 
  • zusammen mit Roger Chartier und Jacques Revel  La nouvelle histoire.
    Paris: Retz-C.E.P.L 1978
    --- Die Rückeroberung des historischen Denkens.
    Grundlagen der Neuen Geschichtswissenschaft.

    Frankfurt/M.: Fischer 1990 
  • La naissance du purgatoire. Paris: Gallimard 1981
    ---  Die Geburt des Fegefeuers. Klett-Cotta, Stuttgart 1984
  • Storia e memoria. Einaudi Paperbacks 171. Turin: Giulio Einaudi 1982
    --- Geschichte und Gedächtnis. Historische Studien, Bd. 6).
    Frankfurt/M.: Campus 1992
  • L'imaginaire médiéval. Essais. Gallimard, Paris 1985
    --- Phantasie und Realität des Mittelalters. Stuttgart: Klett-Cotta 1990,
  • La bourse et la vie. Économie et religion au Moyen Age.
    Textes du XXe siècle, Bd. 12).
    Paris: Hachette Littératures1986
    --- Wucherzins und Höllenqualen. Ökonomie und Religion im Mittelalter
    Stuttgart: K
    lett-Cotta1988
  • Saint Louis. Gallimard, Paris 1996 ---  Ludwig der Heilige.Klett-Cotta, Stuttgart 2000
  • L'Europe racontée aux jeunes. Paris:  Seuil 1996
    --- Jacques Le Goff erzählt die Geschichte Europas.
    Frankfurt am Main u. a.: Campus 1997
  • Pour l'amour des villes. Entretiens avec Jean Lebrun.
    Paris: Textuel 1997
    --- Die Liebe zur Stadt. Eine Erkundung vom Mittelalter bis zur Jahrtausendwende.
    Frankfurt/M.: Campus 1998
  • Saint François d'Assise. Gallimard, Paris 1999
    --- Franz von Assisi. Stuttgart: Klett-Cotta 2006
  • Un Moyen Âge en images. Paris: Hazan 2000
    --- Das Mittelalter in Bildern. Stuttgart: Klett-Cotta 2002
  • L'Europe est-elle née au Moyen Âge? Paris: Seuil 2003
    --- Die Geburt Europas im Mittelalter. C. H. Beck, München 2004
    Neuauflage: Beck'sche Reihe  6041. München: C.H. Beck 2012
  • mit Nicolas Truong: Une histoire du corps au Moyen Âge. Paris: Levy 2003
    ---: Die Geschichte des Körpers im Mittelalter. Stuttgart: Klett-Cotta 2007
  • Héros et merveilles du Moyen Âge. Paris: Seuil 2005
    --- Ritter, Einhorn, Troubadoure. Helden und Wunder des Mittelalters.
    München: C.H. Beck 2005
  • Le Moyen Âge et l'argent. Essai d'anthropologie historique.
    Paris: Perrin, Paris 2010
    --- Geld im Mittelalter. Klett-Cotta, Stuttgart 2011
CC


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