Donnerstag, 10. Mai 2018

Jesus gemeinsam neu entdecken: Islamisch-christliche Zugänge


Mouhanad Khorchide / Klaus von Stosch: Der andere Prophet. Jesus im Koran.
Freiburg u.a.: Herder 2018, 320 S.
--- ISBN: 978-3-451-38154-6 ---
English summary at the end of the review !
Sowohl von christlicher als auch von islamischer Seite gibt es bereits zahlreiche „Monografien“ über Jesus entweder aus christlicher oder islamischer Sicht. Sie spiegeln damit zum einen die jeweilige gläubige Einstellung der Verfasser wieder, zum anderen bemühen sich eine Reihe von Autoren religionswissenschaftliche Erkenntnisse und historische Zusammenhänge in ein adäquates Jesusbild zu integrieren. Dass islamische Jesusverständnisse auch bedeutsam für christliche Jesusbilder bedeutsam sein können, steht dabei außer Frage. Auch christliche Forscher haben sich darum bemüht, den Christus der Muslime positiv herauszustellen. So liegt eine erstaunlich vielfältige Literatur zu diesem Thema bereits vor.
Die erste Besonderheit des vorzustellenden Buches ist jedoch, dass ein muslimischer und ein christlicher Autor gemeinsam über Jesus im Koran geschrieben haben und dies auch gemeinsam verantworten (S. 12).
Die zweite Besonderheit ist die „Diachronizität“ der Darstellung. Das bedeutet, dass entwicklungsgeschichtliche Verläufe der Koranauslegung im Blick auf die koranischen Aussagen über Jesus verdeutlicht werden (S. 13). Das ist mehr als eine historische Einordnung bestimmter Auslegungstendenzen. Genaugenommen entsteht – verstärkt durch das dialogische Vorverständnis der Autoren – ein Beitrag zu einer interreligiösen Theologie. Sie zeichnet sich durch einen kontinuierlichen Perspektivwechsel aus. Ein solcher hermeneutisch- dialogischer Prozess eröffnet im Horizont koranischer Sichtweisen neue und erweiterte Jesusverständnisse.
Als eine gewisse Vorarbeit kann man ansehen:
Klaus von Stosch / Mouhanad Khorchide (Hg.): Streit um Jesus – Muslimische und christliche Annäherungen.
Beiträge zur Komparativen Theologie, Bd. 14. Paderborn: Schöningh 2016, 282 S.
Insgesamt wirkt sich positiv aus, dass beide Autoren nicht nur geschulte Theologen sind, sondern auch jahrelange Erfahrungen aus dem christlich-islamischen Dialog mitbringen: Mouhanad Khorchide, seit 2010 Professor für islamische Religionspädagogik in Münster, und Klaus von Stosch, Professor für Katholische (systematische) Theologie in Paderborn.
--- Mehr zu Mouhanad Khorchide (geb. 1971) mit Buchrezensionen:
https://buchvorstellungen.blogspot.de/2013/01/islam-ist-barmherzigkeit.html

In der EinleitungKapitel 1betonen die beiden Verfasser, dass die herausgehobene Bedeutung Jesu im Koran für Muslime eine kritische Auseinandersetzung mit der Christologie erfordert. Auf der anderen Seite „steckt in der Darstellung Jesu Christi im Koran ... ein wichtiges Lernpotenzial für die christliche Theologie“ (S. 11). Imgrunde ist von daher eine dialogische Auseinandersetzung zwischen islamsicher und christlicher Theologie geradezu zwingend.
Nun sind bekanntlicherweise die Heilsbedeutung und Göttlichkeit Jesu einer der wesentlichen Streitpunkte zwischen Christentum und Islam. Das ist der Impuls für die Autoren, die Entwicklung der Christologie, der sog. Zweinaturenlehre im christlichen Jesusglauben, besonders seit dem Konzil von Chalcedon (451) ausführlich zu thematisieren – Kapitel 2. Die konfliktreichen Veränderungen dieser Lehre bis zum 7. Jahrhundert spielen auch für die Religionsgeschichte auf der arabischen Halbinsel eine wichtige Rolle. Nur in diesem Kontext lässt sich verstehen, wie die islamische Abwehr der Gottessohnschaft Jesu auch theologisch begründet wird. Darum halten die Autoren fest: „Der wichtigste missionarische Einfluss auf Mekka und Medina dürften dabei wohl miaphysitisch geprägten Christen aus Südarabien ausgegangen sein“ (S. 55).
Zum (nestorianischen) Dyophysitismus und den miaphysitischen [monophysitischen] Christologien,
vgl.
http://deacademic.com/dic.nsf/dewiki/949859
So können die Autoren zeigen, wie das äthiopische, westsyrische und ostsyrische Christentums, aber selbst
pro-chalcedonensche Strömungen wie die Melkiten, auf der arabischen Halbinsel teilweise eine deutliche Nähe zu dem entstehenden Islam erkennen lassen (S. 64f).
Aber man kann schon ahnen: Der soteriologische Konflikt zur Bedeutung Jesu beginnt bereits in der Frühphase des Islam. Er schaukelt sich dann bis ins Mittelalter polemisch hoch, wenn auch die jeweiligen christologischen Streitpunkte variieren.
Vgl. dazu auch: Míkel de Epalza: Jesus zwischen Juden, Christen und Muslimen.
https://buchvorstellungen.blogspot.de/2015/12/mikel-de-epalza-promotor-des-iberischen.html
Neuaufbrüche in der Christologie der Gegenwart bestimmen das Kapitel 3. Eine entscheidende Etappe – auch für die theologische Begegnung mit dem Islam – bildet Friedrich Schleiermacher, „der radikal mit der Zwei-Naturen-Lehre gebrochen hat“ (S. 69). Hinzu kommt die Tendenz gegenwärtiger evangelischer und katholischer Theologen, eine Christologie von unten zu strukturieren, die auch historisch und exegetisch verstärkten Rückhalt findet. Insgesamt geht es darum, „die Besonderheit Jesu nicht in seiner Natur, oder in seinem Sein zu suchen, sondern in der Art, wie er mit Gott in Beziehung steht“ (S. 81). Von daher ist auch die Inkarnation nicht auf den einmaligen Akt in der Person Jesu beschränkt. Man darf also davon ausgehen, „dass der Gott Jesu Christi sich auch in einem ästhetischen Sprachgeschehen in seiner Schönheit und Liebe zeigt“ (S. 93). Hier bildet sich bereits eine Brücke zum Koran als Wort Gottes, das die Schönheit Gottes erfahrbar macht (S. 93). Diese Vermutung muss allerdings am Koran selbst geprüft werden.
Das wird in Kapitel 4 ausführlich unter systematischer Aufarbeitung, in „surenholistischer Lektüre“ vorgenommen: Maryam – Maria (Sure 19), Al-Imran = Das Haus Imran (Imran, Vater der Maria, Sure 3), Al-Ma’ida = der Tisch (Sure 5). Die Schwerpunktsetzung – mit Referenzen aus anderen Koranstellen – bezieht sich also  auf Geschichten und Texte zur Familie Jesu sowie auf die (narrativen) Anmerkungen zum Leben Jesu bis zu seinem Tod.
Ein Großteil der Muslime geht davon aus, dass Jesus nicht am Kreuz starb, aber der Koran ist hier nicht eindeutig (S. 147ff). Allerdings: die koranische Jesulogie bezieht sich nicht auf das Kreuz. Übrigens klingt alles weniger dramatisch, wenn man bedenkt, dass in den östlichen Kirchen die Auferstehung so stark im Fokus steht, dass dagegen das Kreuz fast marginal wirkt (S. 156). Überhaupt sind die sog. antichristlichen Einwürfe gegen das christliche Jesusbild im Kontext der christlichen Sonderformen auf der arabischen Halbinsel der damaligen Zeit zu sehen. Beim islamischen Jesusbild kann nämlich festgehalten werden, „dass die Vielfalt unterschiedlicher Glaubenswege aus koranischer Sicht im Heilsratschluss Gottes  begründet ist“ (S. 97). Allerdings wendet sich der Koran deutlich gegen eine Vergöttlichung von Menschen (S. 162ff). So verfügt Jesus auch nicht über göttliches Wissen (S. 167).
Mit ihrer ausführlichen Suren-Interpretation verdeutlichen die Autoren im Kapitel 5, wie die koranische Prophetologie zu verstehen ist. Die zeitlichen Unterschiede innerhalb der mekkanischen Suren spielen ebenso eine Rolle wie die Veränderungen in der medinensischen Zeit. So lässt sich sagen, dass die Barmherzigkeit Gottes die Prophetie entstehen lässt (S. 203ff). Und diese ist weniger ein Gegenmodell zu vorherrschenden Christologien. Jesus wird auch erst in der medinensischen Phase des Korans den Gesandten zugeordnet. Propheten können getötet werden, jedoch nicht Gesandte. Dies alles spielt natürlich für die Art des Todes Jesu eine nicht unerhebliche Rolle. Hinzu kommt, dass der Koran selbst bereits signalisiert, dass „der Prophetentitel eine gewisse Ambiguität zu implizieren“ scheint (S. 225).
Hier muss noch eine genauere Untersuchung folgen, nämlich wie die Bedeutung des Werkes Jesu einzuschätzen ist. Das Kapitel 6 geht darum vom christlichen Verständnis der göttlichen Heilstat in Jesus aus. Sie entspringt der geoffenbarten Menschenfreundlichkeit Gottes. Das Kreuz Jesu Christi zeigt in seiner heilsamen Zuspitzung, dass sich Gott selbst von dem Schmerz der Menschen betreffen und bewegen lässt“ (S. 227).
Gibt es in der islamischen Tradition hier eine gewisse Entsprechung, wenn auch keinerlei zu erwartende Gleichheit? Mit Hilfe von Avicennas neuplatonischem Liebesbegriff scheint sich eine Brücke aufzutun, ebenso im Gott-Mensch-Verhältnis im Kontext von Freiheit: Gott hat „sich in Freiheit selbst zur Barmherzigkeit bestimmt“
(S. 245.) In seiner Liebeseinladung an alle Menschen „respektiert“ Gott auch deren Freiheit, sonst wäre es ja keine Liebe (S. 247). So können auch Muslime anerkennen, dass Gott sich nicht nur in der Weise des Korans offenbart. Die Fitra-Theologie – mit ihrem wichtigen Anhalt in Sure 30,30 –  zeigt an, dass der Mensch dank der göttlichen Schöpfung mit der wahren Religion ausgestattet ist, die sich erst im Laufe der Geschichte bzw. des einzelnen Menschenlebens in einzelne religiöse Richtungen konkretisiert. Aber der Gläubige lebt immer im Bewusstsein von taqwa im Sinne der hingebungsvollen Ehrfurcht vor dem barmherzigen Gott.
Welche soteriologischen Konsequenzen sind daraus jedoch auf die für Muslime extrem schwierige  Kreuzestheologie zu ziehen? Der Gedanke vom Leiden Gottes ist dem Koran völlig fremd. Das ist einerseits die Gefahr einer Vermenschlichung Gottes. Andererseits darf Jesus als Diener Gottes nicht in die Vergöttlichung gehoben werden, weil sonst der Glaube an Gott zugunsten eines vergöttlichten Jesus aus dem Sichtfeld der Gläubigen zu verschwinden droht. Darum grenzt sich der Koran nur gegen miaphysitische bzw. gnostische Christusverständnisse und sich daraus entwickelnde Trinitätsvorstellungen ab. Von daher sehen die Autoren auch keine antichristliche oder antijüdischen Tendenzen im Koran – eher das Gegenteil.
Und es scheint sich durch neue Perspektiven auf den Koran in Kapitel 7 sogar ein soteriologischer Brückenweg anzubahnen: „Der Koran leugnet … keineswegs den Tod Jesu, sondern unterstreicht einfach nur, dass er dem Hass der Gegner nicht definitiv unterlegen ist. Aber auch Jesus sollte wie die Märtyrer, die auf dem Wege Gottes getötet wurden, nicht für tot gehalten werden. Diese Erkenntnis lädt ein, in der Frage der Kreuzigung Jesu keine scharfe Trennlinie mehr zwischen Islam und Christentum zu ziehen“(S. 298). Das heißt doch dann auch: Bei allen unterschiedlichen Denk- und Glaubensvoraussetzungen – Jesus lebt für Christen und Muslime gleichermaßen im Horizont der schöpferisch-umfassenden Liebe und Barmherzigkeit Gottes.
Bilanz
Diese aufregende Konsequenz aus der Arbeit der beiden Autoren zum „anderen Propheten Jesus“ wird historisch und exegetisch sorgfältig vorbereitet und gemeinsam systematisierend umgesetzt. Der Christ taucht in die islamischen Argumentationsgänge ein, und der Muslim entdeckt die ausgefeilte theologische Sprachfähigkeit zur soteriologischen Bedeutung Jesu. Daraus entsteht eine gemeinsame Wegbereitung. Es sind Jesus-Interpretationen, die ein neues Verständnis im gegenseitigen Hören entwickeln. So bezeugen Islam und Christentum gerade in ihrer soteriologischen Motivation ihre innere Verwandtschaft. Die beiden Theologen haben damit einen wesentlichen Markstein für eine zukunftsfähige Begegnungstheologie gesetzt.

English summary
Two theologians, the Muslim Mouhanad Khorchide (University of Münster) and the Christian Klaus von Stosch (University of Paderborn) published this book  as a result of explicitly common researches. Their motivation have been, to show the salutary role of Jesus in the Qur'an in the mirror of Christian soteriological traditions. Such a hermeneutic-dialogical process opens new and expanded understandings of the Qur'anic Jesus. Jesus is alive for Christians and Muslims likewise in the horizon of God's creative, comprehensive love and mercy.
This exciting consequence of the work of these two authors is consciously prepared by historical and exegetical analysis  to show a common understanding.  Thus Islam and Christianity testify in their soteriological motivation an inner relationship. The two theologians have thus set a significant milestone for a future-oriented theology of mutual encounter.

Reinhard Kirste


Rz-Khorchide-Stosch-Jesus, 11.05.18

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