Montag, 13. April 2020

Mittelalterliche Seelenverständnisse zwischen Substanz und Funktion: Wirkungen bis in die Gegenwart


Günther Mensching  und
Alia Mensching-Estakhr (Hg.):
Die Seele im Mittelalter.
Von der Substanz zum
funktionalen System

6. Hannoveraner Symposium
zur Philosophie des Mittelalters
an der Leibniz-Universität Hannover
vom 21. – 23. Februar 2012


Für den Druck besorgt von Alexander Lückener

Würzburg: Königshausen & Neumann
2018, 215 S. 
--- ISBN 978-3-8260-6027-4 ---
InterReligiöse Bibliothek (IRB):
Buch des Monats Februar 2019
--- English summary at the end of the review
--- Résumé français au bout du compte rendu

Wenn das Wort „Seele“ auftaucht, breiten sich eine Fülle von Assoziationen aus, und sie scheinen sich immer mit der Frage nach der Individualität des Menschen zu verbinden. Wenn nun Historiker, Philosophen und Theologen den Blick auf das Mittelalter lenken, kann man davon ausgehen, dass hier eine Vielschichtigkeit des Verständnisses zum Vorschein kommt, die den Umgang mit diesem Begriff nicht gerade leichter macht. Aber welche Gesichtspunkte werden leitend und welche stehen im Abseits denkerischer Diskurse? Mit dem Tagungsband des Mediävistenkongresses 2012 in Hannover legen der Philosoph Günter Mensching und die Doktorandin Alia Mensching-Estakhr (beide Universität Hannover) als Herausgeber führen in eine historisch Debatte ein, deren Gegenwartswirkung man allerdings nicht unterschätzen sollte:

„So sind die Theorien aus Antike und Mittelalter über anima und intellectus von Platon über Aristoteles, die hellenistischen Neuplatoniker in Orient und Okzident bis zu Avicenna und schließlich zu Thomas von Aquin, Bonaventura und die Franziskanerschule, Meister Eckhart und zu den Nominalisten des
14. Jahrhunderts zwar Gegenstände philosophiegeschichtlicher Einzelforschung, aber nicht Bezugspunkte philosophischer Diskussionen“ (S. 10). Hier wollten Herausgeber und Autoren mit diesem Mediävistenkongress offensichtlich den Blick weiten. Dazu haben sie bereits im Untertitel des Kongressthemas die Extrempositionen benannt: Muss die Seele als Substanz oder nur als Eigenschaft bzw. funktional gesehen werden? Und zugespitzt:  Wie können überhaupt „die grundverschiedenen Komponenten des Körpers und der Seele in einem Wesen überhaupt zur Einheit kommen?“ (S. 11). Zur Bearbeitung dieser Fragen spielen neben ontologischen Annäherungen auch psychologische und neurobiologische eine nicht unbedeutende Rolle. An dieser Stelle sei bereits angemerkt, dass westlich-christliche und östlich-jüdisch-islamische Überlegungen zu dem, was Seele denn nun „ist“, sowohl mehr neuplatonisch als auch mehr rationalistisch-aristotelisch angegangen worden sind (vgl. S. 15).
Kapitel I die Spannung von Seele und Intellekt: Um Klärungen zu ermöglichen, diskutiert Michael Städtler (Universität Wuppertal) die Erkenntnisfunktionen der aristotelischen Seelenlehre, um von dort auf die Seele als selbständiges Wesen gegenüber dem sterblichen Körper bei Thomas von Aquin zu kommen. Die voll entfaltete erlöste Seele hilft dann auch dem Körper bei der Auferstehung. Der Intellekt (Geist) – offenbar ebenfalls unsterblich – verdeutlicht nämlich die jeweils variierenden Lebensbedingungen und zeigt Vernunft in ihrer Selbständigkeit im Sinne einer Intellekt-Seele an. Frank Griffel (Yale University, New Haven) geht im Grunde denselben Fragen nach wie Michael Städtler, aber er konzentriert sich auf die islamische Begriffsgeschichte der Seele. Er bezieht sich dabei auf Ibn Sab’in (ca. 1217–1270) Abu l-Hudail (8./9. Jh.), Al-Ghazali (1058–1111), Fahr ad-Din ar-Razi (1149–1209) und Ibn al-Dschauzi (1114/1116–1201) und zeigt, wie die Seele sich verändert. War sie anfänglich nur ein Akzidens des Körpers, hat der aristotelische Einfluss insgesamt und Avicennas Psychologie im Besonderen in Richtung auf ihre (unabhängige) Substantialität verändert. Gerade für al-Ghazali und Avicenna gilt, dass der Geist dem Menschen von Gott eingehaucht wird (Koran 17:85, 15:29 und 32:9). Damit ist auch die Seele „eine selbständige Substanz …, die unabhängig vom Körper bestehen kann“ (S. 67). Tiziana Suarez-Nani (Université Fribourg, CH) zeigt, wie der Franziskanertheologie Franziskus de Marchia (gest. 1344) die aristotelische Seelenlehre hinter sich lässt, weil er verschiedene Grade der Form in einer einzigen Entität zu sehen vermag. So sind neue individuelle Formen möglich, die auf eine substantielle Form übertragen werden können und dadurch verschiedene Grade zur Vollkommenheit hin zulassen. Was bedeutet das für die intellektuelle Seele? Sie stützt intensivierend den menschlichen Intellekt in seinen verschiedenen graduellen Möglichkeiten auf diesem Weg.
Kapitel II befasst sich mit mystischen Zugangsweisen zur Seele im Zusammenhang mit rationalen Konstruktionen. Mehdi Aminrazavi (Mary Washington University, Fredericksburg, VA, USA) nimmt im Grunde die Tendenz im Beitrag von Frank Griffel auf, indem er den langwierigen Wandlungsprozess islamischen Seelenverständnisses anspricht, der schließlich auf eine einzige Entität hinzielt. Der philosophisch-persische Gnostizismus und die Konzeptprägungen von Intellekt und Seele etwa bei Al-Ghazali (1058–1111), Suhrawardi (1097–1168), Ibn Arabi (1165–1240), Mulla Sadra (1570/1571–1640) nehmen als Thema immer wieder ontologisch die „Einheit des Seins“ auf, und zwar so, dass die Seele nicht vom Sein abgetrennt werden darf. Zugleich sind die rationalen Möglichkeiten der Seele direkt zugeordnet, denn auf diese Weise versteht/erkennt sie die Wirklichkeit und die universale Natur der Dinge (S. 100).
Der Kunsthistoriker
Henri Stierlin (Genf) bleibt bei diesem Schwerpunkt, aber so, dass er islamisch-schiitisches Seins- und Seelenverständnis an der Architektur der Schah-Abbas-Moschee in Isfahan (mit Fotos) demonstriert
(vgl.:
https://en.wikipedia.org/wiki/Shah_Mosque). Sie ist Stein gewordenes Gebet im Horizont der Mystik Suhrawardis und damit zugleich Ausdruck der persischen Seele.
Y. Tzvi Langermann (Bar Ilan-University, Ramat Gan, Israel ) zeigt, wie der jüdische Philosoph und Theologe Sa‘d Ibn Manṣūr Ibn Kammūna (1215[?]–1284) zwischen dem Verständnis einer unzerstörbaren Seele und der nicht weniger bedeutsamen Fähigkeit der Seele, sich zu verändern, zu vermitteln sucht. Denn Veränderung muss ja auf dem Weg zur Vollendung der Seele möglich sein. Damit bleibt aber die Frage offen, wo das ewige Selbst als Kernpunkt der Seele seinen Ort hat. Denn dieses ist unveränderlich.
Kapitel III: Die Seele als Substanz und Funktion im Hochmittelalter enthält zwei Beiträge. In der Darstellung von Richard C. Taylor (Marquette University, Milwaukee, Wisconsin, USA) über Albertus Magnus und dessen innere Verbindung zu Aristoteles kritisiert Albert den stärker neuplatonisch ausgerichteten Avicenna zugunsten des rationalistisch-aristotelisch geprägten Averroes. Der Autor diskutiert dazu die Positionen Alberts im Blick auf die Lehre von der natürlichen Erkenntnis bei Thomas von Aquin. So ersetzen beide das scheinbar emanatorische Konzept des Intellekts bei Avicenna durch einen aktiven Intellekt (intellectus agens), der die Welterfahrung speichert. Er braucht dazu keine präexistenten Erkenntnisvorgaben. Dieses Intellektverständnis durchleuchtet Jeremiah Hackett (University of South Carolina, Columbia SC, USA) durch die Bestimmung intelligibler Formen bei den Franziskanertheologen Roger Bacon (um 1220–1292) und John Pecham (= Johannes Peckham, um 1225–1292). Bacon identifiziert den aktiven Intellekt mit Gott, der sein Pendant in der menschlichen Seele hat. Intellektuelle Erkenntnis gehört dann zu den Möglichkeiten der Seele. Damit wird die Einheit der Form aufgebrochen. Dies ist zugleich eine Kritik am aristotelisch argumentierenden Thomas von Aquin zugunsten von Avicenna. Diese Sichtweise leitet einen „Neo-Augustinismus“ ein (S. 165), der sich übrigens später auch bei Martin Luther zeigt.
Im Kapitel IV: Mittelalterliche Literatur stellt der Literaturwissenschaftler Hubertus Fischer (Universität Hannover) am Versepos „Willehalm“ des Wolfram von Eschenbach (um 1160/1180 – ca. 1220) dar, dass ewige Seele und irdischer Tod unzertrennlich zusammengehören. Dies wird trotz des Gegensatzes zwischen Christen und Heiden im Horizont einer beachtlichen Empathie für die Heiden erzählt. Dies ist auch der Grund für die Ambivalenz bei der Einschätzung der Handelnden im Willehalm. [Vollständiger Text (PDF)  - Bibliotheca Augustana (Hochschule Augsburg) >>> ]
Überhaupt ist die betonte Fragwürdigkeit alles Bestehenden (Kontingenz) offensichtlich. Sie führt dazu „wie aus der Sprache der Religion eine Sprache des Herzens werden kann“ (S. 180).
Beim Gang durch die variantenreichen Seelenverständnisse – mit der Tendenz,  die Seele nicht mehr als „Substanz“ wahrzunehmen – geht nun das Kapitel V konsequent weiter: Auf dem Weg zur Moderne: Die Entsubstantialisierung der Seele und ihre Folgen. Dazu gehören die klassischen Debatten um Realismus und Nominalismus im späten Mittelalter. Günther Mensching (Universität Hannover) führt vor, welches Schicksal die Seele im Nominalismus erfährt. Hauptzeuge dafür ist Wilhelm von Ockham (um 1288–1347): Die Seele wird nicht mehr als substantielle Einheit verschiedener Teile gesehen. Damit ist eine das Individuum übergreifende Aussage im Sinne von Menschheit (humanitas) nicht mehr möglich. Das bedeutet, dass man auch nicht mehr substantiell von Einheit reden kann mit der Konsequenz, dass man auch nichts Grundsätzliches über die Menschheit (humanitas) sagen kann. So gibt es auch keinen generellen Erkenntniszugang zur Seele mehr: Sinnliche Erkenntnis ist eines und die Funktionen des Intellekts sind ein anderes. Die Seele bezieht also ihre Gewissheit nur (noch) aus der Beziehung zu sich selbst (S. 193). Im Horizont der potentia absoluta Dei bleibt aber selbst dies hypothetisch.
Der früh verstorbene Philosophiehistoriker Thomas Dewender (Universität Bonn) beschreibt Johannes Buridan (um 1326 – ca. 1358) als Vertreter der via moderna, dessen Seelenlehre zwischen Aristotelismus und Alexandrismus schwankt. Das kann damit zusammenhängen, dass er mit dem spätantiken Philosophen, dem Peripatetiker Alexander von Aphrodisias (um 200 n.Chr.) in Verbindung gebracht wird. Dieser leugnete die Unsterblichkeit der Seele. Hat also Buridan eine materialistische Intellekt-Theorie vertreten? Man darf wohl davon ausgehen, dass die intelligiblen Formen nach dem Durchbruch der Erkenntnis (in Resten) bestehen bleiben, d.h. der Intellekt braucht im Sinne des Aristoteles Gedächtnisbilder (phantasmata), damit die ursprünglichen Erkenntnisakte (im Horizont sinnlicher Erfassung) überhaupt erzeugt werden können.
Mit dem Vortrag am Tagungsschluss führt Hinderk M. Emrich (Medizinische Hochschule Hannover) auf ein neues „Terrain“: Neurobiologie der Seele? Resonanzen! Hier geht es konsequent um ein Entsubstantialisierungskonzept der Seele im Blick auf Funktionen des menschlichen Zentralnervensystems und damit um „Resonanzphänomene im interpersonalen und im intrapersonalen Bereich“ (S. 207). Unter Berufung auf Marin Bubers Buch „Ich und Du“
(S. 211) wird der Gedanke der Beziehung leitend. Das Ich ist weder das eine noch das Du das andere, denn das Entscheidende geschieht „zwischen“ den Personen. „In diesem Sinne gibt es auch in dem >Zwischen< zwischen Gehirn und Körper eine Art >intrapersonales Selbst<, das sich eben gerade nicht auf neuronale Repräsentanzen reduzieren lässt“ (S. 211). Der Autor lässt die Frage offen, ob man hier (wieder) von „Seele“ sprechen dürfte.
Resümee: Das Wesen der „Seele“ zwischen körperlicher Substanz und geistiger Funktion
Als Ergebnis einer Fachtagung ist das Buch für den normalphilosophisch Interessierten nicht leicht zu lesen.Das gilt ergänzend für die lateinischen Zitate in den Texten und in den Anmerkungen. Sieht man von dieser Zugangsschwierigkeit ab, bietet dieses Buch ein geradezu aufregendes Panorama von Seelenverständnissen im Mittelalter, die in der Spannung von Substanz und Funktion, von Möglichkeit und Wirklichkeit, von Zeitlichkeit und Unvergänglichkeit erheblich schwanken. Man spürt aber auch, wie metaphysische Konstrukte allein durch die Beschreibungen des Intellekts unterschiedlich ausfallen. So kommt offensichtlich auch heute keiner an Aristoteles, Plato, den Neuplatonikern, Averroes und Avicenna vorbei. Unsere Seelenverständnisse sind bewusst und unbewusst von diesen Debatten seit der Antike geprägt. Den (unüberwindbaren?) Gegensatz von Substanz und Funktion mit Hilfe der mittelalterlichen Konstrukte weiterzuführen, ist darum nicht nur eine Aufgabe für Spezialisten, denn offensichtlich ist „Seele“ auch heute weit mehr als eine Metapher. Man sieht zwar nicht sofort, aber auf den zweiten Blick, dass hier grundsätzliche Suchbewegungen des Menschseins auf dem Spiel stehen.


English summary: The essence of the "soul" in the Middle Ages
between physical substance and intellectual function
As a result of a symposium 2012 at the University of Hanover this book is not easy to read for people who are more popularly interested in philosophy. This concerns also the Latin quotations in the texts and in the notes which are not translated. Apart from these difficulties, this book offers an almost exciting panorama to understand the “being” of the soul in the Middle Ages. It fluctuates considerably in the tension of substance and function, of possibility and reality, of temporality and immortality. But it can also be seen how metaphysical constructs affects the descriptions of the intellect in a different manner. So obviously today nobody can ignore Aristotle, Plato, the Neoplatonists, Averroes and Avicenna. Our understanding of the soul is consciously and unconsciously shaped by these debates since the antiquity. It is therefore not only a task for specialists in characterizing the (insurmountable?) opposition, when the soul is considered as substance and/or function with the help of medieval constructs, because even today "soul" is much more than a metaphor. It is obvious – not immediately, but at a second glance – that basic researches for a better understanding of the human being are here on trial.

Résumé français:
L'essence de "l'âme" au Moyen Age entre substance corporelle et fonction intellectuelle
À la suite d'un symposium 2012 à l’université de Hanovre, ce livre n'est pas facile à lire pour les personnes, qui sont plus populairement intéressées à la philosophie. Ceci concerne aussi les citations latines dans les textes et les notes, lesquels ne sont pas traduit. Outre cette difficulté d'accès, ce livre offre un panorama presque passionnant de la compréhension de l’âme au Moyen Âge, qui fluctue considérablement dans la tension de la substance et de la fonction, du possible et de la réalité, de la temporalité et de l'immortalité. Mais on peut voir aussi comme les constructions métaphysiques influencent les descriptions de l'intellect d’une manière différente. Il est donc évident que personne ne peut ignorer aujourd'hui Aristote, Platon, les Néoplatonistes, Averroës et Avicenne. Notre compréhension de l'âme est façonnée consciemment et inconsciemment par ces débats depuis l'Antiquité. C’est pourquoi cela n’est qu’une tâche pour les spécialistes pour caractériser l’opposition (insurmontable?), quand l’âme est considéerer comme substance et/ou fonction avec l’aide de constructions médiévales; car même aujourd’hui, "âme" est bien plus qu’une métaphore. On ne peut pas voir ici immédiatement, mais au second regard, que des recherches fondamentales pour comprendre la condition humaine sont en cause.
Reinhard Kirste
Rz-Mensching-Seele-MA, 31.01.2019 



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