Mittwoch, 27. November 2019

Dalai Lama / Michael von Brück: Mut zum Wagnis und Mut zur Bescheidenheit


Dalai Lama / Michael von Brück:
Wagnis und Verzicht.
Die ermutigende Botschaft des Dalai Lama
Übersetzt von Elisabeth Liebel.
München: Kösel 2019, 256 S.
--- ISBN: 978-3-466-37235-5 --- 

Den Dalai Lama (geb. 1935) und den Münchener Evangelischen Theologen Michael von Brück
(geb. 1949) verbindet eine jahrzehntelange Freundschaft.

Beide Persönlichkeiten sind in ihrem Denken und Handeln kontinuierliche Promotoren des christlich-buddhistischen Dialogs und interreligiöser Begegnungen. Sie lassen sich bewusst auf andere religiöse Traditionen ein und schöpfen aus ihren Quellen. Das vorliegende Buch ist das Ergebnis von Gesprächen im April 2018 in Dharamsala, dem indischen Zufluchtsort des Dalai Lama seit 1959. Beide – durch das Alter, aber auch durch eine bewusste Lebenseinstellung gereift, blicken zurück, und zwar in der Spannung von Wagnis und Verzicht. Das bedeutet einerseits immer wieder Aufbruch zu neuen Ufern und andererseits kluge, nicht verzagte Selbstbeschränkung und damit die Möglichkeit, Lebensqualität durch intensivere Konzentration zu gewinnen (S. 11). Aber nur in dieser Spannung ist Leben möglich, gerade wenn man wie von Brück die 70 erreicht hat oder schon auf über 10 weitere Jahre des Lebens zurückblicken kann wie der 84jährige Dalai Lama.
Es geht bei diesem Gedankenweg der beiden Gesprächspartner um Sinnmarkierungen. Sie beziehen sich auf persönliche, prägende Erfahrungen, um Bildung, Erziehung, um die Wahr-Nehmung der wechselseitigen Abhängigkeiten, um Familie und Freundschaften, aber auch um die vielfältigen Verantwortungsfelder in Politik, Religion, Medien, Ökologie und Technologie. Dazu beziehen sich beide auf wichtige Vorbilder, die in diesen Gesprächen immer wieder vorkommen: Shantideva, Aristoteles, Friedrich von Weizsäcker, Heisenberg, Peter L. Berger, Gandhi, Albert Schweitzer, Thomas von Aquin, Hans Küng. Von diesen Denkern und Akteuren her gehen die Überlegungen dann immer wieder zu einer Globalen Ethik und zu Wertebegründungen mit und ohne Religion. Die Ermutigungsbotschaft des Dalai Lama besteht dann eigentlich darin, immer wieder im Horizont der Liebe eine Praxis des Mitgefühls zu entwickeln und mit der Orientierung auf eine bessere Welt hin zu verbinden.
Es versteht sich von selbst, dass die Gesprächssituation nicht den Regeln eines Essays folgt. Darum gibt es auch manche Wiederholungen – gerade an den zentralen Erkenntnissen einer Lebensorientierung zwischen Wagnis und Verzicht. Das zeigt sich etwa deutlich in der vom Dalai Lama immer betonten wechelseitigen Abhängigkeit aller Lebensäußerungen (z.B. S. 29.82ff.148ff).
Insgesamt tritt in den Gesprächen immer klarer hervor, inwiefern sowohl der Einzelne als auch gesellschaftliche Gruppen gleichermaßen herausgefordert sind; denn es geht um das Zusammenleben über den eigenen begrenzten Bereich hinaus. Die Weltentwicklung gerade auch angesichts des Klimawandels kann letztlich niemanden gleichgültig lassen. Im Horizont weiter zu erwartender dramatischer Veränderungen ist es aber auch wichtig, in ein Gleichgewicht von Emotionen und Gefühl zu kommen (S. 41), um mit Vernunft und Fantasie sich den gegenwärtigen Herausforderungen zu stellen. Der oft vorherrschende Materialismus und ein ego-zentriertes Glücksstreben zeigen beunruhigend ein reduktionistisches Menschenbild. Statt einer Ego-Stabilisierung ist darum Offenheit eines jeden/einer jeden gefragt, um das heute in der Welt Not-Wendende im Blick auf die Zukunft aller zu tun. Das heißt, die Probleme erkennen, benennen und gemeinsam angehen. Glück darf man nicht mit materiellem Wohlstand verwechseln, vielmehr geht es um ein harmonisches und sinnerfülltes Leben. So verschwindet die Ego-Zentriertheit zugunsten der achtsamen Wahr-Nehmung von umfassenden Lebenszusammenhängen. Hierin liegt der allerhöchste Wert. Das setzt aber voraus, dass sich auch Religionen transformieren, denn in ihrer Geschichte hat es genügend unheilvolle Entwicklungen und Formen gegeben (S. 184ff). „Wir sind also in der Verantwortung, Umstände zu schaffen, die zu positiven Erfahrungen mit interreligiöser Kommunikation führen“ (Dalai Lama, S. 194) – und dies mit „Vernunft und Fantasie gleichermaßen (S. 194ff).
Schon am Beginn der Gespräche hatte der Dalai Lama deutlich gemacht, dass gerade auch in religiösen Zusammenhängen die Vernunft nicht ausgeblendet werden darf, sondern die Kritik an Autoritäten geradezu zwingend ist. Michael von Brück fragte: „Wenn ein Guru etwas lehrt, das der eigenen Vernunfteinsicht widerspricht, dann soll man das kritisieren und verwerfen. Sogar dann, wenn es sich um religiöse Überzeugungen handelt?“ (S. 18). Unter Berufung auf Nagarjuna (2./3. Jh.) und Candrakirti (8. Jh.) antwortet der Dalai Lama: „Ganz recht. Unser Denken und Handeln sollte von Vernunft und klarem Verstehen geprägt sein. Tugendhaftes Verhalten ist vernunftgemäß, also übt man sich allein aus diesem Grunde in tugendhaftem Handeln“ (S. 19). So gehören Religion und Urteilskraft untrennbar zusammen, was sich auch in der eigenen religiösen Praxis zeigt. Die weltweit zunehmenden religiösen Doppel- oder Mehrfachidentitäten oder Mehrfachzugehörigkeiten sind dazu jedoch nicht nötig (z.B. Christ und Buddhist).
Die Gespräche münden in zwei Schlussabschnitte unter dem Schlüsselwort Heutige Verantwortung“. Zuerst spricht Michael von Brück über die Aufgabe einer globalen Ethik im interkulturellen Kontext. Angesichts unterschiedlicher Auffassungen von Wirklichkeit muss im Horizont des unbestreitbaren Pluralismus die Zukunftsfähigkeit in menschlicher Vielfalt ermöglicht werden. Religionen sind darum herausgefordert, angesichts sich (weiter) entwickelnder Wertesysteme und deren Ansprüchen Defizite zu erkennen und eine konstruktive Rolle zu spielen
(S. 221). „Der heutigen religiösen Situation fehlt es … häufig an der kritischen Aneignung der Tradition, wenn man nicht nach Wissen strebt, das durch Auseinandersetzung erworben wurde, sondern sich auf unkritische Behauptungen zurückzieht, die darauf abzielen, absolut gültige Aussagen (über die Wahrheit, Gott, die Autorität des Guru) zu rechtfertigen“ (S. 222f). Darum ist es unabdingbar, im ethischen Diskurs Fairness und Tiefgründigkeit zu erreichen.
Im abschließenden Beitrag betont der Dalai Lama, den Sinn des Lebens durch Mitgefühl zu entwickeln. Nur so ist ein Weg aus den Gewaltkonflikten heraus zum Glück möglich. Dieses nicht ego-zentrierte Glück erinnert an das Grundbedürfnis des Menschen nach Liebe. Bei allen Schwierigkeiten ist als Ziel anzusteuern, der Menschheit deutlich zu machen, dass die Erde als einzige Heimat aller zur Verfügung steht (S. 237). Mit Gewalt wird nur Gegengewalt erzeugt; dagegen fordert die Erkenntnis wechselseitiger Abhängigkeit zu gemeinsamer Verantwortung heraus. In der Spannung von Wagnis und Verzicht sieht der Dalai Lama Hoffnung begründet. Er plädiert darum für eine säkulare Ethik, die er im indischen Sinne als „einen umfassenden Respekt für alle Religionen ohne jede Voreingenommenheit [versteht], also auch den Respekt für jene, die keinem religiösen Glauben folgen“ (S. 248). Die Forderung nach Verständnis und Harmonie unter den spirituellen Traditionen ist ihm darum ein Herzensanliegen. Eine neue Vision für die Zukunft kann nur in der Erkenntnis geschehen, dass keiner für sich eine Insel ist, sondern dass es wichtig ist, die Gedanken im Sinne eines gemeinsamen Aufbruchs (Wagnis) zu teilen. Dies tut der Dalai Lama seit vielen Jahrzehnten an den verschiedensten Orten dieser Welt. „Wir müssen die Erziehung des Geistes mit der Erziehung des Herzens zusammenbringen“ (S. 250); nur so lassen sich die großen Herausforderungen der immer stärker globalisierten Welt, besonders angesichts der kriegerischen Konflikte und des gefährlichen Klimawandels bewältigen.
Bilanz: Mut zum Wagnis und Mut zur Bescheidenheit als Hoffnungszeichen in einer bedrohten Welt
Der evangelische Christ und Theologe Michael von Brück, Universität München, und der in der tibetisch-buddhistischen Tradition lebende Dalai Lama trafen sich im Jahre 2018 zu einem Gespräch in Dharamsala, dem indischen Exil des Dalai Lama. Im Horizont ihrer jeweiligen religiösen Tradition entwickelte sich eine beeindruckend tiefe interkulturelle und interreligiöse Kommunikation. Angesichts vieler abzusehender Unwägbarkeiten und Gefährdungen im Blick auf die Zukunft unserer Welt plädieren die Autoren für das Wagnis, gemeint ist Wage-Mut, aber nicht Über-Mut. Es sei ein Wortspiel erlaubt: Es ist ein Waage-Mut, der im Diskurs der Gesellschaften, aber auch auf universaler Ebene die Situation unserer gegenwärtigen immer mehr sich globalisierenden Welt abwägt und daraus Folgerungen zieht, die auch in die soziale und politische Praxis umgesetzt werden müssen. Vertrautes muss dabei oft aufgegeben und Neues riskiert werden. Der Klimawandel und das mit den kriegerischen Konflikten verbundene Leiden der Menschen sind dabei Schlüsselereignisse, die dringend zur Veränderung herausfordern. Diese lässt sich nicht ohne bewussten Verzicht realisieren. Eine solche Haltung ist De-Mut. Sie macht Menschen und die Welt nicht zum Instrument eigener Interessen, sondern hat das Ganze im Blick und ermöglicht verantwortliches Handeln.
All dies geschieht jedoch auf der Grundlage einer Spiritualität, die sich vom Transzendenten in die Immanenz weisen lässt, und zwar im Horizont eines umfassenden Mitgefühls und einer universalen Liebe im Zeichen der Gewaltlosigkeit. Dort haben nicht nur die Emotionen, sondern auch die Vernunft einen berechtigten Platz.
Der ebenfalls von beiden Autoren eingeforderte Verzicht bedeutet darum nicht beeindruckende oder missmutig ertragene Askese, sondern einen Weg der Mitte, ein Weg der von Bescheidenheit und Augenmaß geprägt ist, damit letztlich allen Menschen Zukunft eröffnet wird.
Es sei angemerkt, dass in dieser Hinsicht durchaus die inzwischen weltweit agierende Fridays-for-Future-Bewegung als ein ermutigendes Zeichen des dringenden Handlungsbedarfs für die Ermöglichung einer gemeinsamen Zukunft angesehen werden kann. Vgl.:
https://de.wikipedia.org/wiki/Fridays_for_Future

Reinhard Kirste 
--- Rz-Dalai-Brück-Wagnis, 27.11.19

CC


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