Freitag, 12. Juni 2020

Frank Vogelsang: Soziale Verbundenheit und Verantwortung als Chance für die Zukunft


Frank Vogelsang: Soziale Verbundenheit: Das Ringen um Gemeinschaft und Solidarität in der Spätmoderne, 

Freiburg u.a.: Karl Alber (Herder) 2020,240 S.
--- ISBN-13: 9783495491485 --- 32,00 €


 English abstract at the end of the review

Als Autor nimmt sich Akademiedirektor Dr. Frank Vogelsang, Evangelische Akademie im Rheinland, vieles vor und liefert auch vieles, wie vorher in einer Vielzahl von Publikationen mit philosophisch-theologischer Wirklichkeitsdeutung. Die neue, gut gegliederte Arbeit hat er in zwölf Kapitel unterteilt. Der Diplomingenieur und promovierte ev. Theologe beschreibt den Gesellschaftlichen Zusammenhalt“ und den spürbaren sozialen Wandel. Daher hat die Evangelische Akademie im Rheinland 2019 den neuen Themenbereich „Gesellschaftlicher Zusammenhalt“ begründet. Was können die Kirchen, Christinnen und Christen beitragen – durch Erfahrungen im entwicklungspolitischen Arbeiten und Engagement für ein gerechtes Zusammenleben in der Gesellschaft.
Vgl.:
https://www.kirche-arbeit-wirtschaft.de/veranstaltungseintrag.php

Vogelsang zeichnet zunächst die Entwicklung in gegenwärtigen Gesellschaften in den Kapiteln 1 und 2 nach, und zwar  durch hegemoniale Diskurse der Spätmoderne als Entwicklung europäischer Gesellschaften. Die ambivalente Entwicklung danach (Kapitel 3/4) hat große Errungenschaften mit sich gebracht, und zwar die zentrale Bedeutung von Werten wie Autonomie und Universalität, aber gleichzeitig die gesellschaftlichen Formen der Verbundenheit geschwächt. Interessant ist dabei der Exkurs S. 109 ff:  Ökologische Pfade – Spuren der Verbundenheit mit der Umwelt. Das Kapitel 7: Im Wandel der Formen der Verbundenheit in Zeiten großer Transformationen basiert auf dem Vergleich der Jahre 1820 und 2020* sowie auf unterschiedlichen Vorstellungen von Solidarität und Gemeinschaft (Kapitel 8/9): Die konservative Vorstellung von Gemeinschaft setzt andere Akzente wie die progressive Vorstellung von Solidarität (vgl. dazu Marx/Engels, aaO S.172 ff.)  oder die bürgerliche Form von Vereinen oder Unternehmen. Bedeutung haben auch religiöse Gemeinschaften wie Christliche Formen der Verbundenheit (Kapitel 10, vgl. dazu Bonhoeffer S. 187 ff.). Tendenzen und Vorstellungen von Gemeindeverwirklichung spielen hier eine wichtige Rolle.
Die letzten 50 Jahre sind durch ein dynamisches und weltweit verteiltes Wirtschaftssystem (Globalisierung) und  eine Betonung der Perspektiven flexibler einzelner Menschen bestimmt. Bereits 2000 hat Robert Putnam für die USA einen kontinuierlichen Rückgang von Sozialkapital diagnostiziert, d.h. im Blick auf Werte und Normen, die solidarisches und auf die Gemeinschaft bezogenes Denken und Handeln unterstützen und die gesellschaftliche Entwicklung fördern.  Der Verlust von längerfristigen Formen der Verbundenheit hat auch die europäischen Gesellschaften erfasst. Die Gesellschaft der Spätmoderne ist geprägt durch eine grundlegende Ausrichtung auf Menschen als flexible Individuen und auf abstrakte soziale Systeme (z.B. das Wirtschaftssystem). Daher ist es schwierig, stabile Formen von Solidarität und Gemeinschaft zu entwickeln. Das demonstrieren derzeit die Parteien, Gewerkschaften, Vereine und religiöse Gemeinschaften (man denke an die Kirchenaustritte), denn heute haben Werte wie Autonomie und Universalität zentrale Bedeutung. Das ideale Leben ist ein Mischverhältnis von Verbundenheit und Distanz. Kann die aktuelle Solidarität auch über die Corona-Krise hinaus den Rückgang von gesellschaftlicher Verbundenheit ausgleichen und Lösungsansätze für Gemeinschaft und Solidarität längerfristig wieder gefunden werden?
Als Formen der Verbundenheit in der Zukunft können digitalen Medien eine wichtige, aber keine alles bestimmende Bedeutung erlangen. Vogelsang verweist darum zum Schluss des Buches in Kapitel 11 auf hybride Netzwerke, die sich ebenso durch digitale Medien wie lokale Verortung positionieren. Viele bekannte Beispiele für sporadische Solidarisierungen „Fridays for Future“, # MeToo usw. können komplexe politische Prozesse nicht ersetzen. Auch christliche Formen der Verbundenheit basieren auf offenen Netzwerken des alltäglichen Lebens am gleichen Ort sowie von Anfang an auf der „weltweiten“ Ökumene. „Wahrscheinlich werden sich die Kirchen in solch hybriden Netzwerken weiter entwickeln, Hierarchien und Zentralität werden immer weniger bedeutsam sein“ (S. 217). Wichtiger ist es, die gegenseitige (Mit-)Verantwortung und (Mit-)Verpflichtung zu betonen.
Abschließend in Kapitel 12 stellt der Autor „Eine universalistische Perspektive“ für Politik im historischen Kontext sowie Formen und Institutionen der Verbundenheit vor (z.B. die UNO/WHO und andere ethisch orientierte Organisationen). Durch die Corona-Pandemie 2020, werden mit einem Male global alle Bereiche des persönlichen Lebens sowie das Gesundheitswesen, politisch-wirtschaftliche Systeme usw. erfasst. Dazu bedrohen große Migrations- und Rassismus-Auseinandersetzungen die Gesellschaften. Angesichts hegemonialer Ansprüche (America First...etc.), demografischer Entwicklungen (bald 10 Mrd. Menschen?) und Gefahren durch den Klimawandel, die Umweltzerstörung und Pandemien können nur sozial-technische Innovationen zukünftig die gesellschaftliche Verbundenheit erhalten.
Das Ringen um Gemeinschaft und Solidarität war schon wichtig vor der Spätmoderne: Bereits in der Reformation war Glaubensfreiheit als Thema wichtiger als ein gerechtes Zusammenleben in der Gesellschaft. Vogelsang verweist hier auf Martin Luthers prägnante Doppelthese "Von der Freyheyt eyniß Christenmenschen“ 1520.In  der Abhandlung „Von Kaufshandlung und Wucher“ 1524 zeigt Luther bei global agierenden Handelsgesellschaften (Fugger, Welser usw.) auch Vorgehensweisen, wie soziale Verbundenheit verletzt wird (vgl. Fußnote 1, S. 220).

Generell beweist Vogelsang wieder sein profundes Verständnis der Materie und lässt spüren, dass er sich gern damit beschäftigt, komplexe Themenbereiche verständlich zu machen. Diese gute Neuerscheinung ist ein lesenswertes und weitsichtiges Werk. Zur weiteren Orientierung verfügt das Buch über ein erhellendes Autorenregister und ein aufschlussreiches Literaturverzeichnis (S. 229-234).

English Abstract
Frank Vogelsang, Director Protestant Academy Rhineland (EKiR), presents much, as before in many publications with philosophical-theological interpretation. He has divided the new, well-structured work into twelve chapters: describing "social cohesion" and noticeable social change. Academy EkiR in 2019 founded the new subject area "Social Cohesion" on: What can churches and Christians contribute for a just coexistence in society? He first traces the development in contemporary societies in Chapters 1 and 2, using hegemonic discourses of  modernity as the development of European societies. The ambivalent development (Chapter 3/4) brought great achievements, central importance of values such as autonomy and universality, but at the same time weakened all social forms of connectedness. Ecological paths as connectedness with the environment is presented in this context. Conservative ideas of community sets other accents as the progressive ideas of solidarity (see Marx/Engels, ibid. p.172 ff.) or bourgeois form of associations or companies. Religious communities such as Christian forms of solidarity are also important (Chapter 10, see Bonhoeffer pp. 187 ff.).
The last 50 years are characterized by dynamic globalization and an emphasis on flexible individuals. Robert Putnam diagnosed 2000 a continuous decline in social capital for the USA, i.e. in terms of values and norms that support solidarity and community-based thinking and action and promote social development.  This loss of longer-term forms of solidarity affected European societies: demonstrated by political parties, trade unions, associations and religious communities (D- exodus from churches). Ideal life is a mixture of solidarity and distance. But can current solidarity  in Corona crisis compensate for the decline in social connectedness and can solutions for community and solidarity be found again in future?  As forms of connectedness in the future, digital media can bring an important significance as in chapter 11  hybrid networks via  digital media as via localization.  Bur examples of sporadic solidarity "Fridays for Future", # MeToo etc. cannot replace complex political processes for socio-political challenges and sustainable development. Christian forms of solidarity are based on open networks of everyday life in the same place and from the beginning on "worldwide" ecumenism. Finally Chapter 12 he presents "A Universalist Perspective" in historical context as well as forms and institutions of connectedness (e.g. UN/WHO and other organizations). Corona Pandemic 2020 affets all areas of personal life: health care, political-economic systems, etc. Also large migration and racism conflicts threaten the societies. In view of hegemonic claims (America First...etc.), demographic developments (soon to be 10 billion people?) and the dangers of climate change, environmental destruction and pandemics, only social-technical innovations can maintain social cohesion in the future. Vogelsang shows enjoys making complex topics understandable.

Prof. Dr. rer. pol. Eckhard Freyer, Bonn


Ergänzende Informationen: Der Blog von Frank Vogelsang
Einige Thesen des Buches sind in der Sendung „Philosophisches Radio“ auf WDR 5 vorgestellt worden:
χ – Chiasmus- Aus elementarer Verbundenheit leben = Blog von Frank Vogelsang:
https://frank-vogelsang.de/soziale-verbundenheit/
Die Beiträge dieses Blogs bewegen sich zwischen zwei Spannungspolen unserer Zeit, zwischen dem Pol von moderner Gesellschaft, von Wissenschaft und Technik auf der einen Seite und dem Pol von Erfahrungen von elementarer Verbundenheit auf der anderen Seite. Im Alltag orientieren wir uns in einem offenen Feld, das irgendwo dazwischen liegt. Das Leben zeigt sich als ein Mischverhältnis von Verbundenheit und Distanz.
Unsere Kultur neigt dazu, die Seite der Distanz zu betonen und die Seite der Verbundenheit eher gering zu schätzen. Diese einseitige Betonung hat Folgen: Menschen werden dann zu sich selbst verwirklichenden Individuen in abstrakten gesellschaftlichen Systemen (Markt). In der Gesellschaft werden die Formen langfristiger sozialer Verbundenheit immer schwächer (Parteien, Gewerkschaften, Vereine, Kirchen). Darüber hinaus verengt sich unser Verhältnis zur Welt auf einen technisch-objektivierenden Zugang, auch in vielen Umwelt- und Klimadiskussionen. Unter diesen Voraussetzungen löst auch die Nachricht einer Verbundenheit mit Gott immer weniger Resonanz aus. Die elementare Verbundenheit ist aber ein unauflöslicher Anteil unserer leiblichen Existenz. Sie zeigt sich in der sozialen Verbundenheit mit anderen Menschen, sie zeigt sich in  der Verbundenheit mit der Welt als der Umwelt, sie zeigt sich in der Verbundenheit mit Gott in dem von ihm zugesagten Bund. Die elementare Verbundenheit ist nicht trivial, sondern weist auf das Geheimnis der Welt. Dieses Geheimnis zeigt sich in der Nähe, nicht aus der Ferne. Der Chiasmus (X) deutet an, dass auch alles Gegenüber aus einer ursprünglichen Verschränkung, aus einer elementaren Verbundenheit stammt. Die oft übersehene Dimension von Verbundenheit der menschlichen Existenz wieder in den Blick zu nehmen und neu zu entdecken ergreifen die Beiträge des Blogs aktuelle gesellschaftspolitische, philosophische und religiöse Themen
(Vgl. Dazu: Das Problem  mit den Fakten und den „fact news“:

https://frank-vogelsang.de/2020/06/11/das-problem-mit-den-fakten-und-den-fact-news/

Rz-Vogelsang-Freyer, 12.06.2020
Lizenz: CC 




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