Donnerstag, 14. Januar 2021

--- Lektionen der Freiheit für die USA und für Europa --- von Montesquieu zu Joe Biden

 Der Mensch, dieses biegsame Wesen, das sich in der Gesellschaft
den Gedanken und Empfindungen der anderen anpasst, ist gleich fähig,
seine eigene Natur zu erkennen, wenn man sie ihm zeigt,
aber auch selbst das Gefühl dafür zu verlieren, wenn man sie ihm verbirgt. 


Montesquieu: Vom Geist der Gesetzeübersetzt von Ernst Forsthoff, 2 Bände, 
Tübingen: Mohr  1951, Band 1, S. 7. 
Charles Louis MontesquieuVom Geist der Gesetze. Eine Auswahl. Herausgegeben von: Friedrich August Heydte - Übersetzt von: Friedrich August Heydte - Kommentar Friedrich August Heydte

Bei Angriffen militanter Trump-Anhänger und der Erstürmung des US-Kapitols kam auch den Medien/sozialen Medien beim Umgang mit der Selbstinszenierung der Demonstranten eine besondere Rolle zu. Die Erstürmung des Capitols durch Trump-Anhänger erschüttert Menschen weltweit. Tote und Verletzte sind zu beklagen. „Zitadelle der Demokratie“ nennt Joe Biden das Kapitol. Kann er den Respekt und die Rolle der Vereinigten Staaten wiederherstellen?

Aufgrund der außergewöhnlichen Ereignisse in den USA seien hier einige Buchhinweise präsentiert - Gedanken und Rezensionen aus Anlass der Amtseinführung von Joe Biden am 20. Januar 2021 - ergänzend zur Wahl in den USA  am 3. November 2020.
Die amerikanischen Verhältnisse sind eigentlich ein Vorbote für das, was auch in Europa geschieht. Ich habe auch daran gedacht, wie Menschen versucht haben – viel, viel weniger als in den USA und letztlich ohne Erfolg - am 30. August 2020 den Reichstag zu stürmen. Das zeigt, dass die Tendenz, die es in Amerika gibt, sich auch in westeuropäischen Staaten breitmacht. Da müssen wir sehr wachsam sein.

1. Timothy Snyder: Die amerikanische Krankheit 
Vier Lektionen der Freiheit aus einem US-Hospital.
München: C.H. Beck 2020, 158 S.
Verlagsinformation mit Leseprobe und Inhaltsverzeichnis >>>
Aus dem Amerikanischen [ausgezeichnet] übersetzt von Andreas Wirthensohn:
Our Malady: Lessons in Liberty from a Hospital Diary.
New York et alii: Penguin Random House 2020


Der bekannte Historiker Timothy Snyder, Professor an der Yale-University, betrachtet das amerikanische Gesundheitssystem vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie und eigener Erlebnisse. 

Das spannend geschriebenes Buch ist eine vernichtende Kritik an den US-Regierungs-Reaktionen auf die Corona-Pandemie. Snyders Analyse ist ein persönlicher Krankenbericht und eine dringende Warnung, die Kommerzialisierung der Medizin zu verhindern und den Sozialstaat nicht aus der Hand zu geben.

Der Autor als Beispiel:
Am 29. Dezember 2019 wurde der Historiker Timothy Snyder schwerkrank. Er konnte nicht mehr stehen, kaum noch klar denken und wartete stundenlang in der Notaufnahme, bevor er untersucht und eilig in den Operationssaal gebracht wurde. Während sein Leben an einem seidenen Faden hing und das neue Jahr begann, wurde ihm bewusst, wie profitorientiert das Gesundheitswesen in den USA ist, und eine allgemein gute medizinische Versorgung nicht dazu gehört.

Dann kam die Pandemie. Die Regierung von Donald Trump machte alles noch viel schlimmer durch absichtliche Ignoranz, Desinformation und Machtspiele. Das Gesundheitssystem stand vor seinem ultimativen Test, und es versagte. Tausende von Amerikanern starben.
In diesem
Kontext rekonstruiert Snyder die Entwicklungen, die zu dieser Lage führten. Er beleuchtet dabei dunkle Momente und zeigt, welche Prinzipien beherzigt werden müssen, um von der “amerikanischen Krankheit” geheilt zu werden.

Der Inhalt beginnt mit einem Prolog: Einsamkeit und Solidarität, danach folgt die Einleitung: Unsere Krankheit, S.19.
Ausgesprochen lesenswert sind die vier Kapitel-Prinzipien:
1. Lektion- Gesundheitsversorgung ist ein Menschenrecht, S. 25Ff
2. Lektion- Erneuerung fängt bei den Kindern an, S. 61 ff
3. Lektion- Die Wahrheit wird uns frei machen S.79 ff
4. Lektion - Ärzte sollten das Sagen haben, S. 107ff.
Im
Schluss: Unsere Genesung , S.129ff
und
als emotionaler „Epilog: Wut und Empathie“, S. 137 ff.

Abschließende Bilanz: „Um frei zu sein, brauchen wir unsere Gesundheit, und für unsere Gesundheit brauchen wir einander“ (S. 140).

2. Über die Tyrannei. Zwanzig Lektionen für den Widerstand.
Übersetzung aus dem Amerikanischen von Andreas Wirthensohn. 
München: 
C.H. Beck, München 2017
Original:  On Tyranny: Twenty Lessons from the Twentieth Century“.
New York: Tim Duggan Books, New York 2017
 

In diesem Kontext zeigt der Bestsellerautor Snyder: „Wir sind nicht klüger als die Menschen, die erlebt haben, wie überall in Europa die Demokratie unterging und Faschismus, Nationalsozialismus und Kommunismus kamen. Aber einen Vorteil haben wir. Wir können aus ihren Erfahrungen lernen. Daher Leiste keinen vorauseilenden Gehorsam.“
Es sind 20 Lektionen für den Widerstand, mit denen Timothy Snyder die BürgerInnnen der Vereinigten Staaten von Amerika auf das 
vorbereitet , was kürzlich noch unvorstellbar schien: einen Präsidenten, der die etablierte amerikanische Demokratie und Republik gefährdet. Doch nicht nur in den USA sind Populismus und autoritäres Führertum auf dem Vormarsch. Auch in Europa rückt die Gefahr von rechts immer näher – als ob es das 20. Jahrhundert und seine Lehren niemals gegeben hätte. Snyders historische Lektionen, die international Aufsehen erregt haben, sind ein Leitfaden für alle, die jetzt handeln wollen - und nicht erst, wenn es zu spät ist.
Inhalt:
Kap. 1.
Leiste keinen vorauseilenden Gehorsam.
Kap. 2. Verteidige Institutionen.
Kap. 3. Hüte dich vor dem Einparteienstaat.
Kap. 4. Übernimm Verantwortung für das Antlitz der Welt
Kap. 5. Denk an deine Berufsehre.
Kap. 6. Nimm dich in Acht vor Paramilitärs;
Kap. 7. Sei bedächtig, wenn du eine Waffe tragen darfst; Spannend das
Kap. 8. (spannnend!] 
Setze ein Zeichen.
Kap. 9. Sei freundlich zu unserer Sprache.
Kap. 10. Glaube an die Wahrheit.
Kap. 11. Frage nach und überprüfe.
Kap. 12. Nimm Blickkontakt auf und unterhalte dich mit anderen.
Kap. 13. Praktiziere physische Politik. 
Kap. 14.  (mit wichtigen weiterführenden Überlegungen): 
Führe ein Privatleben. 
Kap. 15.
Engagiere dich für einen guten Zweck.
Kap. 16. Lerne von Gleichgesinnten in anderen Ländern.
Kap. 17. Achte auf gefährliche Wörter.
Kap. 18. Bleib ruhig, wenn das Undenkbare eintritt.
Kap. 19. Sei patriotisch.
Kap. 20.
Sei so mutig wie möglich. 

Es ist ein lesenswertes und spannendes Buch zu einer aktuell
und künftig sehr wichtigen Thematik.

3.  Timothy Snyder: Der Weg in die Unfreiheit. Russland, Europa, Amerika. 
München: C.H. Beck 2018, 376 S., 10 Karten 

                         

Mit dem Ende des Kalten Krieges hatten die liberalen Demokratien des Westens gesiegt. Von nun an würde die Menschheit eine friedvolle, globalisierte Zukunft erwarten. In den 1990er ging der Einfluss von West nach Ost: mit der Übernahme von ökonomischen und politischen Vorbildern, der Verbreitung der englischen Sprache, der Erweiterung der Europäischen Union und der NATO. Dabei deregulierten alle. Reiche Russen lebten und leben in einem Reich ohne Ost-West-Geographie, vielmehr unterhalten sie Offshore-Bankkonten, Briefkastenfirmen und organisieren anonyme Deals, bei denen das Vermögen gewaschen wird, das dem russischen Volk gestohlen wurde. In Russland und in der Ukraine entstanden journalistische Initiativen, um die Thematik Kleptokratie/Korruption öffentlich zu machen.
Dazu kann Snyder Untaten Putins nennen und - wie eng der Immobilienhändler Trump mit „Oligarchen“ aus GUS-Ländern verbunden war, auf deren Fluchtkapital sein Geschäftsmodell wesentlich beruhte. Snyder schildert darum die beängstigenden Kontakte zwischen russischen Oligarchen und Donald Trump, und er warnt uns vor den Konsequenzen. 
Daher ging der Einfluss in den 2010er Jahren stärker von Ost nach West. 
Seit Putin seine Macht in Russland etabliert hat, rollt eine Welle des Autoritarismus von Osten nach Westen, die Europa durch das Aufkommen antidemokratischer Politik erfasst. Es ist zugleich die Abwendung Russlands von Europa mit der Invasion der Ukraine, die Freude am Brexit-Referendum und der Wahl Trumps.

Ich teile nicht vollständig die vielen positiven Urteile zu diesem Buch von „BR24“,
„Foreign Affairs“, „Guardian“, „Huffington Post“, „Spiegel Online“, „Tagesspiegel“, „The Times“, „TIME“, „Welt“ u.a.
Ich erinnere vielmehr auch an die Mitverantwortung der Clinton-Administration für die Reformpolitik Boris Jeltzins.
   

4Arthur M. Schlesinger Jr.: Die Spaltung Amerikas.
Überlegungen zu einer multikulturellen Gesellschaft
Hg.:  Stefan Luft / Elham Manea /Sandra Kostner
Stuttgart: ibidem 2020, 172 S.


 

Mit dem Bestseller The Disuniting of America legte Arthur M. Schlesinger Jr. (1917–2007), Sonderberater von John F. Kennedy 1998 eine interessante Langfrist-Diagnose vor, die angesichts der gegenwärtigen Ereignisse in den USA beklemmend aktuell ist. 
Open Access >>>

Ergänzend: 

1.  “1619 Project”  der New York im Jahr 2020,  "which places slavery at the heart of the American founding. 1619 African slaves were first brought to the United States, or to the land that would become the United States, late in the next century. https://www.nytimes.com/interactive/2019/08/14/magazine/1619-america-slavery.html

2. Der Trumpismus als rechtskonservative-neonationalistische oder national-populistische Bewegungen in westlichen Demokratien spaltet die USA und in anderen Ländern weiter. Vgl.: 

3. Zum Gesundheitssystem der USA -
ein Kommentar des Rechtsanwalts Romano Minwegen, Bonn

Im Ärzteblatt vom 15.03.2018 war ein Beitrag, warum das US-Gesundheitssystem so teuer ist.
2016 betrug der Anteil des Gesundheitswesens ca. 17,8 % des BIP, in zehn anderen Ländern, mit einer ähnlichen Wirtschaftsleistung, zwischen 9,6 % (Australien) und 12,4 % (Schweiz). Dabei beträgt die Lebenserwartung in den USA, 78,8 Jahren, in   Deutschland liegt sie bei 80,7 Jahren und in Japan bei 83,9 Jahren. Das amerikanische System ist also ineffizient. Dabei fallen z.B. psychisch Kranke aus dem Raster und landen häufiger als Obdachlose auf der Straße.
Gründe können sein, dass Medikamente erheblich teurer sind als z.B. in Deutschland. Als Beispiel kann Advair (Fluticason plus Salmeterol) dienen: Kosten in den USA, 155 US-Dollar, versus 38 US-Dollar in Deutschland. Auch sind die Verwaltungskosten erheblich höher. Und Ärzte  und Krankenpfleger verdienen erheblich mehr als in Deutschland. Timothy Snyder hat also recht, wenn er einen Umbau des amerikanischen Gesundheitswesens fordert. 

Angesichts der aktuellen Ereignisse in den USA - beklemmend ist ein Rückblick:

5. Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft,
von der Verfasserin übertragene und neubearbeitete Ausgabe
Frankfurt a. M. 1955, 5. deutsche Ausgabe, 
ungekürzt wieder: München 1986. 
Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft:
I. Antisemitismus; II. Imperialismus; III. Totale Herrschaft, Ebd., S. 13f.

Vgl. auch: 

Die Vereinigten Staaten von Amerika wirken heute weniger vereint denn je – der Ruf als Land der unbegrenzten Möglichkeiten - was ist aus ihm geworden? Welche Auswirkungen hat die bewegte Geschichte des Landes auf unsere Gegenwart? 

Dazu lohnt ein Blick in diese Bücher:

6. Evan Osnos: Joe Biden, The Life, the Run, and What Matters Now,
New York: Scribner 2020, 177pp.
Deutsch: Joe Biden – Ein Porträt 
Aus dem Englischen von Ulrike Bischoff und Stephan Gebauer.
Berlin: Suhrkamp
2020, 263 S.
Inhaltsverzeichnis und Leseprobe >>>

Verlagsinformationen:
A concise, brilliant, and trenchant examination of Joseph R. Biden Jr.’s successful lifelong quest for the presidency by National Book Award winner. President-elect Joseph R. Biden Jr. has been called both the luckiest man and the unluckiest—fortunate to have sustained a fifty-year political career that reached the White House, but also marked by deep personal losses and disappointments that he has suffered.
Yet even as Biden’s life has been shaped by drama, it has also been powered by a willingness, rare at the top ranks of politics, to confront his shortcomings, errors, and reversals of fortune. As he says, “Failure at some point in your life is inevitable, but giving up is unforgivable.” His trials have forged in him a deep empathy for others in hardship—an essential quality as he leads America toward recovery and renewal.
Blending up-close journalism and broader context, Evan Osnos, who won the National Book Award in 2014, draws on nearly a decade of reporting for The New Yorker to capture the characters and meaning of 2020’s extraordinary presidential election. It is based on lengthy interviews with Biden and on revealing conversations with more than a hundred others, including President Barack Obama, Cory Booker, Amy Klobuchar, Pete Buttigieg, and a range of activists, advisers, opponents, and Biden family members. This portrayal illuminates Biden’s long and eventful career in the Senate, his eight years as Obama’s vice president, his sojourn in the political wilderness after being passed over for Hillary Clinton in 2016, his decision to challenge Donald Trump for the presidency, and his choice of Senator Kamala Harris as his running mate.
Osnos ponders the difficulties Biden faces as his presidency begins and weighs how a changing country, a deep well of experiences, and a rigorous approach to the issues, have altered his positions. In this nuanced portrait, Biden emerges as flawed, yet resolute, and tempered by the flame of tragedy - a man who just may be uncannily suited for his moment in history“ (Verlagsinfo: Scribner).

 "Joe Biden ist zugleich der unglücklichste und der glücklichste Mensch, den ich kenne."
Das sagt ein Weggefährte über den Mann, der bei der Präsidentschaftswahl 2020 Donald J. Trump herausforderte. Der Journalist Evan Osnos begleitet den Kandidaten der Demokratischen Partei seit Jahren und hat ihn immer wieder interviewt, zuletzt im Sommer 2020. Diese und weitere Gespräche mit Angehörigen und Weggefährten wie Barack Obama bilden die Grundlage dieser brillanten Nahaufnahme des 1942 geborenen Biden, in dessen Werdegang sich die Veränderungen der politischen Kultur der USA spiegeln. Mit gerade einmal 29 Jahren wurde der Sohn eines Autohändlers in den US-Senat gewählt. Seinen Amtseid legte er ab, nachdem er nur wenige Wochen zuvor seine erste Frau und seine Tochter bei einem Autounfall verloren hatte.
Nach Höhen und Tiefen führte ihn seine Karriere schließlich als Vizepräsident ins Weiße Haus. Joe Biden hat dramatische Schicksalsschläge und überraschende Wendungen erlebt. Vielleicht versetzt ihn gerade das in die Lage, eine zerrissene Nation zu einen, die Wunden der Trump-Ära zu heilen und einen neuen politischen Aufbruch zu ermöglichen"
(Verlagsinfo Suhrkamp).

Dazu: Süddeutsche Zeitung: SZ, 30.11.2020

In einer Doppelrezension bespricht Matthias Kolb zwei Titel, die helfen können, den neuen Präsidenten der USA zu verstehen. In diesem Porträt wird das gesamte Leben von Joe Biden gezeigt und der New Yorker Reporter habe gut herausgearbeitet - findet der Kritiker - wie sich jemand aus einfachen Verhältnissen und zudem mit einem Stottern behaftet, zum Erfolg hocharbeitet. Es gibt tiefe Einblicke auch in Überheblichkeiten, politischen Opportunismus und kleine Angebereien am Rande. Wichtig ist dem Kritiker aber zu betonen, dass der Autor hier einen sehr erfahrenen Mann vorstellt, der immerhin einmal "Schlüsselfigur" in den Bereichen Justiz und Außenpolitik war. Er sei ein Mensch, so ist der Rezensent überzeugt, der sowohl die Flügel seiner Partei zusammenbringen als auch mit dem politischen Gegner reden kann, eine Fähigkeit, die er für seine "neue Politik der Fairness" brauchen wird. 



Vgl. auch:

Joe Biden: Versprich es mir. Über Hoffnung am Rande des Abgrunds.
München: C.H. Beck 2020, 250 S.


Prof. Dr. Eckhard Freyer, Bonn

Redaktion: InterReligiöse Bibliothek (IRB)

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