Peter
Schäfer: Die Ursprünge der jüdischen Mystik.
Aus dem Amerikanischen von Claus Jürgen Thornton.
Berlin: Verlag der Weltreligionen im Insel-Verlag 2011, 671 S. Register -
--- ISBN 978-3-458-71037-0
Aus dem Amerikanischen von Claus Jürgen Thornton.
Berlin: Verlag der Weltreligionen im Insel-Verlag 2011, 671 S. Register -
--- ISBN 978-3-458-71037-0
Originaltitel: The Origins of Jewish Mysticism.
Princeton University Press 2011
Princeton University Press 2011
Peter
Schäfer arbeitete von
1974-1983
als Professor für Judaistik am Martin Buber-Institut der Universität zu Köln,
1983 wechselte er an die Freie Universität Berlin. Seit 1998 hat er zugleich die Ronald-O.-Perelman-Professur für
Jüdische Studien an der Princeton University inne. Er gehört zu den
international renommiertesten Judaistik-Forschern und erhielt 2007 den hoch
dotierten Preis der “Andrew W. Mellon Foundation”.
Seine breit gefächerte Veröffentlichungsliste
enthält u.a.:
--- Geschichte der Juden in der Antike.
Die Juden Palästinas
von Alexander dem Großen bis zur arabischen Eroberung (1983)
--- Mirror of His Beauty: Feminine
Images of God from the Bible to the Early Kabbalah(2004)
--- Wege mystischer Gotteserfahrung : Judentum,
Christentum und Islam (2006)
--- Jesus im Talmud (2007)
----
The Jewish
Jesus. How Judaism and Christianity Shaped Each Other (2012)
Die Geschichte der jüdischen Mystik vor der
Kabbala ist erstaunlicherweise bislang noch nicht geschrieben worden. Peter
Schäfer greift mit seinem Werk hier gezielt ein. Trotz seiner gut
verständlichen Sprache werden diejenigen, die nicht mit der Materie vertraut
sind, den Spannungsbogen und die facettenreichen exegetischen Details zwischen
jüdischer Apokalyptik, Auslegung der nachbiblischen Traditionen und Mystik nicht
immer leicht durchschauen. Denn der weite Weg beginnt mit einer ungewohnten
Sicht auf die apokalyptisch geprägte Thronwagenvision des Propheten Ezechiel (Kap.
1) hin zu den sog. apokryphen Henoch-Schriften. Weiterhin stellt Schäfer
Qumran, Philo von Alexandrien vor und endet bei der der vorkabbalistischen
Merkava (Merkaba)-Mystik. Die vielen Zitate, die die Intentionen von Verfassern
und Redaktoren verdeutlichen, belegen auch die Intentionen der einzelnen
Schriften.
Ausgesprochen
hilfreich zur Orientierung sind die zusammenfassenden Ergebnisse (S. 447-482).
Die historisch-exegetischen und literarkritischen Details sind in einem ausführlichen
Anmerkungsteil untergebracht (S. 483-598).
Die
schwierige Einschätzung von den Anfängen der Kabbala im Europa des 12. Jahrhunderts
geschieht dabei unter Bezug auf frühere Entwicklungslinien. Das ernüchternde Fazit:
Es lässt sich kein präzises Ergebnis ausmachen: Die Ursprünge der jüdischen
Mystik bleiben letztlich im Dunkel. So überlegt Schäfer auch im Diskurs und
teilweiser deutlicher Abgrenzung von anderen Forschern, seit wann man überhaupt
von jüdischer Mystik sprechen kann. Die Geschichte von der jüdischen
Apokalyptik über die Qumran-Rollen bis hin zur sog. mystischen Hekhalot-Literatur
der Spätantike stellt sich durchaus als Konglomerat verschiedener Strömungen
dar.
Über die
historische Aufarbeitung hinaus zeigt die Lektüre der herangezogenen Texte
etwas Grundsätzliches: Menschen treiben immer wieder fragend die Sehnsucht
weiter, wie man Gott nahe kommen oder in sich aufnehmen kann. Das führt auch
dazu, dass Schäfer nicht „definiert“, sondern „jüdische Mystik“ durch entsprechende
Annäherungen umschreibt und sich gegen eine allgemeine Kategorie „Mystik“
wehrt. Das hängt schließlich damit zusammen, dass mystische Formen sich aus
unterschiedlichen „cultural, religious and historical settings“ entwickelt
haben. „Wir sollten auch nicht vergessen, daß das, was wir Mystik nennen, kein
Äquivalent in irgendeiner der Sprachen hat, in denen unsere Quellen erhalten
sind“ (S. 481).
Dieser
Erkenntnis folgend, ergibt sich für die von Schäfer vorgestellten und
kommentierten Texte immerhin eine systematische Entwicklungslinie in acht
Abschnitten mit einer Bilanz im 9. Abschnitt.
1. Der alttestamentliche Prophet Ezechiel (6.
Jh. v. Chr.) erlebt eine intensive Berufungsvision (Ezechiel [Hesekiel] 1), gewissermaßen
unter kosmischen Bedingungen. Das Aufscheinen der Herrlichkeit Gottes in diesem
von himmlischen Wesen gezogenen Thronwagen ist zugleich eine Annäherung an
Gott:
„Der Gott, der Ezechiel erscheint, ist der Gott der Erzväter, der Gott des
Universums, der (noch) nicht auf den Tempel beschränkt ist“ (S. 81).
2./3. Henoch
und sein Kreis, der Aufstieg zum Himmel und Henochs geistige Gefährten in
der Bibel und in der nachbiblischen Wirkungsgeschichte: Es geht um die Prägung
der Henoch-Vision durch diejenige Ezechiels. Im sog. Wächterbuch erfolgt eine
strahlende Vision des „Großen“ (S. 93) mit seinen Engeln. Im Testament Levis, dem Jakobssohn, wird u.a. seiner
Weihe zum Priester nachgegangen. Er verweist auf den eschatologischen Priester
angesichts korrumpierter irdischer Priester. Schließlich beschäftigt sich
Schäfer noch mit den Bilderreden Henochs,
um dann das slawische Henochbuch
vorzustellen. Die Apokalypse Abrahams
zeigt die Verwandlung des Erzvaters in
einen Engel im Gegensatz zum götzendienerischen Verhalten des Volkes Israel. So
wurde der Tempel zerstört, aber eine schwache Hoffnung bleibt. In den Apokalypsen
der Propheten Jesaja und Zephanja wird das künftige Schicksal
des Einzelnen betont. Auch Jesaja wird in seiner Schau engelgleich bei seinem
Aufstieg bis zum 7. Himmel, aber es bleibt bei ihm ein Erdenbezug. Hier zieht
Schäfer im Sinne der geistigen Gefährten Henochs noch die neutestamentliche Johannesapokalypse heran, die für die spätere
Merkava-Mystik eine große Rolle spielt.
4. Der vierte große Block wird durch die Qumran-Literatur geprägt. Hier hebt
Schäfer nach der geschichtlichen Einleitung hervor: Qumran als Gemeinschaft von
wahren Priestern, als eine Gemeinschaft mit den Engeln. Diese werden die
Gemeinde auch in der (zu erwartenden) eschatologischen Schlacht begleiten.
Qumran ist jedoch zugleich auch eine liturgische Gemeinschaft mit Engeln.
Angesichts der vielen Spekulationen um die Gemeinschaft von Qumran ist dies ein
spannender, aber auch ernüchternder Zugang im Blick auf die wirkungsgeschichtliche
Bedeutung derjenigen Texte, die die Qumaran-Gemeinschaft prägten: Damaskusschrift, Gemeinderegel, Hymnenrolle, Kriegsrolle.
Der Autor hebt zur
Verdeutlichung besonders die Sabbatopferlieder, und den Selbstverherrlichungshymnus
(vermutlich vom wieder erstandenen „Lehrer der Gerechtigkeit“) hervor. Auch
hier das ernüchternde Fazit: „Nichts in den Texten von Qumran erlaubt uns, die
Vorstellung einer unio mystica, einer
mystischen Vereinigung mit Gott, in sie hineinzulesen, eine Kategorie, die von
Religionshistorikern (besonders solchen mit christlichen Hintergrund)
hochgehalten wird“ (S. 215).
5. Mit dem Zeitgenossen Jesu, dem Philosophen Philo von Alexandria, verlässt Schäfer
die apokalyptische Szenerie und geht auf die absolute Transzendenz von Philos
Gott und seiner Vielgestaltigkeit ein, die sich im Logos manifestiert. Im Blick
auf den Menschen unterscheidet der Philosoph zwischen Leib, Seele, Sinne und Geist.
Mystisches klingt bei der Gotteserkenntnis sowie in der Bildsprache Philos an,
und zwar durch die Verwandlung der Seele in ein göttliches Wesen.
6./7.
Ausführlich kommt Schäfer in diesen beiden Kapiteln auf die Exegese der Rabbinen zu sprechen:
Bearbeitung, Auslegung und Ergänzungen zum biblischen Kanon von der Spätantike
bis ins frühe Mittelalter. Es geht um Gottesannäherung durch Exegese ohne
Himmelsreise, und zwar durch Auslegung der Tora und mit Hilfe der Fixierung
mündlicher Traditionen in der Mischna. Sie bilden die Grundlage für den
Babylonischen und Jerusalemer Talmud. Hinzu kommen die Ergänzungen in der
Tosefta. Man darf sie sicher auch als Reaktion auf die Zerstörung Jerusalems durch
die Römer im Jahre 70 n. Chr. sehen. Natürlich blickt Schäfer wiederum auf die
Vision von Ezechiel 1 und den Fortgang dieser Auslegungsgeschichte, die sich nun
zu einer Auslegungskette verfestigt. Damit hat sich der Autor die Basis für die
sog. Merkava-Literatur gelegt, in
der es letztlich darum geht, die verdichtende „Anschauung“ auf Gottes Thron zu
entschärfen, vielleicht darf man sogar sagen zu rationalisieren. Die beiden
Talmude mit ihren aufschlussreichen redaktionellen Bearbeitungen und
erweiterten Geschichten machen eine anti-apokalyptische und anti-ekstatische
Tendenz deutlich.
8. Durch
diese Kritik der vor-kabbalistischen Strömungen im Judentum lohnt es nun diese Merkava-Mystiker genauer zu untersuchen,
deren letzte Formen bis ins 9. Jahrhundert reichen. Der Schwerpunkt liegt dabei
auf den sog. Gedulla- und Quedusha-Hymnen, die diese Aufstiege (in einer Reihe
von Aufstiegsberichten) zur Gottesschau beschreiben und den Mystiker an die
Seite Gottes rücken. Märtyrer-Erzählungen bekommen angesichts messianischer
Heilserwartung verstärktes Gewicht. Auf dem Weg zum „Aufstieg in die
Thronwelt“, müssen diverse Schwellen überschritten und Gefahrensituationen
ausgestanden werden. Und vieles erinnert an ähnliche Vorstellungen aus der weit
gefächerten Gnosis und dem Neuplatonismus. Nicht der Exeget steht mehr im
Mittelpunkt des Verstehenwollens, sondern der Adept. Es kann hier nicht auf
diese umfassende Darstellung der Merkava-Mystiker und der Hekhalot-Literatur bis
hin zum 3. Henoch eingegangen werden. Schäfer zieht das Fazit: Angesichts der
Unterscheidung von Körper und Seele (was sowohl für den Mystiker wie die Gottesvorstellung
gilt) in der Hekhalot-Literatur bis hin zum magischen Gebrauch des Gottesnamens
führen diese (spekulativen) Auslegungstendenzen letztlich wieder zurück in die
Apokalyptik.
9. Ergebnisse:
Insgesamt stellt sich eine differenzierte Vielfalt von Verständnisweisen der sog. Thronwagenmystik dar, ohne dass der
Rezensent sagen kann, alle Verästelungen früher jüdischer Mystik-Vorstellungen
wirklich nachvollziehen zu können. Die Visionen des Aufstiegs zu Gott treiben
menschliche Sehnsüchte dazu, Gott oder dem Göttlichen apokalyptisch, ekstatisch
oder eher rationalistisch-exegetisch nahe zu kommen. Damit bleiben solche Suchbewegungen
letztlich offen. Es werden nicht einmal ansatzweise endgültige Antworten
gegeben. Peter Schäfer ist diesen durchweg zu hinterfragenden Antworten der
Gottes-Annäherungen im spätantiken-frühmittelalterlichen Judentum mit
ausführlicher und präzis bohrender Schärfe nachgegangen. Er hat mit dieser umfassenden
und detailgenauen Abhandlung eine bisher bestehende Lücke im Klärungsprozess
mystischer Literatur des spätantiken und mittelalterlichen Judentums
geschlossen.
Wer sich durch das wahrhaftig nicht leicht zu
lesende Werk von Peter Schäfer durchgearbeitet hat, besonders wenn er oder sie
kein Spezialist jüdischer religiöser Literatur für Apokalyptik, Rabbinen-Exegese
und vor-kabbalistischer Mystik ist, wird als aufmerksame/r Bibelleser/in die
symbolträchtige Apokalyptik des Alten und Neuen Testaments in einem neuen, oft
ungewohnten Lichte sehen. Gott bleibt das große Geheimnis und alle erklärende
Begrifflichkeit gerät vor diesem Geheimnis an eine nicht zu überwindende
Grenze.
Reinhard Kirste
InterReligiöse Bibliothek (IRB): Buch des Monats April
2012
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