Samstag, 16. Juni 2012

Religion und gesellschaftlicher Wandel in Großbritannien


Linda Woodhead, Rebecca Catto (eds): Religion and Change in Modern Britain.
London / New York: Routledge 2012, 424 S., Abb., zahlreiche Literaturangaben, Index ---
ISBN 978-0-415-57581-2

Die Herausgeberinnen dieses umfassenden Bandes zu den religiösen Veränderungen in Großbritannien sind Expertinnen ihrer „Zunft“: Linda Woodhead arbeitet als Soziologieprofessorin an der Universität Lancaster und ist zugleich Direktorin eines Forschungsprogramm zu Religion und Gesellschaft, Rebecca Catto gehört zum Team dieses Forschungsprogramms und hat wie Linda Woodhead mehrere Veröffentlichungen zur Religionssoziologie sowohl theoretischer wie empirischer Art herausgebracht. 

Die Intentionen dieses Bandes sind, mit weiteren Fachleuten zu überprüfen, welche Auswirkungen Säkularisierung und De-Säkularisierung in der Gesellschaft des Vereinigten Königreiches nach dem 2. Weltkrieg haben.

Es zeigt sich nämlich eindeutig, dass es nicht mehr den einen traditionellen Glauben gibt, der sich auf das Christentum stützt. Vielmehr tritt eine „Wohlfahrts-Gesellschaft“ („welfare society“) in den Vordergrund, in der alles im Grunde „gleich“ zu sein scheint. Hat der Staat die Funktion der Kirchen übernommen mit einer Art Grundversorgung von der Geburt bis zum Tod? Aber genau dies scheint der „Knackpunkt“ zu sein: Indem der traditionelle (christliche) Glaube schwindet, füllen andere Religiositäten diese Lücke und bringen neue Spiritualitätsformen hervor, ohne dass der Einfluss der Kirchen völlig gegen Null geht. Gewissermaßen zwischen die Fronten geraten die „Säkularen“. Die Beurteilungen der insgesamt 38 Autor/innen fallen keineswegs eindeutig aus, zeigen z.T. aber scharf pointiert, welche unterschiedlichen Richtungen religiöse und a-religiöse Entwicklungen genommen haben.

Diese Überlegungen wurden in der Einleitung der Herausgeberin, Linda Woodhead, bereits angesprochen und ein Überblick über die Gesamtstruktur des Bandes gegeben. Es sei angemerkt, dass zum Verständnis der vielfältigen Informationen der Band sehr geschickt aufgebaut ist: Zur Präzisierung bestimmter Inhalte sind neben einer vorlaufenden Zusammenfassung (Abstract) des jeweiligen Beitrags 22 „Textboxes“ übersichtlich eingefügt. Hinzu kommen eingestreute Statistiken und vier Fallstudien. Diese Studien geben einen exemplarischen, natürlich sehr begrenzten Einblick in die multireligiöse Gemengelage zwischen traditionellem Christentum, zunehmender, eher vagabundierender (Patchwork)-Spiritualität und fundamentalistischen Verhärtungen.

In einer Art einführender Verstärkung (S. 34-54) beschreiben Malory Nye (Universitäten in Dundee und Aberdeen [Schottland] und Paul Weller, Universität Derby) den Streit um Religionen. Dazu gehören die neuen religiösen Bewegungen, feministische Aufbrüche, aber auch religiöse Konflikte und terroristische Aktivitäten, die zum einen auf nationalistischen und zum andern auf islamistischen Tendenzen beruhen. 

Die Lesenden werden dann im Teil 1 auf die Änderung religiöser Formen und Glaubensmuster sowie den religiösen Monopolverlust des Christentums eingestimmt. Das verdeutlicht als positive Reaktion in der 1. Fallstudie die Formierung der United Reformed Church (URC) in Schottland als Frucht ernsthafter ökumenischer Bemühungen. Anschließend geht es um die gesellschaftliche Etablierung von  Judentum, Sikhismus, Islam, Hinduismus und Buddhismus seit 1945. Die 2. Fallstudie geht dem Beziehungsgeflecht der vielfältigen Religionslandschaft im Horizont sich bildender Netzwerke nach und zeigt dadurch die (erstaunliche) Entwicklung interreligiöser Beziehungen in Großbritannien, also zwischen dem Christentum und den „anderen“ Religionen überhaupt. Auf die alternativen Spiritualitäten sowohl an den Rändern wie im „Mainstream“ gehen Graham Harvey (Open University, UK) und Giselle Vincett (Soziologin, Universität Edinburgh) ein, wodurch ein verändertes Gottesverständnis mehr und mehr offenkundig wird. Dies belegt am Beispiel junger Leute, die in Armut aufwachsen, die Fallstudie 3. Veränderte Rituale sind die logische Folge, zusammengefasst als „Changing British Ritualization“. Solche neuen Rituale zeigen sich auffällig in der Jugend- und Popkultur. Als ein exemplarisches Beispiel kultureller Veränderungen steht die 4. Fallstudie: Multireligiöse Räume als Symptome und „Agenten von Veränderung“. Die beigefügten Bilder illustrieren nicht nur die veränderte Gesamtsituation, sondern kommentieren bildhaft diesen religiös beachtlichen Umbruch in der britischen Gesellschaft.

In Teil 2 geht es um weiter reichende Einflüsse. Diese haben nicht unerheblich mit der Außenwirkung der Massenmedien zu tun. Die 5. Fallstudie untersucht dies im sensiblen Feld der Jugendkultur und der Identität stiftenden Pop-Musik, beginnend in den 1960er Jahren über die New Age Spiritualität bis hin zur religiösen Festivalkultur und den Veränderungen von der Generation X zur Generation Y, die in den 1980er Jahren geboren wurde (vgl. S. 269). Die 6. Fallstudie unterlegt die Analyse von Adam Dinham (Goldsmiths University London) und Robert Jackson (Universität Warwick) über den engen Zusammenhang von Religion, Sozialstaat, Wohlfahrt und Erziehung, zumal der Staat nicht alle sozialen Funktionen ausfüllt(e) und die religiösen Organisationen weiterhin eine wichtige Rolle spiel(t)en. Gerade Organisationen, die an der Basis arbeiten, z.B. beim Engagement für Obdachlose, gewinnen eine neue Wertschätzung und Überzeugungskraft. Dies alles muss im politischen Kontext gesehen werden. Die damit zusammenhängenden gesetzlichen Regelungen eines säkularen Staates müssen gerade in der Erziehung religiöse Indoktrination in öffentlichen Einrichtungen verhindern. Das verdeutlicht die 7. Fallstudie aus Nordirland.

Der kürzeste Teil 3 ist eine theoretische Aufarbeitung der hier dargelegten umfänglichen religionssoziologischen und kulturanthropologischen Arbeiten, und zwar hinsichtlich sich daraus ergebender kultureller, sozialer, religiöser und säkularer, teilweise sakralisierter Perspektiven. Auffällig sind dabei „Einbrüche“ romantisierender Elemente und eines neuen Atheismus in die Zivilgesellschaft. Die Religion ist keineswegs verschwunden, aber ihre „Wiederkehr“ hat gegenüber dem jeweiligen religiösen „Establisment“ ungewohnte Identitäten, die neue Sichtweisen im Bereich des Sozialen, der Gender-Problematik und der Erziehung in Schule, Familie und religiöser Gemeinschaft/Gruppe benötigen. Hier bleibt die spannende Aufgabe, weiterhin die unterschiedlichen Ziele und die rivalisierenden Aktivitäten zu analysieren und daraus Handlungsempfehlungen abzuleiten, damit sich die Gesellschaft nicht konfliktreich zersplittert. 

Insgesamt liegt hier eine umfassende aktuelle Bilanzierung vor, die nicht nur für Großbritannien wegweisend sein dürfte und auch für vergleichbare Untersuchungen in anderen Ländern Europas weiterführende Aspekte liefert.

Reinhard Kirste
Rz-Woodhead-UK, 14.06.12

Samstag, 2. Juni 2012

Buch des Monats Juni 2012: Rudolf Otto und die Diskussion um das "Heilige"


Thorsten Dietz / Harald Matern (Hg.):
Rudolf Otto.
Religion und Subjekt.
Christentum und Kultur, Band 12. Zürich: TVZ 2012, 264 S, Register --- ISBN 978-3-290-17608-2

Die Diskussion um das berühmte Buch des evangelischen Theologen und Religionswissenschaftlers Rudolf Otto (1869–1937) hat bis heute eine intensive Auseinandersetzung zur Folge. Otto hatte das „religiöse Gefühl“ für das „Heilige“ mit transzendentalphilosophischen und phänomenologischen Theorieelementen verbunden und eine für viele Fachkollegen fragwürdige  Kriteriologie dafür entwickelt. Im 1977 erschienenen Sammelband „Die Diskussion um das Heilige“ drückt der herausgebende Religionswissenschaftler Carsten Colpe sein Unbehagen u.a. folgendermaßen: aus1: „Würde ich gefragt, wie ich … über das Problem selbst schreiben würde, dann hätte ich etwa zu antworten: Herauslösung von Ottos Heiligem aus der Zweideutigkeit zwischen psychologischem und transzendentem Apriori (mit Paus); Einführung einer wieder an Kant orientierten Bedingung der beiden Möglichkeiten: der erkenntnistheoretischen, das Heilige als formales Prinzip der Weltdeutung zu kategorisieren (mit Feigel …) und der ethischen, die Empirie des unfreien Willens innerhalb einer Ontologie des Bösen transzendental zu deduzieren (mit Ricœur …) …“


Das hier vorzustellende Buch, das die beiden Theologen Thorsten Dietz (Ev. Hochschule Tabor in Marburg) und Harald Matern (Universität Basel und Erlangen) herausgegeben haben, stellt das Ergebnis eines Forschungssymposiums zu Rudolf Otto vom Dezember 2010 in Marburg vor. Der Schwerpunkt hat sich hier – wie schon im Vorwort angesprochen - auf die Begründungszusammenhänge religiöser Subjektivität verschoben, und zwar in vierfacher Hinsicht: religionswissenschaftlich, religionsphilosophisch, religionspsychologisch und narrativ-theologisch. Dazu treten exemplarisch die Interpretationen und unmittelbaren Bezüge Ottos zu Martin Luther (1483–1546), Immanuel Kant (1724–1804), Friedrich Schleiermacher (1768–1834), Friedrich Jakob Fries (1743–1843), Nathan Söderblom (1866–1931), Wilhelm Wundt (1832–1920) und Paul Tillich (1886–1965).
Der Band beginnt mit einem wieder veröffentlichten Reisebericht Ottos nach Teneriffa 1911. Statt einer Kommentierung dieses Berichts untersucht der Religionswissenschaftler Gregory D. Alles aus Maryland (USA) Ottos Wirken religionsökonomisch – und die Nordafrikareise wird zum unausgesprochenen Beleg: Ottos große Reisen, gar eine „Weltreise“ 1911/19112 verstärken einen Kulturaustausch im Sinne eines Import-Exports von West nach Ost, aber auch von Ost nach West. Dem liegt ein kolonial geprägter Eurozentrismus bzw. Kulturimperialismus zugrunde, der sich mit einer subjektiv bestimmten Religionstheorie mischt. So tritt neben das kolonialistisch-ökonomisch-elitäre Denken eines deutschen Nationalismus der Gedanke der Bildungselite und ihren Errungenschaften als zu verbreitendes Exportgut. Allen bringt es auf den Punkt: Es ist die Wiedergeburt des Kulturimperialismus in der „Religionswissenschaft“. Indem sich Otto jedoch von der Religionsphilosophie zur Religionsgeschichte wendete, führte ihn die Niederlage Deutschlands nach dem 1. Weltkrieg zu einem eher post-kolonialen Denken, das die Überlegenheit der eigenen Nation allerdings beibehielt. Von daher ist auch die Religionskundliche Sammlung Ottos in Marburg zu betrachten. Diese kulturimperialistische Haltung konnte sich erstaunlicherweise mit einer liberalen Theologie, dem religiösen Sozialismus und dem von Otto favorisierten „religiösen Menschheitsbund“ verbinden. Das schloss politischen Opportunismus allerdings nicht aus.
Einen anderen Aspekt bringt der erste Herausgeber Thorsten Dietz ins Spiel: Ottos Luther-Rezeption im Zusammenhang des „religiösen Gefühls“, der „ Kontrast-Harmonie“ in der Erfahrung des „Heiligen“ und seine anthropologische Deutung von Luthers „homo spiritualis“. Der zweite Herausgeber, Harald Matern, untersucht Ottos religionsphilosophischen Gefühlsbegriff, der von Schleiermacher geprägt ist, aber insgesamt für Otto nicht ausreicht. Hinzu kommen Weiterentwicklungen auf der Basis der Religionsphilosophie von Kant und F.J. Fries (S. 117f.129ff), so dass „Gefühl“ als spezifizierte Emotion verstanden wird, „vermittelt durch nicht-begriffliche Reflexion“ (S. 149). Stephanie Gripentrog (Universität Basel) zeigt bei Otto religionspsychologische Prägungen in seiner Religionstheorie mit Bezügen auf William James und Wilhelm Wundt. Otto wird darum auch für die religionspsychologische Forschung wichtig. Der Theologe Stefan S. Jäger macht darauf aufmerksam, dass der religionsgeschichtliche und religionsethnische Einfluss des späteren Bischofs Nathan Söderblom – mehr als bisher gedacht – erhebliche Auswirkungen auf Otto Verständnis des „Heiligen“ zwischen Fascinosum und Tremendum hatte. Mit dem „Heiligen“ haben beide eine religiöse Grundkategorie gesetzt. Ein weiterer bedeutender Theologe wird durch Peter Schütz (Universität Marburg) eingeführt: Paul Tillich. Bereits vor den persönlichen Begegnungen nimmt Otto den Sprachduktus des Unbedingten, Absoluten und der „unermesslichen Fülle des Seins“ (S. 200) auf, entwickelt ihn aber eigenständig in der Marburger Zeit weiter. Die Themenfelder bleiben jedoch gemeinsam: Politik und Gesellschaft, Gottesdienst und religiöse Praxis sowie die Mystik. Und die inhaltlichen Diskussionen sind zugleich freundschaftlich geprägt. Zum Schluss zeigt Dirk Johannsen (Universität Basel), wie bei Otto eine „erzähltheoretische Umwendung in textstrukturellen Aspekten des ‚Heiligen“ bereits angelegt ist“ (S. 240). Der numinose Wert und die von Poesie und Malerei dafür entwickelte Ausdruckskraft, sind für Ottos Verständnis des „Heiligen“ wesensbestimmend (S. 254). Das hat dann bei sich abgrenzenden Theologen wie Karl Feigel dazu geführt, die Rede vom „Numinosen“ für die Theologie zu verwerfen (S. 250).
Bilanz: Die mit diesem Symposium aufgezeigten transdisziplinären Zugänge lassen religiöse Kriterien im Kontext des „Heiligen“ in verändertem Licht erscheinen und eröffnen neue Verstehenszugänge für Ottos Religionstheorie. Denn sowohl transzendental-philosophisch als auch subjektiv-emotional bekommt sein Heiligkeitsverständnis eine durchaus aktuelle Relevanz für die theologische und religionswissenschaftliche Theoriebildung.
Reinhard Kirste
 Rz-Otto-Dietz, 31.05.12
Anm. 1: Carsten Colpe (Hg.): Die Diskussion um das „Heilige“. Wege der Forschung CCCV. Darmstadt 1977, S. XXV