Dienstag, 2. Oktober 2012

Religiöser Pluralismus als Herausforderung und Chance



Karl Gabriel / Christian Spieß /
Katja Winkler (Hg.):
Modelle des religiösen Pluralismus.
 
Historische, religionssoziologische und religionspolitische Perspektiven 

Katholizismus zwischen
Religionsfreiheit und Gewalt, Bd. 5

Paderborn u.a.: Schöningh 2012, 364 S.
--- ISBN 978-3-506-77407-1 ---



InterReligiöse Bibliothek (IRB):
Buch des Monats Oktober 2012


Kurzrezension hier


Ausführliche Beschreibung


Multikulturalität und Multireligiosität sind Signalwörter für die Gesellschaft der Moderne, die nicht nur von der Vielfalt der Kulturen, sondern auch von religiösem Pluralismus geprägt ist. Neben den klassischen Glaubensformulierungen der großen christlichen Kirchen, sind Bekenntnisse zu anderen Religionen teilweise in Konkurrenz getreten. Diese veränderten Lebensstile werden nicht selten als „Patchwork-Religiosität“ abgewertet, weil es sich um stark individualisierte Glaubenstypen handelt. 
Der hier vorzustellende Titel gehört in die Reihe „Katholizismus zwischen Religionsfreiheit und Gewalt“. 
Die Herausgeber zeichnen mit diesen Bänden eine Linie religiöser und dogmatischer Veränderungen im Katholizismus auf, die nicht nur Europa bzw. den „Westen“ betreffen:
  • Religionsfreiheit und Pluralismus. 
    Entwicklungslinien eines katholischen Lernprozesses (Bd. 1, 2010)
  • Wie fand der Katholizismus zur Religionsfreiheit (in Vorbereitung)
  • Religion – Gewalt – Terrorismus. 
    Religionssoziologische und ethische Analysen (Bd. 3, 2010)
  • Die Anerkennung der Religionsfreiheit auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil (Bd. 4, 2012).
Bei der Darstellung der im vorliegenden 5. Band angesprochenen Modelle des religiösen Pluralismus kommt ein großer Teil der Beiträger/innen vom Münsteraner Exzellenzcluster „Religion und Politik“. Die pluralistischen Entwicklungen und religionssoziologischen Erkenntnisse werden hier auf die Religionsgemeinschaften und ihre gesellschaftlichen Lernprozesse ausgeweitet. Dies geschieht unter historischen, soziologischen, politikwissenschaftlichen, rechtswissenschaftlichen und sozialethischen Gesichtspunkten: Es ist übrigens auch der endlich erfolgreiche Weg des Katholizismus zur Anerkennung der Religionsfreiheit auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil und daraus folgende Konsequenzen. Dazu ist ein Blick in die Frühgeschichte des Christentums ausgesprochen hilfreich,
Martin Ebner (Neutestamentler, Universität Münster) beginnt die geschichtliche Linie im frühen Christentum aufzuzeichnen, und zwar unter der Leitfrage, ob sich das Urchristentum im Sinne einer uniformen oder organisatorischen Einheit entwickelt hat. Angesichts der unterschiedlichen christlichen Identitäten seit den Anfängen vor Paulus und über die biblische Kanonbildung hinaus bleibt die Option auf eine christliche Pluralität richtungsweisend. Der Religionswissenschaftler Christoph Auffahrt (Universität Bremen) setzt die geschichtliche Linie ins Mittelalter hinein fort, und zwar angesichts eines keineswegs zwingenden Absolutheitsanspruchs von Wahrheit und Heil. Dadurch stehen bereits in jener Zeit verschiedene religiöse „Ideologien“ nebeneinander: Gewaltdurchsetzung und Gewaltverzicht. Allerdings setzte sich eine Minderheit für die gewaltsame Durchsetzung von Glaubensprinzipien durch, wie Inquisition und Kreuzzüge beweisen. Die pluralistischen Toleranz-Ansätze des Mittelalters sind darum umso beachtenswerter. Auffarth zieht dazu einige interessante Dispute bedeutender Persönlichkeiten heran: Petrus Venerabilis gegen Bernhard von Clairvaux, Nikolaus von Kues und Anselm von Havelberg im Blick auf den Kreuzzug gegen Konstantinopel, schließlich der China-Missionar Wilhelm von Rubruk am Hofe des Mongolenherrschers Möngke Khan.  

   
Wilfried Loth (Historiker, Universität Duisburg-Essen) schwenkt mit dem Aufkommen der modernen Demokratie ins 19./20. Jahrhundert ein. Er zeigt das Engagement katholischer Laiengruppierungen beim Aufbau demokratischer Gesellschaften in Deutschland, Italien, Schweiz, Frankreich, Spanien und Österreich. Sie bilden einen Kontrapunkt zu der sich Macht-konservativ antimodern gebärdenden kirchlichen Hierarchie. Aber bis zum 2. Vatikanischen Konzil fehlt ein Bekenntnis zum politischen Pluralismus und der uneingeschränkten Geltung der Menschenrechte. Die vorkonziliare Situation und die mit dem Vaticanum II eingeleitete Neuorientierung beschreibt sehr umfassend Christian Spieß (Ethiker an der kath. Fachhochschule für Sozialwesen Berlin). In der gegenwärtigen Situation scheint neben der unbestrittenen Trennung von Religion und Politik und der Akzeptanz von Säkularität allerdings wieder eine konfessionalistische Einengung von Freiheitsspielräumen aufzutauchen. Streitpunkte gibt es in diesem Zusammenhang immer wieder, wie der Mitherausgeber Karl Gabriel (Universität Münster) angesichts der weltanschaulichen Globalisierungstendenzen im Kontext von Säkularisierungs- und religiösen (Re-)Vitalisierungsprozessen aufzeigt. Religionen sind darum besonders herausgefordert. Das gilt für sie in doppelter Weise – als formales Bezugssystem und in den Sakralisierungen menschlicher Personen. Ursprüngliche Glaubensformen und-systeme verändern sich dabei ganz erheblich.

Was Gabriel umfassend beschreibt, dem gehen statistisch Detlef Pollack und Nils Friedrich (beide Universität Münster) nach, und zwar im Rahmen ihrer Disziplin, der Religionssoziologie. Sie benutzen einen differenzierten Toleranzbegriff zwischen bedingter Duldung und kultureller Bereicherung im Blick auf Muslime, Hindus, Buddhisten und Juden. Sie haben dazu West- und Ostdeutschland (getrennt), Dänemark, Frankreich, die Niederlande und Portugal ausgewählt und Toleranz mehr oder weniger fördernde Einstellungen konkret benannt. Für Deutschland sehen die positiven Toleranzeinschätzungen gegenüber den anderen untersuchten Ländern allerdings am schlechtesten aus.      
Ebenfalls Länder bezogen beschreiben Judith Könemann (Praktische Theologin, Universität Münster) und Ansgar Jödicke (Religionswissenschaftler, Universität CH-Fribourg), wie sich Religion innerhalb der Zivilgesellschaft politisch einbringt. Die Volksabstimmungen in der Schweiz sind dafür ein besonders geeignetes Beispiel, weil sich die christlichen Religionsgemeinschaften hier jeweils aktiv beteiligen. Eine weitere statistische Bestandsaufnahme präsentiert der Religionswissenschaftler Volkhard Krech (Ruhr-Universität Bochum), der die religiöse Lage in Deutschland angesichts der umfassenden Pluralisierung in der Gesellschaft im Blick auf die unterschiedlichen Typen der Kirchenmitglieder analysiert, und zwar für die Großkirchen wie für kleinere christliche Religionsgemeinschaften. Aber auch Judentum, Islam, die asiatischen Religionen und neue religiöse Bewegungen kommen in den Blick. Im Resümee schreibt er im Blick auf die Gesamtsituation: „… nicht zuletzt erfreut sich Religion als semantische Ressource innerhalb ethischer Problemlagen an den Grenzen instrumentellen Handelns einer gewissen Konjunktur“ (S. 221).
Als Rechtswissenschaftler (und Völkerrechtler) geht Christian Walter (Universität München) an das Verhältnis Staat – Kirche heran, sowohl was das 19. Jahrhundert, den Weimarer Kirchenkompromiss und die Situationsveränderungen im Staatskirchenrecht in der Bundesrepublik Deutschland (mit dem Grundgesetz) betrifft. Unter politischen Gesichtspunkten setzt Ulrich Willems (Politikwissenschaftler an der Universität Münster) an. Er thematisiert die Religionsfreiheit unterschiedlich strukturierter westlicher Gemeinwesen, besonders protestantischer oder katholischer Prägung. Religiös-plurale Veränderungen erfordern eine Anpassung der religionspolitischen Ordnungen, für die Verfassungsgerichte nicht sonderlich geeignet sind (S. 263). Diese müssen jedoch grundlegende Rechte und notwendige Fairness gegenüber religiösen Minderheiten absichern. 
Hermann-Josef Große Kracht (Sozialethiker an der TU Darmstadt) macht auf den „leer gewordenen Ort der Macht“ durch die Abschaffung des monarchischen Gottes-Gnadentums aufmerksam (S. 271), ohne die Religion wieder an diese Stelle setzen zu wollen. Stattdessen spricht er sich für eine bewusst öffentlich wirkende Komplementarität von Religionen und Republik aus, und zwar im Sinne einer „soliden Säkularität“. 
Der Rechtsprofessor Thomas Gutmann (Universität Münster) untersucht die Zusammenhänge zwischen religiösem Pluralismus und den Gegebenheiten des liberalen Verfassungsstaates, wie er von Hugo Grotius und Thomas Hobbes eingeleitet wurde. Weltanschauliche Neutralität des liberalen Rechtsstaates ist angesichts religiöser Vielfalt kaum eindeutig zu realisieren. Politischer Liberalismus zeigt sich jedoch insgesamt religionsfreundlich, aber nicht ohne institutionelle Begrenzungsschwellen. So wird auch die institutionell-rechtliche Bevorzugung der christlichen Großkirchen (in Deutschland) im Interesse von Gleichbehandlung angesichts starker religiöser Pluralisierung beendet werden müssen.
Religionspolitik im säkularen Zeitalter – so Katja Winkler (Sozialethikerin, Universität Tübingen) – braucht Kriterien des Säkularen, wie sie Charles Taylor besonders klar herausgehoben hat: Säkularismus im Sinne der Unterscheidung von öffentlich und privat, des Rückganges des Religiösen und der Option des Nichtglaubens des Einzelnen. Die daraus sich ableitende Multikulturalität begegnet jedoch partikularen Ethikvorstellungen, die den Menschenrechten zuwider laufen können und an der Trennungslinie von religiös und antireligiös wahrgenommen und bearbeitet werden müssen (vgl. S. 232). 
Schließlich geht der (katholische) Religionsphilosoph Thomas M. Schmidt (Universität Frankfurt/M.) auf die Herausforderung durch den gesellschaftlich-religiösen Pluralismus ein. Er stellt die klassischen theologischen Modelle vor: Exklusivismus, Inklusivismus und religionspluralistische Theologie sowie die pluralistisch gewissermaßen abgeschwächte komparative Religionstheorie. Der Autor selbst neigt durchweg zu einer inklusiven Linie. Diese führt er auch politisch-liberal geweitet vor: Ein exklusiver Liberalismus erlaubt kein Heil außerhalb der säkularen Vernunft. Liberaler Inklusivismus wirkt im Sinne eines Filters, der sowohl bei den Religiösen wie den Säkularen Selbstkritik ermöglicht. 
Schließlich fixiert ein säkularer liberaler Pluralismus die Gleichrangigkeit von religiösen und säkularen Argumenten. Diese Position schränkt der Autor zugunsten eines „offenen Inklusivismus“ ein. Dieser nämlich „erkennt … die potentielle Rationalität persönlicher und damit auch religiöser Überzeugungen an“ (S. 360).
Bilanz
Herausgeber und Autoren haben angesichts fortschreitender Säkularisierung und eines wachsenden religiösen Pluralismus nicht nur die „Großwetterlage“ mit dem Handwerkszeug ihrer jeweiligen Fachdisziplin sorgsam beschrieben, sondern die Herausforderungen markiert, auf die politische Gemeinwesen aller Größenordnungen reagieren müssen. Sie haben damit Grundlegendes geleistet und zugleich eine Zukunftsorientierung für die bleibende Faktizität pluraler Gesellschaften angesprochen. Das zeigt sich selbst an einer so einheitlich scheinenden Gemeinschaft wie dem Katholizismus. 
Das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher religiöser Traditionen und Weltanschauungen erfordert eine sorgsame Religionspolitik für eine gemeinsame gesellschaftliche Verantwortung. Das betrifft unterschiedliche Gesellschaftstypen, allerdings im Hinblick auf allgemein akzeptierte menschliche Werte für ein sinnvolles Leben aller Beteiligten.
Reinhard Kirste
Rz-Gabriel-rel-Plural, 30.09.12

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