Donnerstag, 21. Februar 2013

Spiele, Rituale und virtuelle Welten



Philippe Bornet / Maya Burger (eds.): Religions in Play.
Games, Rituals, and Virtual Worlds.

CULTuREL 2. Zürich: Pano (TVZ) 2012, 351 S., Abb., Register
--- ISBN 978-3-290-22010-5 ---
Kurzrezension: hier

Ausführliche Beschreibung
Der niederländische Kulturhistoriker Johan Huizinga (1842-1945) hat 1938 mit seinem berühmten Buch Homo Ludens einen bis heute gültigen Markstein gesetzt. Aber in der theologischen Diskussion der Gegenwart gibt es nur wenige Auseinandersetzungen mit dem „Spiel“ im Allgemeinen und mit den digitalen Welten im Besonderen. Offensichtlich aber haben Spiele generell sehr viel mit Religion zu tun. Das gilt für die Spiele in der Erziehung, im Sport und mit dem Computer, ja in allen Medien überhaupt. Zwei Wissenschaftler der Universität Lausanne, der Literaturwissenschaftler Philippe Bornet und die Indologin und Religionsgeschichtlerin Maya Burger, haben Referate und Ergebnisse eines Symposiums aus dem Jahre 2010 in Lausanne über „Homo Ludens: Play, Culture, and Religion“ systematisierend zusammengestellt und öffentlich zugänglich gemacht. Sie decken damit zugleich Elemente und Sichtweisen auf, die auf spannende Verhaltensmuster verweisen, wie sie sich u.a. auch in religiös geprägten Alltags- und Festritualen zeigen.

Im Vorwort schlagen die beiden Herausgeber einen Bogen von der Kritik christlich-antiker Autoren an den verschiedensten Spielen „heidnischer“ Art bis in die heutigen digitalen Welten. Ist also unsere Kultur von Anfang an durch „Spielermanier“ geprägt, wie dies die These Huizingas von den „playful origins of culture“ ausdrückt? (S. 22). In ihren Einleitungen zu den vier Teilen des Buches markieren die BeiträgerInnen darum, wie und wie intensiv Religion und Religiosität Einfluss auf die unterschiedlichen Spieltypen mit ihren Spielregeln genommen haben, und zwar in der Bandbreite von Rätsel, Glückssuche und Gewinnhoffnung.
Der 1. Teil widmet sich den Zusammenhängen von Spielpraktiken und Religion vom Mittelalter bis zur Aufklärung. Bereits im Mittelalter gibt es trotz moralischer Verurteilung und Blasphemie-Androhungen durch die Kirche eine Spielwelt nach Casino-Manier mit Glücksgenerator und Ritterkampf-Mentalität. Das führt Ulrich Schädler (Direktor des Spielemuseums in La Tour-de-Peilz, Schweiz) an der Beschreibung des „Book of Games“ des Königs Alonso X. von Spanien vor (13. Jh.). Dessen einschränkende Rechtsvorgaben erlaubten dennoch „Spielhäuser“. Valérie Cangemi zusammen mit Alain Corbellari (beide Fachleute für französische Literaturgeschichte, Universität Lausanne) knüpfen dort an und erzählen von der Beliebtheit mittelalterlicher Ritterspiele, die in den weit verbreiteten Ritterromanen ihren Niederschlag fanden und in der Gegenwart eine fröhliche Auferstehung erleben „While in the Middle Ages, immobility was idealized and we today prefer moving forward faster and faster, both societies are linked by their ludic spirit“ (S. 59). Natürlich müssen in einem solchen Buch auch Brettspiele und besonders Schach ausführlicher bedacht werden. Das tut der Herausgeber Philippe Bornet, indem er den indischen bzw. chinesischen Ursprüngen des Schachspiels nachgeht und seine zunehmende Akzeptanz in Europa beschreibt. Im 18./19. Jh. idealisieren Orientalisten wie William Jones das Schachspiel wegen seiner (strategischen) Rationalität, während die Nützlichkeitsdenker Gesellschaften mit Brettspielvorlieben als inferior klassifizieren. Das hat seinen Grund darin, dass diese Kritiker keine adäquate Bedingung für „anständige“ Arbeit in solchen (nutzlosen) Beschäftigungen sehen können, sind sie letztlich doch in die Rubrik der Würfel- und Glücksspiele einzuordnen. Gymnastische Spiele haben dagegen einen gesellschaftlich stärkenden Charakter. Kulturelle Differenzen treten also gerade im Verständnis von „Spiel“ besonders deutlich hervor und erlauben fast eine ähnliche Klassifizierung wie die von Religion und Religionen unter den Bedingungen der jeweiligen Kultur.
Der 2. Teil nimmt diese Relationen unter den Stichworten von Chance, Spiel und Religion systematisierend als Mini-Experimente des Lebens auf. Buddhistische Spielpraxen werden in ihrer Lebensorientierung dabei besonders herausgehoben. Jens Schlieter (Religionswissenschaftler, Universität Bern), geht auf das tibetisch-buddhistische, die Erlösung simulierende(?) Brettspiel ein: „Ascending the [Spiritual] Levels“, das man als Weg in die Freiheit bezeichnen könnte. Dass zum Verständnis Erfahrungen der heutigen Cyberwelt, aber auch „Schlangen- und (Stufen-)Leiterspiele“ aus der deutschsprachigen Schweiz herangezogen werden können, macht die Sache besonders aktuell und spannend. Maya Burger sieht sich die beliebten Tarot- und Orakel-Karten genauer an, weil hier das Bedürfnis des Menschen zum Ausdruck kommt, im Kartenspiel über die Zukunft Genaueres und auch mögliche Orientierung zu erfahren. Das in vielen Spielen benutzte Karma-Verständnis macht dabei die religiösen Konnotationen und Korrelationen offenkundig. – Das Wort „Bingo“ ist inzwischen in den alltäglichen Wortschatz eingegangen. Thierry Wendling (Schweizer Anthropologe am CNRS-Institut in Paris), nimmt das dem Lotto verwandte Zahlenspiel gewissermaßen als „Steilvorlage“, um für eine Schweizer Region zu zeigen, wie dessen Rituale in öffentlichen oder halböffentlichen Räumen (Spielhallen, Cafés usw.) quasi wie eine Litanei einen mentalen Raum schaffen, der einer Nachmittags-Trance nahe kommt (S: 151).
Der 3. Teil nimmt die schon mehrfach angesprochene Korrelation von Spiel und Ritual auf. Nach der Einleitung durch Kathryn McClymond (Religionswissenschaftlerin, Georgia Staats-Universität, USA), stellt der Sanskrit-Experte Johannes Bronkhorst (Universität Lausanne) die Frage, ob es Spiel im Ritual gibt. Angesichts unterschiedlicher Beurteilungen hauptsächlich von Claude Lévi-Strauss und J.C. Heesterman, konzentriert er sich auf vedische (und aztekische) Opfervorstellungen, indische Traditionen und zum Schluss auf das berühmte Epos Mahabharata. In Opferzeremonien wird das Ritual oft bis zum bitteren Ende des zu Opfernden ausgeführt, und der Opfernde erreicht dadurch sein Versöhnungsziel. Allerdings gibt es auch in manchen Kulturen Situationen, in denen dieses konsequente Ritual durchbrochen wird und das Opfer (nur noch) zu einer Formalität wird (S. 171f). Auch Ute Hüsken (Indologin, Universität Oslo) beschäftigt sich mit brahmanischen Traditionen, hier aus Südindien. Ritual und Spiel gelangen beim Tempelfest und durch Arrangements in der eigenen Familie in das Erfahrungsfeld unmittelbaren menschlichen Erlebens: „Both ritual and play are equally media of cultural expression, and, most importantly, they are not mutually exclusive“ (S. 194).
Eine Besonderheit nimmt Florence Pasche Guignard (Religionswissenschaftlerin, Universität Lausanne) auf, nämlich die Bedeutung von „religiösen“ Spielzeugen und Puppen in der Konstruktion von Geschlechtsidentitäten und Wertvorstellungen. Kindliche Entwicklung, offenbar besonders in Richtung „Weiblich“, soll über diese Varianten in verschiedenen Religionen mit Hilfe üblicher Spielzeuge und Puppen Gender spezifisch gelenkt werden, und zwar durch Imitation, Erziehung und Adaption. Die Autorin belegt diese Tendenz durch eine Reihe auffälliger Beispiele aus dem Hinduismus, Judentum, Islam und Christentum. Hintergrund des Beitrags von Michael J. Zogry (Religionswissenschaftler, Universität Kansas, USA) ist ein Ballspiel der Tscherokesen (Cherokees). Hier wird die Verbindung mit Sport und Ritual besonders wichtig, die von mehreren Autoren wie MacAloon, Huizinga und Lévi-Strauss u.a. intensiv diskutiert wurde bzw. wird. Zogry sieht Fußball, Basketball usw., aber auch die Olympischen Spiele im Kontext von sozialen Realitäten, irgendwo angesiedelt zwischen Ritual und Religion und letztlich dem indianischen Ballspiel innerlich verwandt. Es ist nicht leicht (trotz klärender Versuche von Paul Tilich) die Grenze zwischen „göttlich“ und „abgöttisch“ genau zu markieren – oder wie der Autor sagt, gute Nachbarn im Spannungsfeld von Spiel, Sport, Ritual und Spielekonzept zu finden.
Besonders neugierig macht der 4. Teil: Virtuelle Welten und Spiele. Dieser wendet sich besonders den virtuellen Spielen zu. Darauf macht Oliver Steffen (Religionswissenschaftler, Universität Bern) in der Einleitung aufmerksam und verweist auf die entsprechenden Vor-Studien von Johan Huizinga und den französischen Soziologen Roger Callois (1913-1978). Von daher lässt sich die Klassifikation des an strenge Regeln gebundenen und des freien kreativen Spiels ableiten, dem jeweils vier Kategorien zuzuordnen sind: Wettstreit, Glück, Mimicry/Simulation und Täuschung (S. 251). Dies lässt sich auf virtuelle Spiele und deren religiösen Implikationen, aber auch auf den Umgang bestimmter religiöser Gruppen mit den Computerspielen, übertragen. In seinem zweiten Beitrag bezieht sich der Autor auf die auffällige Einbindung historischer Religionselemente in die imaginäre Welt digitaler Spiele. In der Fallstudie zu dem Fantasy-Rollenspiel „Risen“ mit dessen Konzept der „hit points“ als Orte für „Lebensenergie“ ist ein religiöses „Achtergewicht“ unverkennbar. Dies wird noch deutlicher, wenn man das religionsphänomenologische Konzept von Gerard van der Leeuw (1890-1950) als Erklärungsmuster heranzieht („göttliche Präsenz im gewöhnlichen Leben“). Ein zweites Fantasy-Spiel bespricht Fabian Perlini-Pfister (Lehrer für Religionskunde in Zug): Dungeons & Dragons („Verliese und Drachen“). Es gehört zu einem Typus von Computerspielen, der in seiner ersten Fassung als „fantastic medieval wargame“ 1974 in den USA herauskam und höchst umstritten von sich reden machte – zur selben Zeit, als Tolkiens Fantasie-Novellen höchst populär waren. Die kosmologischen Hintergründe dieses Spiels sind mit der virtuellen Realität von Monstern und Drachen eingefärbt, um so das Böse und das Gute sichtbar werden zu lassen. Dazu bedienen sich die Macher auch in weiteren Neufassungen des Spiels kräftig aus dem religiösen Repertoire mit Magie, Hobbits und Göttern. Noch ein weiterer Punkt des Spiels muss herausgehoben werden. Huizinga hat es den „magischen Kreis“ genannt, der die Spielenden von der realen Welt abschottet und ins Reich der imaginären Welten eintauchen lässt. Julian Kücklich (Berlin) zeigt, wie dieser magische Zirkel in den Videospielen durch Verführung und Betrug durchbrochen wird. Den Spielern wird zugestanden, außerhalb moralischer Vorstellungen in Aktion gegen die anderen Spieler zu handeln. Hier entwickelt sich mehr und mehr einer kulturelle Praxis. Der Autor zeigt dies an Video-Online-Spielen mit mehreren Spielern wie Warcraft, Diablo, Everquest, World of Warcraft, Deus Ex. Hier entwickeln sich (Online-)Cyber-Systeme mit einer Reihe von Subsystemen – ökonomisch, politisch, sozial usw. (S. 303).  
             
Zum Schluss des Buches diskutiert Daria Pezzoli-Olgiati (Religionswissenschaftlerin, Universität Zürich), wie und wo Spiele im Film und der Film selbst als Spiel eingesetzt werden. Sie beginnt mit Das Siebente Siegel von Ingmar Bergmann (Schweden 1956), um von da aus auch zu eXistenZ (Kanada, UK 1998), zu Nirvana (Ítalien 1996), zu den Matrix-Filmen (USA 1999-2003) und Avatar (USA 2009) zu kommen. Die Autorin  bringt es auf den Punkt, was nicht nur für eXistenZ gilt: „The religious elements are fully integrated into the film narration“ (S. 317). M.a.W., das Kino selbst wird zum kommunikativen Spielplatz, auf dem die Grenzen von Immanenz zur Transzendenz überschritten und Erfahrungen virtueller Welten im Erzählstrang unter bestimmten Ritualisierungen und religiösen Mustern dank technologischer Hilfsmittel möglich werden.
Bilanz: Das Buch eröffnet auf dem Weg über die Korrelationen von Spiel, Ritual, Elementen des Religiösen und virtueller Welt wichtige Einblicke in die kulturellen und geschichtlichen Grundlagen von Spiel überhaupt. Zugleich haben die technologischen Möglichkeiten besonders mit dem Film und dem Computer neue Welten erschaffen, deren Versatzstücke jedoch aus den klassischen Religionen und den esoterischen Bewegungen aller Kulturen und aller Zeiten oft zu einem spannenden Ganzen umgebaut werden. Es bleibt zu hoffen, dass die Spielenden sich dabei oft genug fragen (lassen), „in welchem Film“ sie nun „real“ sind. Zu bedenken bleibt: Das in der Konferenzsprache Englisch geführte Symposium hat nun auch eine englische Buchausgabe zur Folge. Dadurch wird es im deutschsprachigen Raum vielleicht nicht genügend in seiner soliden wissenschaftlichen und zugleich aktuellen Vorreiterfunktion erkannt. Die angesprochenen Themenfelder beleuchten alte und sich ändernde (religiöse) Weltsichten und Kulturspezifika von Spiel und Ritual. Das geht nicht nur TheologInnen, ReligionswissenschaftlerInnen und AnthropologInnen an, sondern im Computerzeitalter ganz direkt jede/n religiös und gesellschaftlich Interessierte/n.
Über den Zusammenhang von Gott, Religion und Spiel im Film
vgl. dazu auch die Rezensionen und Beiträge:
 

                                                                                                                                                           Reinhard Kirste
                                                                                                                                                          Rz-Bornet-Spiel, 21.02.13

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