Philippe Bornet /
Maya Burger (eds.): Religions in Play.
Games, Rituals, and Virtual Worlds.
CULTuREL 2. Zürich: Pano (TVZ) 2012, 351 S., Abb., Register --- ISBN 978-3-290-22010-5 ---
Games, Rituals, and Virtual Worlds.
CULTuREL 2. Zürich: Pano (TVZ) 2012, 351 S., Abb., Register --- ISBN 978-3-290-22010-5 ---
Ausführliche Beschreibung
Der
niederländische Kulturhistoriker Johan Huizinga (1842-1945) hat 1938 mit seinem
berühmten Buch Homo Ludens einen bis
heute gültigen Markstein gesetzt. Aber in der theologischen Diskussion der
Gegenwart gibt es nur wenige Auseinandersetzungen mit dem „Spiel“ im
Allgemeinen und mit den digitalen Welten im Besonderen. Offensichtlich aber
haben Spiele generell sehr viel mit Religion zu tun. Das gilt für die Spiele in
der Erziehung, im Sport und mit dem Computer, ja in allen Medien überhaupt.
Zwei Wissenschaftler der Universität Lausanne, der Literaturwissenschaftler Philippe Bornet und die Indologin und
Religionsgeschichtlerin Maya Burger,
haben Referate und Ergebnisse eines Symposiums aus dem Jahre 2010 in Lausanne
über „Homo Ludens: Play, Culture, and
Religion“ systematisierend zusammengestellt und öffentlich zugänglich gemacht.
Sie decken damit zugleich Elemente und Sichtweisen auf, die auf spannende Verhaltensmuster
verweisen, wie sie sich u.a. auch in religiös geprägten Alltags- und Festritualen
zeigen.
Im Vorwort schlagen die beiden Herausgeber
einen Bogen von der Kritik christlich-antiker Autoren an den verschiedensten
Spielen „heidnischer“ Art bis in die heutigen digitalen Welten. Ist also unsere
Kultur von Anfang an durch „Spielermanier“ geprägt, wie dies die These Huizingas
von den „playful origins of culture“ ausdrückt? (S. 22). In ihren Einleitungen zu den vier Teilen des
Buches markieren die BeiträgerInnen darum, wie und wie intensiv Religion und
Religiosität Einfluss auf die unterschiedlichen Spieltypen mit ihren
Spielregeln genommen haben, und zwar in der Bandbreite von Rätsel, Glückssuche
und Gewinnhoffnung.
Der 1. Teil widmet sich den Zusammenhängen
von Spielpraktiken und Religion vom
Mittelalter bis zur Aufklärung. Bereits im Mittelalter gibt es trotz
moralischer Verurteilung und Blasphemie-Androhungen durch die Kirche eine
Spielwelt nach Casino-Manier mit Glücksgenerator und Ritterkampf-Mentalität.
Das führt Ulrich Schädler (Direktor
des Spielemuseums in La Tour-de-Peilz, Schweiz) an der Beschreibung des „Book
of Games“ des Königs Alonso X. von Spanien vor (13. Jh.). Dessen einschränkende
Rechtsvorgaben erlaubten dennoch „Spielhäuser“. Valérie Cangemi zusammen mit Alain
Corbellari (beide Fachleute für französische Literaturgeschichte,
Universität Lausanne) knüpfen dort an und erzählen von der Beliebtheit mittelalterlicher
Ritterspiele, die in den weit verbreiteten Ritterromanen ihren Niederschlag
fanden und in der Gegenwart eine fröhliche Auferstehung erleben „While in the
Middle Ages, immobility was idealized and we today prefer moving forward faster
and faster, both societies are linked by their ludic spirit“ (S. 59). Natürlich
müssen in einem solchen Buch auch Brettspiele und besonders Schach
ausführlicher bedacht werden. Das tut der Herausgeber Philippe Bornet, indem er den indischen bzw. chinesischen Ursprüngen
des Schachspiels nachgeht und seine zunehmende Akzeptanz in Europa beschreibt.
Im 18./19. Jh. idealisieren Orientalisten wie William Jones das Schachspiel wegen
seiner (strategischen) Rationalität, während die Nützlichkeitsdenker
Gesellschaften mit Brettspielvorlieben als inferior klassifizieren. Das hat
seinen Grund darin, dass diese Kritiker keine adäquate Bedingung für „anständige“
Arbeit in solchen (nutzlosen) Beschäftigungen sehen können, sind sie letztlich
doch in die Rubrik der Würfel- und Glücksspiele einzuordnen. Gymnastische
Spiele haben dagegen einen gesellschaftlich stärkenden Charakter. Kulturelle
Differenzen treten also gerade im Verständnis von „Spiel“ besonders deutlich
hervor und erlauben fast eine ähnliche Klassifizierung wie die von Religion und
Religionen unter den Bedingungen der jeweiligen Kultur.
Der 2. Teil nimmt diese Relationen unter
den Stichworten von Chance, Spiel und
Religion systematisierend als Mini-Experimente des Lebens auf.
Buddhistische Spielpraxen werden in ihrer Lebensorientierung dabei besonders
herausgehoben. Jens Schlieter (Religionswissenschaftler,
Universität Bern), geht auf das tibetisch-buddhistische, die Erlösung
simulierende(?) Brettspiel ein: „Ascending the [Spiritual] Levels“, das man als
Weg in die Freiheit bezeichnen könnte. Dass zum Verständnis Erfahrungen der
heutigen Cyberwelt, aber auch „Schlangen- und (Stufen-)Leiterspiele“ aus der
deutschsprachigen Schweiz herangezogen werden können, macht die Sache besonders
aktuell und spannend. Maya Burger
sieht sich die beliebten Tarot- und Orakel-Karten genauer an, weil hier das Bedürfnis
des Menschen zum Ausdruck kommt, im Kartenspiel über die Zukunft Genaueres und
auch mögliche Orientierung zu erfahren. Das in vielen Spielen benutzte
Karma-Verständnis macht dabei die religiösen Konnotationen und Korrelationen
offenkundig. – Das Wort „Bingo“ ist inzwischen in den alltäglichen Wortschatz
eingegangen. Thierry Wendling (Schweizer
Anthropologe am CNRS-Institut in Paris), nimmt das dem Lotto verwandte Zahlenspiel
gewissermaßen als „Steilvorlage“, um für eine Schweizer Region zu zeigen, wie dessen
Rituale in öffentlichen oder halböffentlichen Räumen (Spielhallen, Cafés usw.)
quasi wie eine Litanei einen mentalen Raum schaffen, der einer
Nachmittags-Trance nahe kommt (S: 151).
Der 3. Teil nimmt die schon mehrfach
angesprochene Korrelation von Spiel und
Ritual auf. Nach der Einleitung durch Kathryn
McClymond (Religionswissenschaftlerin, Georgia Staats-Universität, USA),
stellt der Sanskrit-Experte Johannes
Bronkhorst (Universität Lausanne) die Frage, ob es Spiel im Ritual gibt.
Angesichts unterschiedlicher Beurteilungen hauptsächlich von Claude
Lévi-Strauss und J.C. Heesterman, konzentriert er sich auf vedische (und
aztekische) Opfervorstellungen, indische Traditionen und zum Schluss auf das
berühmte Epos Mahabharata. In Opferzeremonien
wird das Ritual oft bis zum bitteren Ende des zu Opfernden ausgeführt, und der
Opfernde erreicht dadurch sein Versöhnungsziel. Allerdings gibt es auch in
manchen Kulturen Situationen, in denen dieses konsequente Ritual durchbrochen
wird und das Opfer (nur noch) zu einer Formalität wird (S. 171f). Auch Ute Hüsken (Indologin, Universität Oslo)
beschäftigt sich mit brahmanischen Traditionen, hier aus Südindien. Ritual und
Spiel gelangen beim Tempelfest und durch Arrangements in der eigenen Familie in
das Erfahrungsfeld unmittelbaren menschlichen Erlebens: „Both ritual and play
are equally media of cultural expression, and, most importantly, they are not
mutually exclusive“ (S. 194).
Eine Besonderheit nimmt Florence Pasche Guignard (Religionswissenschaftlerin, Universität
Lausanne) auf, nämlich die Bedeutung von „religiösen“ Spielzeugen und Puppen in
der Konstruktion von Geschlechtsidentitäten und Wertvorstellungen. Kindliche
Entwicklung, offenbar besonders in Richtung „Weiblich“, soll über diese
Varianten in verschiedenen Religionen mit Hilfe üblicher Spielzeuge und Puppen Gender
spezifisch gelenkt werden, und zwar durch Imitation, Erziehung und Adaption.
Die Autorin belegt diese Tendenz durch eine Reihe auffälliger Beispiele aus dem
Hinduismus, Judentum, Islam und Christentum. Hintergrund des Beitrags von Michael J. Zogry (Religionswissenschaftler,
Universität Kansas, USA) ist ein Ballspiel der Tscherokesen (Cherokees). Hier
wird die Verbindung mit Sport und Ritual besonders wichtig, die von mehreren
Autoren wie MacAloon, Huizinga und Lévi-Strauss u.a. intensiv diskutiert wurde
bzw. wird. Zogry sieht Fußball, Basketball usw., aber auch die Olympischen
Spiele im Kontext von sozialen Realitäten, irgendwo angesiedelt zwischen Ritual
und Religion und letztlich dem indianischen Ballspiel innerlich verwandt. Es
ist nicht leicht (trotz klärender Versuche von Paul Tilich) die Grenze zwischen
„göttlich“ und „abgöttisch“ genau zu markieren – oder wie der Autor sagt, gute Nachbarn
im Spannungsfeld von Spiel, Sport, Ritual und Spielekonzept zu finden.
Besonders
neugierig macht der 4. Teil: Virtuelle
Welten und Spiele. Dieser wendet sich besonders den virtuellen Spielen zu.
Darauf macht Oliver Steffen (Religionswissenschaftler,
Universität Bern) in der Einleitung aufmerksam und verweist auf die
entsprechenden Vor-Studien von Johan Huizinga und den französischen Soziologen Roger
Callois (1913-1978). Von daher lässt sich die Klassifikation des an strenge
Regeln gebundenen und des freien kreativen Spiels ableiten, dem jeweils vier
Kategorien zuzuordnen sind: Wettstreit, Glück, Mimicry/Simulation und Täuschung
(S. 251). Dies lässt sich auf virtuelle Spiele und deren religiösen Implikationen,
aber auch auf den Umgang bestimmter religiöser Gruppen mit den Computerspielen,
übertragen. In seinem zweiten Beitrag bezieht sich der Autor auf die auffällige
Einbindung historischer Religionselemente in die imaginäre Welt digitaler
Spiele. In der Fallstudie zu dem Fantasy-Rollenspiel „Risen“ mit dessen Konzept der „hit points“ als Orte für
„Lebensenergie“ ist ein religiöses „Achtergewicht“ unverkennbar. Dies wird noch
deutlicher, wenn man das religionsphänomenologische Konzept von Gerard van der
Leeuw (1890-1950) als Erklärungsmuster heranzieht („göttliche Präsenz im
gewöhnlichen Leben“). Ein zweites Fantasy-Spiel bespricht Fabian Perlini-Pfister (Lehrer für Religionskunde in Zug): Dungeons & Dragons („Verliese und
Drachen“). Es gehört zu einem Typus von Computerspielen, der in seiner ersten
Fassung als „fantastic medieval wargame“ 1974 in den USA herauskam und höchst
umstritten von sich reden machte – zur selben Zeit, als Tolkiens
Fantasie-Novellen höchst populär waren. Die kosmologischen Hintergründe dieses
Spiels sind mit der virtuellen Realität von Monstern und Drachen eingefärbt, um
so das Böse und das Gute sichtbar werden zu lassen. Dazu bedienen sich die
Macher auch in weiteren Neufassungen des Spiels kräftig aus dem religiösen
Repertoire mit Magie, Hobbits und Göttern. Noch ein weiterer Punkt des Spiels
muss herausgehoben werden. Huizinga hat es den „magischen Kreis“ genannt, der
die Spielenden von der realen Welt abschottet und ins Reich der imaginären
Welten eintauchen lässt. Julian Kücklich
(Berlin) zeigt, wie dieser magische Zirkel in den Videospielen durch Verführung
und Betrug durchbrochen wird. Den Spielern wird zugestanden, außerhalb moralischer
Vorstellungen in Aktion gegen die anderen Spieler zu handeln. Hier entwickelt
sich mehr und mehr einer kulturelle Praxis. Der Autor zeigt dies an
Video-Online-Spielen mit mehreren Spielern wie Warcraft, Diablo, Everquest, World
of Warcraft, Deus Ex. Hier entwickeln sich (Online-)Cyber-Systeme mit einer
Reihe von Subsystemen – ökonomisch, politisch, sozial usw. (S. 303).
Zum Schluss des Buches diskutiert Daria Pezzoli-Olgiati (Religionswissenschaftlerin, Universität Zürich), wie und wo Spiele im Film und der Film selbst als Spiel eingesetzt werden. Sie beginnt mit Das Siebente Siegel von Ingmar Bergmann (Schweden 1956), um von da aus auch zu eXistenZ (Kanada, UK 1998), zu Nirvana (Ítalien 1996), zu den Matrix-Filmen (USA 1999-2003) und Avatar (USA 2009) zu kommen. Die Autorin bringt es auf den Punkt, was nicht nur für eXistenZ gilt: „The religious elements are fully integrated into the film narration“ (S. 317). M.a.W., das Kino selbst wird zum kommunikativen Spielplatz, auf dem die Grenzen von Immanenz zur Transzendenz überschritten und Erfahrungen virtueller Welten im Erzählstrang unter bestimmten Ritualisierungen und religiösen Mustern dank technologischer Hilfsmittel möglich werden.
Bilanz: Das Buch eröffnet auf dem Weg über die
Korrelationen von Spiel, Ritual, Elementen des Religiösen und virtueller Welt
wichtige Einblicke in die kulturellen und geschichtlichen Grundlagen von Spiel
überhaupt. Zugleich haben die technologischen Möglichkeiten besonders mit dem
Film und dem Computer neue Welten erschaffen, deren Versatzstücke jedoch aus
den klassischen Religionen und den esoterischen Bewegungen aller Kulturen und
aller Zeiten oft zu einem spannenden Ganzen umgebaut werden. Es bleibt zu
hoffen, dass die Spielenden sich dabei oft genug fragen (lassen), „in welchem
Film“ sie nun „real“ sind. Zu bedenken bleibt: Das in der Konferenzsprache
Englisch geführte Symposium hat nun auch eine englische Buchausgabe zur Folge.
Dadurch wird es im deutschsprachigen Raum vielleicht nicht genügend in seiner
soliden wissenschaftlichen und zugleich aktuellen Vorreiterfunktion erkannt.
Die angesprochenen Themenfelder beleuchten alte und sich ändernde (religiöse)
Weltsichten und Kulturspezifika von Spiel und Ritual. Das geht nicht nur
TheologInnen, ReligionswissenschaftlerInnen und AnthropologInnen an, sondern im
Computerzeitalter ganz direkt jede/n religiös und gesellschaftlich
Interessierte/n.
Über den Zusammenhang
von Gott, Religion und Spiel im Film
vgl. dazu auch die Rezensionen und Beiträge:
vgl. dazu auch die Rezensionen und Beiträge:
- Avatar – Aufbruch nach Pandora (Spielfilm USA 2009): http://www.rpi-virtuell.net/workspace/24686AD5-936C-476D-9EA0-65E2968590C8/rezensionen/rezensionen_2011/rz-avatar-film.pdf
- Ausführliche Einschätzung zum Film „Matrix“ (1999): http://www.rpi-virtuell.net/workspace/24686AD5-936C-476D-9EA0-65E2968590C8/seminar%20wahrheit+erl%C3%B6sung/hutzel-matrix.pdf
- Michael Schramm: Der unterhaltsame Gott. Theologie populärer Filme (2011, 2. Aufl.): http://buchvorstellungen.blogspot.de/2012/03/v-behaviorurldefaultvmlo.html
Reinhard Kirste
Rz-Bornet-Spiel, 21.02.13
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